Griechenland

Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland

Das digitale Zeitzeugenarchiv

Seit April 2018 ist das neue digitale Interviewarchiv „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ online zugänglich. Ziel des Projekts ist es, die Zeitzeugeninterviews nachhaltig der Forschung, Bildung und breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

13.08.2018 / Ozeni Athanasiadou

Das neue digitale Zeitzeugenarchiv „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ enthält 91 Interviews von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der deutschen Besatzung Griechenlands während des Nationalsozialismus. Ihre Erinnerungsberichte wurden aufgenommen, transkribiert und ins Deutsche übersetzt. Das Interviewmaterial wurde wissenschaftlich erschlossen, dabei mit Schlagworten, Inhaltsverzeichnissen und Registern versehen und mit Kurzbiographien, Interviewprotokollen sowie erläuternden Texten ergänzt. Ein wichtiger Bestandteil des Archivs ist ebenso der mehr als 3.000 Einträge umfassende Thesaurus.

Das Archiv ist Ergebnis des gleichnamigen, binationalen Projekts „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“. Hierfür wurden lebensgeschichtliche Interviews geführt, in denen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von ihrem Leben vor, während, als auch nach der deutschen Okkupation berichten. Hierbei war nicht nur der Gewinn an historischen Erkenntnissen von großem Interesse, sondern auch die Art und Weise, in der die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen das Erlebte reflektierten. Befragt wurden unter anderem Shoah-Überlebende, Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, Überlebende der Massaker sowie zur Zwangsarbeit nach Deutschland Deportierte. Somit erfassen die Berichte Erfahrungen über den Besatzungsalltag, die Flucht, Judenverfolgung, Kollaboration, Konzentrationslager, Vergeltungsaktionen, Massenhinrichtungen und den Widerstand. Die Berichte stammen aus unterschiedlichen Regionen Griechenlands. Einige Interviews wurden aber auch in Israel bzw. in Berlin geführt.

Das Gesamtprojekt „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ ist am Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin (FU) angesiedelt. CeDiS ist seit Januar 2018 Teil der Universitätsbibliothek der FU und fungiert als das zentrale Kompetenzzentrum für E-Learning, E-Research und Multimedia der Universität. Leiter des Projekts „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ ist Prof. Dr. Nicolas Apostolopoulos.

Bereits seit 2006 gehört die intensive Auseinandersetzung mit digitalen Zeitzeugenarchiven und Interviewsammlungen für verschiedenste Nutzungsszenarien, z.B. in Schulen sowie zur wissenschaftlichen Auswertung in der Universitätslehre, zu den Schwerpunkten von CeDiS. Aktuell werden vom CeDiS das Visual History Archive des USC Shoah Foundation Institute for Visual History and Education, das Archiv „Refugee Voices” der Association of Jewish Refugees und das Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte“ bereitgestellt. Für das letztere wurde bereits eine Online-Lernumgebung geschaffen, die Schüler/-innen ab 14 Jahren die Möglichkeit bietet, sich anhand von sieben Zeitzeugenberichten mit der Zwangsarbeit während der NS-Zeit auseinanderzusetzen.

Entscheidend für die Geburt der Idee, ein neues Zeitzeugenarchiv über die Zeit des nationalsozialistischen Schreckens in Griechenland aufzubauen, war die Begegnung von Herrn Nicolas Apostolopoulos, einem griechischen Professor in Deutschland, mit Herrn Hagen Fleischer, einem deutschen Professor an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen, der als einer der wichtigsten Experten der Erforschung der deutschen Okkupation in Griechenland gilt. Hagen Fleischer besuchte mit seinem Studierendenteam im Jahr 2010 das Center für Digitale Systeme, um das Shoah-Archiv kennenzulernen und zu studieren. Dabei wuchs die Erkenntnis, dass eine ähnliche Initiative mit griechischen Zeitzeugeninterviews in Griechenland auf fruchtbaren wissenschaftlichen Boden stoßen könnte. In der Erinnerungskultur Griechenlands ist die deutsche Okkupation überaus präsent, im Detail jedoch wenig bekannt. Das Forschungsinteresse für diese Geschichtsperiode war und ist groß. Die Möglichkeiten einer mündlichen Überlieferung von lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs schwinden jedoch von Tag zu Tag. Diese Tatsache erhöhte die Dringlichkeit und die Bedeutung für das Zustandekommen des Projekts.

Ausschlaggebend für die Initiierung war jedoch eine entsprechende Finanzierung. Der Ausbruch der griechischen Wirtschaftskrise und der schärfer werdende Ton in den deutsch-griechischen Beziehungen in den ersten Jahren danach überschatteten die Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten. Durch den Einsatz wichtiger politischer Akteure, darunter der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sowie  Ex-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, wurde die Finanzierung des Projekts durch den deutsch-griechischen Zukunftsfonds anteilsmäßig gesichert. Das Vorhaben wurde ferner mitfinanziert von der griechischen Stavros Niarchos Foundation, der deutschen Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft sowie der Freien Universität Berlin. Kooperationspartner ist die Nationale und Kapodistrias-Universität Athen.

Sowohl administrative als auch gesamtfinanzielle Regelungen während der gesamten Projektlaufzeit sollten den verschiedenen Anforderungen aller vier Förderer entsprechen. Die Förderer stellten keine inhaltlichen Forderungen an die Projektinhalte. Die alleinige wissenschaftliche und inhaltliche Verantwortung wurde der Projektleitung übertragen. Das Material stellt ein Ergebnis wissenschaftlicher Forschung und Produktion sowie technischer Begleitung und Unterstützung in beiden Länderteams dar.

Das binationale, interdisziplinäre Projektteam setzte sich aus ausgebildeten Oral-Historians zusammen, die die Zusammenstellung der Zeitzeugenliste, die Aufnahme der Interviews und die wissenschaftliche Erschließung derselben durchführten, Sprachwissenschaftler/-innen, die die Interviews transkribierten und inhaltlich in zusammenhängende Abschnitte segmentierten, sowie Übersetzer/-innen, die die griechischen Transkripte sowie alle Metadaten ins Deutsche übertrugen. Aufgrund vielfältiger Besonderheiten, die mit dem Alter, dem Dialekt, der emotionalen Aufladung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und den Herausforderungen der gesprochenen Sprache zusammenhingen, mussten all diese Arbeiten durch Experten durchgeführt werden. Eine maschinelle Bearbeitung wäre viel zu fehleranfällig gewesen. Wissenschaftliche Workshops in beiden Ländern, aus denen u.a. die wissenschaftlichen Richtlinien für jeden Schritt des Projekts (Interviewführung, Transkription, Übersetzung, Erschließung) hervorgingen, ermöglichten die Einheitlichkeit und die Erreichung der gewünschten Standards sowie der fachlichen Qualität des Archivs.

Das digitale Archiv verfügt über eine moderne und modulare Softwarearchitektur, die durch mehrjährige Entwicklung im Rahmen der Forschungsarbeiten am Center für Digitale Systeme der FU entwickelt und nun für das neue Vorhaben überarbeitet wurde.

Das Gesamtergebnis wurde in einer öffentlichen Veranstaltung am 23. April 2018 in der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin präsentiert. Anwesend waren Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft sowie Förderer des Projekts, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aktiv Mitwirkende im Bereich der deutsch-griechischen Beziehungen sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger. Die Presseresonanz sowie das allgemeine Interesse an der Ergebniszusammenführung waren groß. Aktuell sind im Archiv über 140 Nutzer/-innen registriert, darunter Historiker/-innen, Journalist(inn)en, Studierende, Schüler/-innen, Lehrende, Künstler/-innen, aber auch an der Geschichte der deutschen Okkupation in Griechenland oder der eigenen Familiengeschichte Interessierte. Parallel dazu findet das Archiv Aufmerksamkeit bei Institutionen aus dem Bereich Erinnerungskulturen, Oral-History, Gedenkstätten, Jugendaustausch, Bildungsarbeit etc. Zahlreich sind auch die Anfragen für mögliche Kooperationen sowohl in Deutschland als auch in Griechenland.

Die Erzeugung nachhaltiger Wirkungen des Archivs, die Perspektiven und seine Nutzbarmachung gehören zu den nächsten Herausforderungen des Projekts. Beabsichtigt ist die Verankerung des Archivs in die gemeinsame deutsch-griechische Erinnerungskultur. Dies soll zum einen durch die Bekanntmachung und Zurverfügungstellung des Materials in beiden Ländern und zum anderen durch die Schaffung von Kooperationen und Synergien erreicht werden, mit deren Hilfe das Material angereichert und sein Wirkungskreis erweitert werden kann. Ferner sind auch Initiativen zur nachhaltigen Verbreitung des Archivmaterials in Museen und Gedenkstätten geplant. Schließlich wird die Nutzung des Materials in universitärer Lehre und Forschung sowohl in Deutschland als auch in Griechenland vorbereitet.

Darüber hinaus wurde ein neues Projekt mit dem Titel „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland – Bildungsportal“ beantragt. Im Rahmen des neuen Projekts wird eine Lernumgebung geschaffen, in der die Jugendlichen unter Nutzung des Archivmaterials und insbesondere der lebensgeschichtlichen Interviews die neuere Geschichte studieren können. Die Interviews werden mit kontextualisierenden Materialien und Aufgabenstellungen versehen. Durch die Art der Aufbereitung  – Erinnerungsberichte als videografierte Interviews – wird nicht nur historisches Wissen vermittelt, sondern auch ein quellenkritischer Umgang mit dem Format an sich und zugleich die Medienkompetenz der Nutzer/-innen gefördert. Die Lernumgebung wird parallel in beiden Ländern und in zwei Sprachen erstellt und an die Besonderheiten des jeweiligen Bildungssystems angepasst. Ziel des Projekts ist es, u. a. durch Veranstaltungen, Durchführungen von Fortbildungen sowie begleitenden Schüler/-innen-Workshops, die Lernumgebung zu verbreitern und in das jeweilige Länderbildungssystem einzubinden. Die Projektlaufzeit erstreckt sich voraussichtlich bis Februar 2020.

Die Projektverantwortlichen haben sich vorgenommen, einen nachhaltigen und wirksamen Beitrag zur geschichtlichen Aufarbeitung in beiden Ländern zu leisten. Hierbei könnte das Archiv im Rahmen des deutsch-griechischen Jugendaustausches methodisch Verwendung finden. Es ist davon auszugehen, dass eine Beschäftigung mit den Zeitzeugenberichten bei Jugendbegegnungen in beiden Ländern dazu beitragen kann, ein gemeinsames Geschichtsverständnis zu entwickeln. Durch die Einbindung des Materials in gemeinsamen Veranstaltungen, Gedenkstättenbesuchen und kulturellen Aktivitäten sollen Vorurteile und Missverständnisse für die zukünftigen Generationen abgebaut werden.

Griechenland-Special 2018

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