Toolbox Religion

Miteinander in multireligiösen Gruppen – Hinweise für Trainer/-innen und Betreuer/-innen

Das Thema „Religion“ ist ein besonders persönliches, emotionales Feld, das von Trainer(inne)n und Betreuer(inne)n ein spezielles Fingerspitzengefühl erfordert. In interreligiösen Begegnungen sollten Betreuer/-innen im Vorfeld und während der Durchführung besondere Aufmerksamkeit darauf richten, wie den Gefühlen und Bedürfnissen des Einzelnen, der (religiösen) Untergruppen und der Gesamtgruppe angemessen Rechnung getragen werden kann.

Die Besonderheiten von multireligiösen Jugendgruppen

In Gruppen, die nicht nur international, sondern auch multireligiös zusammengesetzt sind, gibt es zusätzliche Besonderheiten. Jugendliche im Entwicklungsalter sind auf der Suche nach Orientierung. Im neuen Lebensabschnitt des Übergangs von Schule zu Beruf / Studium stellen sich zunehmend Fragen wie „Wozu lebe und arbeite ich?“ oder „Woher komme ich und wohin gehe ich?“.

Diese existenziellen Fragen berühren Aspekte der kulturellen und religiösen Identität. Oft ist die Religion ein Identität stiftendes Element, das von den Jugendlichen gar nicht als solches wahrgenommen oder nicht thematisiert wird. Die Shell-Jugendstudie 2000 belegt, dass bei Jugendlichen das Zugehörigkeitsgefühl zu Kirchen und kirchlicher Praxis (zum Beispiel Besuch des Gottesdienstes) weiter abnimmt, das Interesse an religiösen Fragestellungen und an anderen Religionen aber weiter besteht.

Die Bedeutung von Glaube und Religiosität kann für Jugendliche gleichen Alters und gleicher kultureller Herkunft extrem unterschiedlich sei: Religion wird von einigen Teilnehmenden als Frage mit existenzieller Bedeutung angesehen, für andere spielt Religion eher als Einflussfaktor auf kulturell geprägte Normen und Werte eine Rolle. 

Diese Unterscheidung zwischen kulturellen und religiösen Merkmalen einer Kultur ist oft schwierig. Einige Normen und Regeln, zum Beispiel zur Kleidung oder Bedeckung des Kopfes, haben sich eher aus geschichtlichen Traditionen und nicht nur auf Basis religiöser Regeln entwickelt. Im Gegensatz dazu beruhen in christlichen Gesellschaften viele der scheinbar kulturellen Regeln auf ursprünglich religiösen Regeln oder Werten. Die Frage, ob die Schriften und Texte die „Autorität“ bei der Entwicklung von Regeln und Normen haben oder diese eher als gelebte Kultur und Traditionen zu sehen sind, ist im interreligiösen Dialog oft ein strittiges Thema.

Zusätzlich zu einer Identitätsfindung der Jugendlichen als Mann / Frau oder Angehörige/-r von National- / Subkultur(en) ist die religiöse Orientierung oder die Suche danach oft besonders emotional aufgeladen.

Einige Jugendliche identifizieren sich möglicherweise stärker mit einer Religion als mit der eigenen Nationalkultur (zum Beispiel Mitglieder kultureller Minderheiten). 

Bei der Suche nach der eigenen Identität und dem eigenen Weg kommt es oft zu einer vorübergehenden Annahme radikaler Positionen, die über das eigentliche Ziel „hinausschießen“. Dies können auch religiöse Radikalisierungen sein. Radikale Auslegungen einer Religion sind daher nicht immer als eine bewusst orthodoxe Haltung zu sehen, sondern können als Teil der generellen Verhaltensmuster von Jugendlichen gedeutet werden.

Die politische Dimension von Religion

Religion hat gerade im 20./21. Jahrhundert auch eine starke politische Dimension. Viele zeitgenössische politische Konflikte (Irland, Ex-Jugoslawien, Israel/Palästina) stehen im Zusammenhang mit Religion und werden oft sogar in erster Linie als religiöse Konflikte wahrgenommen. Dadurch kann das Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft gerade für Jugendliche eine besondere Bedeutung erhalten.

In einer multireligiösen, multinationalen Gruppenzusammensetzung ist es deshalb sehr wichtig, die politische und die religiöse Dimension möglichst klar auseinander zu halten. Besonders im Konfliktfall ist das Wissen um diese Mehrschichtigkeit und die sorgfältige Trennung für die Gruppenleiter/-innen absolut notwendig.  

Um interkulturell kompetent agieren zu können, müssen Jugendliche sich ihrer eigenen religiösen und kulturellen Wurzeln und deren Einfluss auf ihre Werte, Normen und Verhaltensweisen bewusst sein. Erst dann können sie verstehen, wie diese wiederum ihre Interpretationen und Urteile über die religiöse Verwurzelung der anderen beeinflussen. 

Ansätze zur Zusammenarbeit in interreligiösen Gruppen

Um diesen Besonderheiten angemessen zu begegnen, ist eine gleichberechtigte und offene Atmosphäre in interreligiösen Begegnungen besonders wichtig. Gerade in der Arbeit mit multikulturellen und multireligiösen Gruppen ist es wichtig, ein gutes Gespür dafür zu entwickeln, welche Umgangsweise für diese Menschen und das Thema angemessen sind und allen Beteiligten bestmöglich gerecht werden.

Die Berücksichtigung von Sprachbarrieren ist beim Einsatz von Diskussionsmethoden ein wichtiger Faktor. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch die Berücksichtigung der verschiedenen Konfliktlösungs- und Kommunikationsstile. Diese können sowohl kulturell geprägt als auch individuell unterschiedlich sein. Eine kritische und konfliktfreudige Diskussionskultur steht mitunter einem eher indirekten, Harmonie wahrenden Kommunikationsstil gegenüber. Aufgabe des Betreuers oder der Betreuerin ist es daher,  Methoden auszuwählen, die allen Beteiligten einen angemessenen Raum zur Entfaltung und Teilnahme ermöglichen.

Kommunikation und Konfliktlösung sind geprägt von Erfahrungen und vor allem der eigenen Haltung. 

Es gibt in Theorie und Praxis zahlreiche gute Ansätze. Beispielhaft werden hier zwei Ansätze vorgestellt, welche für die Zusammenarbeit in interreligiösen Gruppen und die Haltung in Kommunikations- und Konfliktsituationen herangezogen werden können: 

  1. Marshall B. Rosenbergs „Gewaltfreie Kommunikation“ und 
  2. der Ansatz von „Betzavta“

Beide können - vor allem bei religiösen Themen, bei denen es kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, sondern ein Abwägen und Verstehen von Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen - hilfreiche gedankliche Anker und Instrumente sein.

Hinweis zum Aufbau und inhaltlichen Ablauf einer multireligiösen Begegnung

Bedeutung der eigenen Identität

Stärker noch als in interkulturellen Gruppen muss in multireligiösen Gruppen der Dialog mit der Vergewisserung der eigenen Identität beginnen. Den Teilnehmenden soll bewusst gemacht werden, wie stark ihre Identität und (religiöse) Wahrnehmung geprägt ist von den kulturellen Bestimmungsfaktoren ihrer Herkunft.

Im Verlauf eines multireligiösen Begegnungsprojektes ist es daher sinnvoll, mit einer Eigensensibilisierung zu beginnen – möglicherweise sogar schon im Heimatland und vor der eigentlichen Begegnung. Ziel dabei ist es, den Teilnehmenden die Möglichkeit zur eigenen Verortung und Reflexion ihrer Religiosität zu geben.

Dies schließt den/die Betreuer/-in einer multireligiösen Gruppe mit ein. Auch für sie/ihn ist es wichtig, sich ihres/seines religiösen Standpunktes bewusst zu sein (gegebenenfalls auch der Standpunkt als Atheist/-in). Darüber hinaus ist es sinnvoll, mit einem Grundwissen über die eigene und die andere Religion in die Begegnung zu gehen, um als Vermittler/-in agieren zu können und akzeptiert zu werden.

Auseinandersetzung mit dem "Fremden"

Erst im zweiten Schritt geht es für die Teilnehmenden um die Auseinandersetzung mit dem „Anderen“, dem „Fremden“. Um hier den Zugang zu erleichtern ist es hilfreich, zunächst an den Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen zu arbeiten, um so eine Basis des „Gemeinsamen“ und „Vertrauten“ zu definieren (zum Beispiel die gemeinsamen christlich-jüdischen Traditionen der Segnung des Brotes / Brotbrechens oder die ähnlichen, auf den Zyklen des Mondes basierenden jüdischen und muslimischen Kalender).

Erst auf dieser Basis entsteht die Offenheit, sich auch mit den Unterschieden auseinander zu setzen und Spaß und Interesse an diesen Unterschieden zu entwickeln, ohne diese als Bedrohung zu empfinden.

Eine multireligiöse Begegnung ist meist ein Zusammentreffen mehrerer religiös definierter Gruppen. Dennoch ist es wichtig, die Teilnehmenden in der Begegnung stets als Individuen zu betrachten, die ihren eigenen, persönlichen Glaubenshintergrund einbringen, ohne „offizielle Vertreterinnen bzw. offizielle Vertreter“ einer Religion zu sein.

Inhalte

Zahnräder greifen ineinander.
Gewaltfreie Kommunikation

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Fünf Hände bilden mit gespreizten Fingern im Kreis einen Stern.
„Betzavta“

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Sonnenstrahl bricht aus dem Himmel hervor
Interreligiöse Kompetenz für Jugendbegegnungen und Jugendreisen
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