China

„Man muss sehr behutsam sein, mutig und neugierig“

Wiesbaden pflegt Partnerschaften mit China seit 2012

Tanzen, malen, singen – der Hip-Hop schafft schnell Vertrauen zwischen Jugendlichen aus Deutschland und China. Die grenzüberschreitenden Erfahrungen beeinflussen den Lebensweg vieler Teilnehmender positiv, berichtet uns Stefan Ölke, Sozialarbeiter im Kinder- und Jugendzentrum AKK in der Reduit. Und Hildegunde Rech, Leiterin der Abteilung Jugendarbeit im Amt für Soziale Arbeit Wiesbaden, erklärt, warum die Stadt Austauschangebote für alle Jugendlichen finanziert und wie bei den Jugendbegegnungen künftig auch sensible Themen in den Fokus rücken können.

15.04.2016 / Kerstin Wondratschek

Das Amt für Soziale Arbeit, Abteilung Wi & You bietet in Kooperation mit Trägern der Kinder- und Jugendhilfe regelmäßig Jugendbegegnungen mit europäischen Ländern und darüber hinaus an. Der Austausch mit China, der in Kooperation mit dem kommunalen Kinder- und Jugendzentrum AKK in der Reduit sowie dem Stadtteilzentrum Wiesbaden-Klarenthal umgesetzt wird, besteht seit 2012.
Projektart: Jugendbegegnung
Partnerorganisationen:

Was hat Sie bewogen, sich 2012 für den Austausch mit China zu entscheiden?

Hildegunde Rech: 2006 hat die chinesische Regierung eine Einladung zu einem Jugendaustausch ausgesprochen, bei dem 400 Deutsche nach China gereist sind. Im Jahr 2008 kamen im Gegenzug 400 Chines(inn)en zu Besuch nach Deutschland. Im Rahmen dieser Begegnungen bekamen wir vom hessischen Sozialministerium die Aufgabe übertragen, einer hochrangigen Delegation, an deren Spitze der Vorsitzende des Allchinesischen Jugendverbands stand, die offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Deutschland am Beispiel eines Jugendzentrums vorzustellen. Es hat sich eine interessante Diskussion darüber ergeben, welche Rolle staatliche Einrichtungen bei der Erziehung von Jugendlichen in beiden Ländern spielen und welche Bedeutung die Bildung durch außerschulische Einrichtungen in Deutschland hat. Die Jugendlichen, die diesen Besuch aus China begleitet haben, haben anschließend gefragt, ob sie nicht auch einmal nach China reisen könnten. Ich habe versucht, ihnen diese Chance zu eröffnen, und habe daran weiter gearbeitet, bis wir einen Partner gefunden hatten. Hier im Hause war von Anfang an Unterstützung gegeben. Wenn die Kooperation aus der Hierarchie nicht so positiv begleitet worden wäre, hätte sich der Austausch nicht so gut entwickeln können.
 
Wie ist es schließlich zum ersten Jugendaustausch gekommen?

Hildegunde Rech: In Wiesbaden gibt es eine gut organisierte, weltweit vernetzte Hip-Hop Szene. Über diese Hip-Hopper und das Hip-Hop Zentrum Berlin ist der Kontakt schließlich zustande gekommen. Dem Hip-Hop Zentrum Berlin gehört Akim Walta an, der im Auftrag des Auswärtigen Amtes den Jugendpavillon bei der Weltausstellung in Shanghai gestaltet und betrieben hat. Akim Walta hat exzellente Kontakte zu der gut organisierten und sehr lebendigen Hip-Hop Szene in China. Sie waren interessiert daran, dass es Kontakte nach Deutschland gibt. Der Hip-Hop passte als gemeinsames Thema sehr gut, weil der Hip-Hop international ist und für jeden etwas dabei ist: malen, tanzen, singen. Das hat sich im Austausch sehr bewährt. Die ersten Begegnungen haben mit nicht-staatlichen Organisationen in China stattgefunden. Wir haben uns bei der Suche nach einer chinesischen Partnerorganisation nicht an den Allchinesischen Jugendverband gewandt, sondern den Kontakt zu zivilgesellschaftlichen Initiativen gewählt. Zwar waren deshalb bei unserem ersten Austausch mit Guangzhou bei unseren Partnern nicht so hohe finanzielle Möglichkeiten gegeben, so dass wir beim ersten Besuch relativ viel Geld mitbringen mussten. Mit der Hongkong School of Hip Hop haben wir jedoch einen Partner, der den Austausch in klassischer Manier finanziert. Nach der offiziellen Vertragsunterzeichnung im Oktober 2015 über vier Jahre Jugendbegegnungen mit dem “Youth Palace“ in Guangzhou wird die Finanzierung hier ab 2016 vergleichbar laufen. Das bedeutet, dass wir dann zwei Partner gefunden haben, mit denen wir einen Austausch nach den Regeln des Gastgeberprinzips machen, wie er auch mit jedem anderen europäischen Land denkbar ist.

Wie gestalten Sie die Jugendbegegnungen?

Stefan Ölke: Wir haben Jugendliche aus der Hip-Hop Szene mitgenommen, das heißt Graffiti-Maler, Breakdancer und Rapper. Über das gemeinsame Thema sind sie mit den chinesischen Graffiti-Malern, Breakdancern und Hip-Hoppern sehr schnell zusammengekommen. Der Ablauf setzt sich aus drei wichtigen Bausteinen zusammen. Der erste Teil ist kreativ ausgerichtet und besteht aus echten Graffiti-Aktivitäten, d. h. aus gemeinsamen Workshops, wie Bilder malen und Tanzen mit gemeinsamen Auftritten. Der zweite Teil ist touristisch geprägt und der dritte Teil beinhaltet klassische sozialpädagogische Elemente, wie gemeinsame Teambuilding-Maßnahmen, Spiele spielen, die die Gruppe zusammenbringen, Klettern und regelmäßige gemeinsame Evaluationen und Gesprächskreise mit den Jugendlichen.
 
Wie sehen die Rahmenbedingungen aus?

Stefan Ölke: Eine Begegnung dauert zwei Wochen. Da wir hier in Wiesbaden teilweise mit Jugendlichen zusammenarbeiten, die von ihren finanziellen und räumlichen Möglichkeiten her nicht in der Lage sind, Gäste unterzubringen, ist diese Jugendbegegnung von Anfang an auf Unterbringung in Jugendherbergen, Pensionen und Hotels ausgelegt. Bei der letzten Jugendbegegnung haben wir in Hongkong im Jugendzentrum übernachtet. In Guangzhou waren wir hingegen im Hotel untergebracht. Bei der Jugendbegegnung in Deutschland schlafen die deutschen Jugendlichen zu Hause und die Chinesen im Jugendzentrum. Für die gemeinsamen Aktionen treffen wir uns im Jugendzentrum. Alle Maßnahmen laufen auf Englisch. Die Jugendlichen haben sehr gut Englisch gelernt, Deutsche und Chinesen gleichwohl. Selbst die, die in Englisch in der Schule nicht gut waren, trauen sich bereits am ersten Abend, Englisch zu sprechen.

Wie ist die Jugendbegegnung finanziell aufgestellt?
 
Hildegunde Rech: Wir nehmen am Programm „Kommune goes International“ (KGI) teil und in diesem Prozess, der darauf abzielt, bildungsferne Jugendliche in die internationale Jugendarbeit einzubeziehen, sind wir sehr gut vorangekommen. Wenn man mit bildungsfernen Jugendlichen arbeitet und sie gezielt ansprechen möchte, ergeben sich finanzielle Herausforderungen, die sich im KGI-Prozess abgezeichnet haben: Die internationale Jugendarbeit finanziert sich zum einen über den Kinder- und Jugendplan des Bundes, zweitens über den Teilnehmerbeitrag und der dritte Teil ist der Beitrag der Gastfamilien. Wenn man mit bildungsfernen Jugendlichen arbeitet, gibt es die Möglichkeit der Unterbringung in einer Gastfamilie nicht und ein Teilnehmerbeitrag über die Eltern ist auch nicht möglich. Das bedeutet, wenn man internationale Jugendarbeit mit bildungsfernen Jugendlichen durchführen möchte, muss der Träger selber in die Tasche greifen. Die Stadt Wiesbaden macht das. Wir haben im Jahr 2014 180.000 Euro von kommunaler Seite dazugegeben. Davon haben im Jahr 2014 ca. 700 Teilnehmer/-innen profitiert, davon ungefähr die Hälfte aus Wiesbaden. Wir diskutieren darüber auch immer kritisch, denn ich möchte keinen „Armentopf“. Ich finde, dass das Geld für alle da ist und für alle zugänglich sein muss. Aber das gilt nicht nur für China, sondern für alles. In der Zusammenarbeit mit China fällt es nur besonders auf, weil die Kosten aufgrund der Entfernung so hoch sind. Wir schätzen natürlich den Zuschuss des Kinder- und Jugendplans des Bundes.

Welche Bedeutung hat der Austausch mit China für das Jugendzentrum und für die Stadt Wiesbaden?

Hildegunde Rech: Bei uns im Hause wird der Austausch positiv wahrgenommen. Und der Austausch mit China weckt mehr Aufmerksamkeit, als wenn wir in ein europäisches Land fahren. Es gibt aber auch kritische Äußerungen bezüglich der eingesetzten finanziellen Mittel, beispielsweise mit Blick auf das politische System in China oder auf die Umweltproblematik. Ich bin da anderer Meinung: Das alte Willy-Brandt-Wort "Wandel durch Annäherung" gilt immer noch. Auf diese kritische Auseinandersetzung muss man sich als Träger einstellen.

Kommt diese kritische Auseinandersetzung mit China in den Begegnungen zum Tragen?

Hildegunde Rech: Von Beginn an habe ich mich gefragt, wie man mit kritischen Themen umgeht. Gleich am Anfang habe ich mich dafür entschieden, dieses ganze Fass überhaupt nicht aufzumachen. Es war sowieso fremd genug und die Herausforderungen waren überbordend. Da muss man sehr behutsam sein, mutig und neugierig. Dass die Jugendlichen überhaupt zusammenkommen, das hat schon einen eigenen Wert an sich. Nach drei oder vier Jahren der Begegnung haben wir uns gefragt, wie wir die Annäherung zwischen den Partnern weiter gestalten können und wie wir auch einmal kritische Themen einbauen oder ansprechen können. Aber wir haben uns gesagt, dass hier Behutsamkeit angesagt ist, da es Vertrauenssache ist und es gilt, die Partner nicht zu gefährden. Wir denken intensiv über die Gelingensbedingungen nach und hoffen diesen Schritt auch mit unseren Partnern in China gehen zu können. Wenn man einen Austausch macht, kann man sich nicht vor Themen drücken. Der Hip-Hop an sich ist mit seinem Motto "Respect your next" sehr politisch. Das sind politisch bewegte Jugendliche, die schon seit 20 Jahren „Respect your next“ predigen.
 
Aus welchem sozialen Umfeld kommen die chinesischen Jugendlichen, die teilnehmen?
 
Stefan Ölke: Die Jugendlichen in Hongkong kommen wie unsere Jugendlichen aus sozial eher schwachstrukturierten Familien. Sie werden von dem freien Träger „Hongkong School of Hip Hop“ im Sinne von "Dance for a healthy life" betreut. Der Breakdance dient in erster Linie dazu, die Jugendlichen aufzubauen. Bei unserem Partner in Guangzhou, dem städtischen Jugendkulturzentrum „Youth Cultural Palace“, steht dieser sozialpädagogische Aspekt noch nicht so im Vordergrund, denn hier werden Kurse angeboten und die Jugendlichen können daran teilnehmen. Das Jugendkulturzentrum ist jedoch auch Bestandteil der Hip-Hop Szene und es bestehen Kontakte zu Tänzern, Malern und Rappern. Jugendkulturell gesehen ist diese Gruppe mit unseren Jugendlichen vergleichbar. Allerdings waren bei der letzten Rückbegegnung in Deutschland aus Guangzhou auch Jugendliche dabei, die aus relativ gut situiertem Hause kamen. Das lag daran, dass die chinesischen Jugendlichen einen relativ hohen Eigenanteil leisten mussten. Die Jugendlichen aus Hongkong hingegen haben letztes Jahr fast ein halbes Jahr lang jedes Wochenende auf der Straße getanzt und Geld verdient, um ihre Fahrt nach Deutschland finanzieren zu können.

Wie motiviert sind die Jugendlichen, an einem Austausch teilzunehmen?

Stefan Ölke: Wir müssen die Jugendlichen aktiv rekrutieren, da wir bisher ausschließlich Jugendliche mitgenommen haben, die aufgrund des Hip-Hop Themas einen stabilen Fuß in der Hip-Hop Szene haben. Dies steht für die nächste Begegnung zur Diskussion. Aus der Erfahrung der Rückbegegnung aus diesem Jahr überlegen wir, das Thema zu öffnen. Denn in diesem Jahr sind erstmals Jugendliche dazugestoßen, die aus dem direkten Umfeld des Jugendzentrums kommen und nicht zur Hip-Hop Szene gehören. Von unserer mittlerweile stabilen Situation im Austausch her betrachtet, brauchen wir jetzt die enge Anbindung an den Hip-Hop nicht mehr ausschließlich, so wie es zu Beginn notwendig war. Somit wird es zukünftig leichter sein, Jugendliche zu finden.

Was geben die Jugendlichen Ihnen für Rückmeldungen? Hat sich für die Jugendlichen durch den Austausch etwas Wesentliches verändert?

Stefan Ölke: Ich möchte vier Beispiele nennen. Unser „Ausreißer“ ist ein 21-jähriger Student, der im Vorfeld der Begegnung schon Chinesisch gelernt und sich beim Besuch in China stetig mehr Sprachkenntnisse angeeignet hat. Aktuell ist er in Hongkong und studiert dort zwei Semester im Rahmen seines Physik-Studiums. Nach unserem Austausch hat er mit Unterstützung unseres Partners in China alles selbständig organisiert. Ich bezeichne ihn als „Ausreißer“, da er sich von seinem Werdegang her von den anderen Jugendlichen unterscheidet.

Ein zweites Beispiel ist ein 16-jähriges Mädchen, eine Gesamtschülerin. Sie kommt aus einer klassisch bildungsfernen Familie. Da sie tanzte, habe ich sie angesprochen, dass sie mit nach China reisen könnte. Auf unserem Vorbereitungswochenende hat sie in der Tagungsstätte bei den Mahlzeiten viel aussortiert mit dem Kommentar, dass sie alles nicht mag und mit Stäbchen erst recht nicht essen würde. Dieses Mädchen hat innerhalb der zweiwöchigen Begegnung ihre Verschlossenheit und ihre Ablehnung gegenüber dem Fremden komplett abgelegt. Auch ihr Sozialverhalten in der Gruppe hat sich vollständig geändert und sie hat sich auf dieser Reise sehr öffnen können.

Das dritte Beispiel ist ein 14-jähriger Junge, ein Breakdancer. Als wir in Guangzhou waren, haben sie eine Begrüßungsparty für uns organisiert, die jeden Rahmen gesprengt hat und auf die wir in der Größe nicht vorbereitet waren. Die Veranstaltung fand auf einer großen Bühne mitten in einer riesigen Einkaufsstraße mit rund 1.000 Zuschauer(inne)n und großer Medienaufmerksamkeit statt. Plötzlich wurde dieser Junge von den Moderatoren interviewt. Er steht schließlich auf der Bühne und sagt: "Hi, hello friends, I‘m XXX, I‘m from Germany!" Das ist ein Moment, den er sein Leben nicht vergessen wird.

Ein weiteres Beispiel ist ein 19-jähriger Jugendlicher, mit Hauptschulabschluss und in Ausbildung im elterlichen Betrieb zum Garten- und Landschaftsbauer. Er ist vom Typ eher jemand, der sich hängen lässt. Ein Jahr nach der Begegnung sagte er mir: „Du glaubst nicht, wie dankbar ich Euch bin. Die Chinabegegnung hat mein Leben total verändert. Ich habe dort für mich gespürt, dass ich nicht irgendjemand bin.“ Er hatte vorher ein geringes Selbstwertgefühl. Durch die Gruppe, durch uns, durch die Chinesen hat er den Blick auf sein eigenes Leben total verändert. Heute geht er gut voran und die Begegnung war der Anstoß. Aus Sentimentalität und alter Verbundenheit wollte er unbedingt bei der letzten Rückbegegnung in Deutschland wieder mit dabei sein.

Wie sehen die Perspektiven für die Jugendbegegnungen aus?

Stefan Ölke: Der Austausch funktioniert sehr gut. Bei der letzten Rückbegegnung ist es besonders deutlich geworden. Als die Chines(inn)en zu Besuch nach Deutschland kamen, war direkt zu spüren, dass die Jugendlichen noch Freunde waren. Wir vermitteln unseren Jugendlichen, dass sie eine große Verantwortung haben, auch die Rückbegegnung zu gestalten. Da wir auch in China eine sehr große Gastfreundschaft gespürt haben, haben fast alle Jugendlichen an der Rückbegegnung teilgenommen. Das ist für uns eine sehr positive Entwicklung und wir hoffen, in diesem Sinne den Austausch weiterführen zu können. Mit der Stadt Guangzhou hat die Stadt Wiesbaden im Oktober 2015 einen Vierjahresvertrag über einen regelmäßigen Austausch unterschrieben. In dem vereinbarten Zeitraum geht der Austausch in jedem Fall weiter; der Austausch ist als regelmäßige Maßnahme geplant.

China-Special

Good Practice

Fakten, Förderung, Kontakte

Menschen sitzen an einem Tisch und essen.
Über die Zusammenarbeit mit China

In Zusammenarbeit mit dem All-Chinesischen Jugendverband, dem zentralen jugendpolitischen Akteur Chinas, setzt IJAB Fachkräfteprogramme im Auftrag des Bundesjugendministeriums um. Erfahren Sie mehr über diese Kooperation und wie Sie daran teilhaben können.