China

„Wir lernen über die Geschichte des anderen ohne erhobenen Zeigefinger“

Jugendbegegnungsstätte Weimar führt seit Jahren Austausche durch

Eric Wrasse ist pädagogischer Leiter der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar (EJBW), die seit 2011 Jugend- und Fachkräftebegegnungen mit Partnern aus unterschiedlichen Regionen Chinas durchführt. Im Interview berichtet uns Eric Wrasse über intensive und fruchtbare Auseinandersetzungen zu Themen wie Tradition und Moderne, Familie und Erinnerungskultur. Diese seien auf beiden Seiten von großer Offenheit und Respekt geprägt, sagt Wrasse.

15.04.2016 / Kerstin Wondratschek

Die Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar ist das Zentrum des Landes Thüringen für Jugendbildung und für internationale Jugendbegegnungen. Jugendgruppen und Schulklassen im Alter von 14 - 27 Jahren aus ganz Deutschland und der Welt sind Gäste, um an sieben- bis zehntägigen Bildungsseminaren teilzunehmen. Dabei wohnen und essen die Jugendlichen in der Jugendbildungsstätte und werden von Pädagog(inn)en betreut. Deutsche und ausländische Jugendliche lernen einander kennen und entdecken deutsche Geschichte und Kultur am Beispiel der Europäischen Kulturhauptstadt Weimar. Außerdem werden Fortbildungen für deutsche und ausländische Pädagog(inn)en der Jugendbildungsarbeit angeboten. Die Kooperation mit China besteht seit 2011.
Projektart:

Partnerorganisation: China Youth Center for International Exchange (CYCIE)

Was hat Sie bewogen, sich für den Austausch mit China zu entscheiden?

Eric Wrasse: Vor allem zwei Dinge: Zum einen habe ich selbst Chinesisch gelernt und war im Rahmen der von IJAB mitorganisierten Partnerbörse im März 2010 in Shenzhen zum ersten Mal in China. Erst hier wurde mir bewusst, dass das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Jugendaustausch mit China unterstützt, und ich bekam ein Gefühl dafür, wie eine Zusammenarbeit aussehen könnte. Auf der Partnerbörse entstand der Kontakt mit dem China Youth Center for International Exchange. Zum anderen hat eine Chinesin beim EJBW im Jahr 2011/2012 einen Freiwilligendienst gemacht. Durch ihre Zweisprachigkeit wurde der Kontakt nach China einfacher. Dies hat uns motiviert, den Austausch zu beginnen.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem China Youth Center for International Exchange?

Eric Wrasse: Der Austausch findet jeweils mit einem anderen Partner aus einer anderen chinesischen Region statt, d. h. das CYCIE stellt für uns den Kontakt in die Regionen her. Das Center berät die Beauftragten für internationalen Austausch in den Regionen bei der Umsetzung und Gestaltung des Austausches in China, denn die Verantwortlichen wechseln häufig und können daher nicht so viele Erfahrungen sammeln. Deshalb greifen sie gerne auf das CYCIE als zentrales Austauschbüro zurück. Es ist nicht so einfach, einen regelmäßigen Austausch mit einer bestimmten Region zu etablieren, und wir sind deshalb froh, im Center immer die gleichen Ansprechpartner zu haben.

Welche Inhalte und Themen sind Ihnen im Austausch mit China wichtig?

Eric Wrasse: Wir haben Themen gewählt, die für beide Seiten Anknüpfungspunkte bieten: Tradition und Moderne, Erinnerung und Familie. Das sind Themen, zu denen man aus beiden Ländern etwas sagen kann, die aber gleichzeitig auch politisch sind. So unscheinbar "Tradition und Moderne" klingen mag, so enthält es doch sehr viel Sprengstoff, weil Werte mitspielen: Was soll man bewahren? Was muss erneuert oder reformiert werden? Welche Entwicklungen der Moderne sind vielleicht gar nicht so gut, wie man denkt? Was verliert man durch eine radikale Modernisierung? Das sind Fragen, denen die Jugendlichen nachgegangen sind.

Genauso akut ist in beiden Ländern das Thema Familie, das auf der einen Seite privat und auf der anderen Seite auch ein politisches Thema ist. Zum Beispiel haben wir im Fachkräfteaustausch über Familiengröße, Familienbezüge, Familie und Mobilität, Großfamilie, Kleinfamilie, Heterofamilie und andere Familienformen gesprochen. Das war spannend.

Das sehr politische Thema Erinnerungskultur konnte im Fachkräfteaustausch ebenfalls von beiden Seiten gut bearbeitet werden. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die japanische Besatzung, die wir im Fachkräfteaustausch in China thematisiert haben, spielen auch für China eine große Rolle. Für die deutschen Fachkräfte war es sehr interessant zu erfahren, wie Erinnerung in China betrieben wird. Beim Gegenbesuch in Deutschland haben wir unseren Gästen gezeigt, wie wir uns mit der Vergangenheit in Weimar und Umgebung auseinandersetzen, denn für Weimar spielt Buchenwald und die NS-Zeit eine große Rolle.

Die Fachkräfte waren erstaunlich offen. Neben der Gedenkstätte Buchenwald besuchten wir auch die Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt, die sich mit der kommunistischen Diktatur beschäftigt. Beide Besuche sind auf großes Interesse bei den chinesischen Kollegen gestoßen. Bei diesen Themen haben wir keinen Vergleich angestellt oder etwas bewertet, sondern einfach unsere Geschichte erzählt.

Diese Haltung prägt im Übrigen unseren Austausch mit China: Wir gehen mit Respekt und Interesse an die Themen heran und lernen über die Geschichte des anderen ohne den erhobenen Zeigefinger oder eine bestimmte Botschaft. Wir wollen niemanden in eine Ecke treiben oder an den Pranger stellen. Deshalb stellen wir auch keine Forderungen an das Programm in China, wie zum Beispiel das Kennenlernen einer Menschenrechts-NGO. Wir haben uns angeschaut, was der chinesische Partner uns vorstellen wollte. Das war sehr interessant und hat viel Diskussionsstoff geboten.

Welche Bedeutung hat der Austausch mit China für Ihren Träger?

Eric Wrasse: Die Internationale Jugendarbeit macht etwa 50 % unserer Arbeit aus. Insgesamt ist uns das Thema sehr wichtig. Der internationale Austausch mit China ist mit ca. zwei Maßnahmen pro Jahr ähnlich wichtig für unsere Einrichtung wie der Austausch mit Russland oder der Türkei.
 
Warum hat in diesem Jahr kein Jugendaustausch mit China stattgefunden? Welches sind die konkreten Gründe?

Eric Wrasse: Wir hatten ein Projekt mit einer Mittelschule geplant, ein Träger, der unabhängig von staatlichen Strukturen ist. Letztendlich ist die Begegnung daran gescheitert, dass die chinesischen Teilnehmer/-innen aus einer kleinen Stadt an der Grenze zu Nordkorea keine staatliche Unterstützung für den Austausch bekommen haben und ihn selbst nicht finanzieren konnten. In diesem Jahr ist der Austausch an den Antragsfristen für den Kinder- und Jugendplan des Bundes gescheitert. Wir hätten bis November einreichen müssen, für die chinesische Seite beginnen die Planungen für das darauffolgende Jahr aber noch nicht im Oktober, sondern erst im Januar oder Februar.

Planen Sie, im nächsten Jahr wieder einen Anlauf zu starten?

Eric Wrasse: Wir haben bei der Deutsch-Chinesischen Partnerkonferenz 2014 in Qingdao einen Vertrag abgeschlossen, dass wir in den nächsten fünf Jahren jedes Jahr zwei Maßnahmen durchführen wollen. Das möchten wir von unserer Seite auch einhalten und eine Hin- und Rückbegegnung stattfinden lassen. Wir haben mit den chinesischen Kolleg(inn)en auch noch einmal über die Antragsfristen gesprochen und hoffen, dass im Jahr 2016 wieder ein Austausch zustande kommt. Es war sehr hilfreich, den Vertrag abzuschließen und alles rund um die Begegnung so ausführlich besprechen zu können.

Können Sie uns ein konkretes Austauschprojekt vorstellen?

Eric Wrasse: Besonders spannend war der bereits genannte Fachkräfteaustausch zum Thema Erinnerung und der Besuch der Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt. Da kamen sehr, sehr viele Fragen, die sich mit 1989, der deutschen Geschichte und den Ereignissen in der DDR beschäftigt haben. Bei den Jugendaustauschprojekten haben wir immer versucht, Kunst, Theater und Videoworkshops anzubieten, bei denen die Jugendlichen auch non-verbal in Kontakt treten können. Hier sind natürlich immer viele beeindruckende Theaterszenen und Bilder entstanden.

Welche Rückmeldung bekommen Sie von den Teilnehmenden? Welche nachhaltigen Veränderungen haben Sie wahrgenommen?

Eric Wrasse: Die Jugendlichen stellen immer wieder fest, wie erstaunlich ähnlich sich die deutschen und chinesischen Jugendlichen doch sind. Sie erwarten, dass der kulturelle Unterschied viel größer ist und sind umso verblüffter, Gemeinsamkeiten in Freizeitgestaltung und Auftreten festzustellen. Bei den deutschen Jugendlichen herrschte Erstaunen darüber, wie westlich und offen, emotional, neugierig, witzig und aktiv chinesische Jugendliche sind. Sie hatten klischeehaft eine asiatische Gruppe erwartet, die weitaus zurückhaltender ist. Oft waren die chinesischen Jugendlichen in Seminaren aktiver oder haben die Sachen mehr in die Hand genommen als die deutschen Teilnehmenden. Zwei deutsche Jugendliche sind nach der Jugendbegegnung privat nach China gefahren und haben begonnen, Chinesisch zu lernen. Es entstand bei einzelnen Jugendlichen eine Begeisterung für China, und einer der Jugendlichen möchte in China studieren.

Wie sehen die Perspektiven aus und wie schätzen Sie das zukünftige Potenzial des Austauschs ein?

Eric Wrasse: Ich habe den Eindruck, dass auch auf chinesischer Seite das Interesse sehr groß ist, die Maßnahmen weiterhin durchzuführen. Es gibt eine staatliche ideelle Unterstützung dafür, was für Austauschmaßnahmen eine sehr gute Voraussetzung, aber nicht immer selbstverständlich ist. In vielen Ländern haben wir das nicht.

China-Special

Good Practice

Fakten, Förderung, Kontakte

Menschen sitzen an einem Tisch und essen.
Über die Zusammenarbeit mit China

In Zusammenarbeit mit dem All-Chinesischen Jugendverband, dem zentralen jugendpolitischen Akteur Chinas, setzt IJAB Fachkräfteprogramme im Auftrag des Bundesjugendministeriums um. Erfahren Sie mehr über diese Kooperation und wie Sie daran teilhaben können.