Griechenland

Versöhnung zwischen Deutschland und Griechenland

"Es muss um aktive Anerkennung der Schuld gehen"

„Versöhnungsforschung arbeitet global und vergleicht unterschiedliche Erfahrungen. Sie tut dies in dem Bewusstsein, dass jeder Prozess seine Besonderheiten hat und von kulturellen Aspekten tief geprägt ist.“ Prof. Dr. Martin Leiner vom Jenaer Zentrum für Versöhnungsforschung beobachtet die Prozesse in den deutsch-griechischen Beziehungen seit mehreren Jahren. Im Rahmen der bilateralen Konferenz es war einmal. heute. – Jugend im Fokus der deutsch-griechischen Beziehungen sprach er über seine Beobachtungen.

13.08.2018 / Martin Leiner

Martin Leiner studierte evangelische Theologie und Philosophie. 1998-2002 war er Professor in Neuchâtel/Schweiz und seit 2002 ist er Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Friedich-Schiller-Universität Jena. 2013  begründete er das Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS).

Während die Kunst Kriege zu führen und zu gewinnen seit Jahrtausenden beschrieben, gepriesen, erforscht und optimiert wird, ist die Kunst, sich zu versöhnen, noch ein sehr junges Thema der wissenschaftlichen Forschung. Seit den späten 1990er Jahren spricht man von Versöhnungsforschung. Die Versöhnungsforschung erforscht die Herstellung von „normalen“ und wenn möglich guten Beziehungen zwischen Staaten, Gruppen, Institutionen und Individuen nach schweren Vorkommnissen. Als solche Vorkommnisse gelten Krieg, Bürgerkrieg, schwere Menschenrechtsverletzungen, Völkermord, Apartheid, Sklaverei und ähnliche gravierende Beeinträchtigungen des Verhältnisses. Versöhnungsprozesse können erfolgreich sein, sie können aber auch scheitern. In den meisten Fällen ist das Bild komplex. Es stehen neben gelungener Versöhnung auch weite Bereiche fortbestehender Ungerechtigkeiten, Animositäten, unaufgearbeiteter Vergangenheit. Klassische Beispiele für Versöhnung sind der Friedensprozess in Nordirland, die Versöhnung in Südafrika nach der Apartheid, in Rwanda nach dem Völkermord, die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel, Deutschland und Frankreich und anderen Staaten nach dem 2. Weltkrieg. In zahlreichen Regionen rund um die Welt gibt es zumindest Ansätze zu Versöhnung, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und Friedensprozesse, die Versöhnung mit einschließen, wie zuletzt auch in Kolumbien und in Korea.

Versöhnungsforschung arbeitet deshalb global und vergleicht unterschiedliche Erfahrungen. Sie tut dies in dem Bewusstsein, dass jeder Prozess seine Besonderheiten hat und von kulturellen Aspekten tief geprägt ist. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die in vielen Kontexten zu beobachten sind. Neben der genauen Beschreibung von Versöhnungsprozessen, ist es ein Ziel der Forschung, Faktoren des Gelingens und Scheiterns von Versöhnungsbemühungen namhaft zu machen und zu prüfen, inwiefern ihnen Übertragbarkeit auf andere Konflikte zukommen.

Versöhnung als Prozess

Ein erstes Ergebnis der Forschung ist: Versöhnung ist ein Prozess, der zahlreiche Aspekte hat von der Reform von Schulbüchern bis hin zu Strafprozessen, von Wirtschaftskooperation bis hin zu Begegnungen von kirchlichen und religiösen Würdenträgern, von öffentlichen Entschuldigungen von Politiker(inne)n bis hin zur Arbeit von Mediziner(inne)n und Psycholog(inn)en mit traumatisierten Opfern. Versöhnungsforschung kann deshalb nur in der Zusammenarbeit vieler Wissenschaften funktionieren. Es geht in der Versöhnungsforschung darum, wie man Schuld, Angst, Trauma, Misstrauen, Ressentiment, Hass und Verachtung überwindet. Über weite Strecken sind die Themen Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparationen, Trauer über das, was Menschen nicht wiedergutmachen können. Aber es gibt auch die erfreuliche Seite, wenn es dazu kommt, dass trotz allem Heilung und neues Leben, gegenseitige Achtung, Zusammenleben, Vertrauen und Freude möglich sind.

Seit 2013 besteht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena das Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS). Mitglieder sind 13 Professor(inn)en aus fünf Fakultäten. Hauptaktivitäten sind die Doktorandenschule „Religion-Conflict-Reconciliation“ und Forschungsprojekte zur Versöhnung in Ländern wie in Israel und Palästina, Ruanda oder Südafrika.

Mit diesem Hintergrund konnte ich einzelne Momente der griechisch-deutschen Versöhnung wissenschaftlich begleiten. Die Brücke dazu ist Charalampos – Babis Karpouchtsis, neben anderen Aufgaben auch Doktorand am JCRS. Einen wichtigen Einblick gewährte mir die Teilnahme am  Forum Erinnerung & Bildung, das vom 19. zum 23 Mai 2016 im Märtyrerdorf Lechovo in Nordgriechenland stattfand.

Deutsch-Griechische Versöhnung

Als Versöhnungsforscher möchte ich zunächst betonen, dass ich – trotz aller Schwierigkeiten – optimistisch bin für die Versöhnung zwischen Griech(inn)en und Deutschen. Der Hauptgrund besteht darin, dass ein Vergleich vieler Versöhnungsprozesse gezeigt hat, dass diese Prozesse immer dann besonders gut gelingen, wenn sie sowohl von der Zivilgesellschaft als auch von Politiker(inne)n getragen werden.

Wenn nur einige Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft sich für Versöhnung einsetzen, die Politik aber keinen Willen zur Versöhnung hat, dann kommt es selten zu einer Versöhnungsdynamik. Zwischen Polen und Russland gibt es nach wie vor zivilgesellschaftliche Versöhnungsinitiativen, wie die von Polen ausgehende Versöhnungswallfahrt im Herbst 2017. Nach dem auf Versöhnung ausgerichteten Treffen in Katyn 2010 mit dem tragischen Flugzeugunglück und der in der gemeinsamen Trauer zunächst entstandenen Nähe, haben die politischen Verantwortlichen in beiden Ländern freilich nicht mehr viel für Versöhnung unternommen. In anderen Konflikten fehlt die zivilgesellschaftliche Aktivität. Versöhnung erscheint dann als ein Top-down-Prozess, dem aber die Haltung der Bevölkerung nicht entspricht. In der deutsch-tschechischen Versöhnung stand Vaclav Havel etwa weitgehend allein mit seinen Aussagen des Bedauerns über die Menschenrechtsverletzungen bei der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Ende des Krieges. Die deutsch-französische Versöhnung funktionierte unter anderem deshalb so gut, weil zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, Städtepartnerschaften, Jugendaustausch, Kooperationen von Handelskammern und Universitäten und vieles mehr sich verbunden hat mit Politiker(inne)n auf beiden Seiten, die stets mit Respekt vom anderen gesprochen haben und die Versöhnung zu einer Konstante ihrer Politik gemacht haben. Die deutsch-französische Versöhnungspolitik ging weiter, gleichgültig ob die CDU oder die SPD in Deutschland regierte und gleichgültig, wer französischer Präsident war. Adenauer und de Gaule, Schmidt und Guiscard d’Estaing wie auch Kohl und Mitterand bildeten unabhängig von ihrer politischen Nähe oder Unterschiedenheit eine Reihe der Kontinuität in der deutsch-französischen Versöhnungspolitik.
Im Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland besteht die erfreuliche Situation, dass es zivilgesellschaftliche Akteure gibt, die Jugendaustausch, den Ausdruck der deutschen Schuld und Scham bis hin zur Errichtung von Gedenktafeln oder soziale und ökologische Aktivitäten für griechische Märtyrerdörfer zum Inhalt haben. Bei der Tagung in Lechovo im Mai 2016 wurden etwa bei einem Panel ‚Best Practices’ deutsch-griechischer Jugendfriedensprojekte der Gemeinden Delmenhorst und Ptolemaida vorgestellt, in denen Kerstin Albes-Bielenberg und Helmut Riewe vom Verein Dialogos e.V. engagiert sind. Die Jugendlichen aus Lechovo konnten zudem selbst an einem Jugendaustausch mit Berlin und Hamburg teilnehmen, wie Niki Stefanidou und Gianna Tsimou berichteten.

Gleichzeitig gibt es Unterstützung der Politik für die Versöhnung, einmal durch den Deutsch-Griechischen Zukunftsfonds und zum anderen durch das Engagement einer Zahl von deutschen Politiker(inne)n für die Versöhnung mit Griechenland. Bundespräsident Johannes Rau sagte etwa in einer Rede am 4.4.2000 im Märtyrerort Kalavrita:

„Ich bin hierher gekommen, um die Erinnerung daran in Deutschland wach zu halten. Ich empfinde hier, an dieser Stätte, tiefe Trauer und Scham. Nur wer seine Vergangenheit kennt und annimmt, kann den Weg in eine gute Zukunft finden. Ich danke Ihnen beiden, Herr Präsident, Herr Bürgermeister, dass Sie mich hierher begleitet haben, an einen Ort, an dem Sie selber Angehörige und Freunde verloren haben. Ein halbes Jahrhundert nach Ende des Krieges gehen Griechen und Deutsche zusammen den Weg in eine gemeinsame europäische Zukunft. Gemeinsam haben wir die Chance, für Europa eine Zukunft des Friedens, der Menschenrechte und der Demokratie zu gestalten. In einem solchen Europa werden Gräuel und Verwüstung nirgendwo mehr einen Platz haben. Die jungen Menschen in unseren Ländern haben ein eigenes Interesse daran, dass sie sich allen Formen des Hasses, der Intoleranz, der Verachtung der Menschenwürde, der Barbarei und des Krieges widersetzen.“

Die Rede Raus endet mit einer Einladung für Jugendliche aus Kalavrita nach Wolfsburg zu kommen und dort einen nicht vom Staat angeordneten, sondern aus der Zivilgesellschaft heraus gewünschten und organisierten Jugendaustausch durchzuführen. Auch 18 Jahre nach der Rede Raus scheint mir das Zusammenwirken von Politik und Zivilgesellschaft zu funktionieren, ja es besteht die Chance, dass mit dem mit dem vom BMFSFJ und den beteiligten Akteuren vorangebrachten Deutsch-Griechischen Jugendwerk, mit dem Zukunftsfonds und mit den zahlreichen, bereits schon älteren Kooperationsstrukturen, ein stärkeres Band zwischen Griech(inn)en und Deutschen entstehen kann, das die schweren Verletzungen der Zeit der Schuldenkrise (ab 2010) mit ihren gegenseitigen Schmähungen in der Presse überwinden kann.

Die Rolle der Jugend im deutsch-griechischen Versöhnungsprozess

Am Ende könnten die Ereignisse um 2010 sogar den positiven Effekt für Versöhnung haben, dass die mangelnde Auseinandersetzung mit den Massakern und den anderen schweren Menschenrechtsverletzungen durch deutsche und österreichische Soldaten durch die Krise im deutsch-griechischen Verhältnis allgemein zum Bewusstsein gekommen ist. Was damals geschehen ist, lässt sich nicht durch das Vergehen von Zeit und die Unterscheidung der jetzigen Deutschen von den Nazis bewältigen. Es muss um aktive Anerkennung der Schuld gehen, um die Bitte um Vergebung und um den ernsthaften Versuch zumindest soweit es geht, etwas wieder gut zu machen. Dabei hilft es auch, wenn jüngere Generationen, die keine Schuld auf sich geladen haben, ihr Bedauern ausdrücken und den Opfern mitteilen, dass dies niemals hätte geschehen dürfen. Gerade die jüngere Generation kann und soll dabei im Fokus stehen. Man ist sich in der Versöhnungsforschung nämlich darüber einig, dass Versöhnungsprozesse über mehrere Generationen dauern. Gerade deshalb sind Jugendaustausch und Begegnungen zwischen den Generationen von sehr großer Bedeutung für das Gelingen von Versöhnung. Das Forum Erinnerung & Bildung formuliert deshalb ganz zu Recht als erste Forderung: „Die Stärkung des Jugendaustausches auf europäischem Niveau, mit besonderem Einbezug der Orte des Terrors Griechenlands“. Solcher Austausch sollte freilich auch pädagogisch und wissenschaftlich begleitet werden, damit die Tiefe der Auseinandersetzung und die Möglichkeit einer nachhaltigen Versöhnung erreicht werden.

Griechenland-Special 2018

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