„Betzavta“
Betzavta (Fußnote 1) ist ein Konzept des Adam Instituts in Jerusalem, das von der Bertelsmann Stiftung für die Situation in Deutschland adaptiert wurde. (Fußnote 2) Grundlage von Betzavta (hebräisch: miteinander) ist die Anerkennung des prinzipiellen Rechts aller auf freie Entfaltung.
Grundannahmen und Erkenntnisse aus dem Betzavta-Ansatz
Die Anerkennung des gleichen Rechts des anderen auf freie Entfaltung ist eine Haltung, die sowohl dem Weiterkommen des Individuums als auch der Gemeinschaft dient.
Gerade in religiösen Konflikten entsteht oft der Eindruck, dass es eine/-n Gewinner/-in und eine/-n Verlierer/-in geben wird. Dass eine „Entweder-oder-Entscheidung“ getroffen werden muss, bei der die freie Entfaltung des anderen eine Einschränkung der eigenen Freiheit zwangsläufig nach sich zieht. Ziel muss es daher sein, die Anerkennung der Gleichberechtigung als generelles Prinzip zu erarbeiten – unabhängig von der Tatsache, ob es sich dabei um das eigene Recht oder das Recht des anderen handelt.
Entscheidungen werden häufig auf Basis stillschweigender Annahmen getroffen.
Menschen tendieren häufig dazu, ihre eigenen Einstellungen auf andere zu übertragen. Oder ihre Einschätzungen anderer Menschen beruhen auf Stereotypen, Vorannahmen und Vorerfahrungen, die nichts mit dieser Person oder der konkreten Situation zu tun haben. Diese stillschweigenden Annahmen werden häufig nicht hinterfragt bzw. durch eine Rückfrage an die Person bestätigt oder nicht bestätigt.
In der Arbeit mit interreligiösen Gruppen könnte dies zum Beispiel der Fall sein, wenn ein Gruppenmitglied davon ausgeht, dass die christliche Religion eine besondere Rolle für jemanden spielt, wenn er getauft ist. Dass dies gerade für kirchenferne deutsche Christ(inn)en nicht automatisch der Fall ist, wird häufig nicht im Einzelfall hinterfragt.
Für eine demokratische Entscheidung ist nicht nur das Ergebnis, sondern vor allem auch der Prozess der Entscheidungsfindung relevant.
Auch wenn das Ergebnis oder die Lösung eines Konfliktes im Prinzip alle Beteiligten mehr oder weniger zufrieden stellen müsste, gibt es oft Missverständnisse und persönliche Verletzungen auf dem Weg zu dieser Lösung. Ein schaler Nachgeschmack und Unzufriedenheit bleiben.
Trainer/-innen sollten gerade in interreligiösen Gruppen mit Teilnehmenden unterschiedlicher kultureller Herkunft besonders darauf achten, dass die Bedürfnisse aller auf dem Weg zur Problemlösung angemessene Berücksichtigung finden. Das bedeutet, eine Form der Problemdiskussion und -lösung zu finden, die Teilnehmenden mit verschiedenen Konfliktlösungsstrategien (zum Beispiel konfrontativ / vermittelnd) oder Kommunikationsstilen (zum Beispiel direkt / indirekt) gleichermaßen einen Rahmen zur Beteilung bietet.
In einem Gedankenaustausch oder Konflikt in einer interreligiösen Begegnung sollte daher nicht nur auf das gesprochene Wort zurückgegriffen werden. Es können stattdessen auch Methoden wie eine stille Diskussion, Collagen oder die Arbeit mit Bildern als Assoziationshilfe zum Einsatz kommen.
Konsequenz aus den Annahmen und Erkenntnissen des Betzavta-Ansatzes ist daher:
Verantwortliches, demokratisches Handeln heißt nicht, Entscheidungen zu vermeiden, sondern Lösungen zu suchen, die die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen.
Umsetzung des Gedankens der größtmöglichen freien Entfaltung in interreligiösen Gruppen
Dem/der Trainer/-in oder Betreuer/-in kommt in interreligiösen Gruppen eine große Verantwortung zu. Neben der Berücksichtigung des kulturellen Hintergrunds und kulturell geprägter Kommunikations- und Verhaltensweisen müssen die Besonderheiten der religiösen Bedürfnisse angemessen thematisiert und einbezogen werden.
Dabei sind in jeder Gruppe durch die spezifische Zusammensetzung ihrer Teilnehmenden andere Themen relevant. Jede Gruppe benötigt eine andere Behandlung und Ansprache.
Demokratische Entscheidungsfindung und Konfliktlösung
Eine hilfreiche Vorgehensweise bei der Konfliktlösung in Gruppen können die vier Schritte einer demokratischen Entscheidungsfindung aus der Betzavta-Übung „Wege der demokratischen Entscheidungsfindung II oder 'Die Kunst einen Kürbis zu teilen' " (Fußnote 3) sein. Es geht im Kern darum, durch das Herausfinden von tatsächlichen Bedürfnissen, den Blickwinkel auf eine Situation so zu erweitern, dass sich ein Konflikt
- entweder schon sehr früh auflösen lässt oder
- gemeinschaftlich ein Weg gefunden wird, bei dem immer noch möglichst viele Bedürfnisse der Beteiligten erfüllt werden.
1. Klären, ob tatsächlich ein Konflikt vorliegt und Überprüfung der Bedürfnisse
Zunächst sollte überprüft werden, ob die Interessen und Bedürfnisse der Einzelnen wirklich nicht vereinbar sind, oder ob es lediglich stillschweigende Annahmen darüber gibt, dass der/die andere abweichende Bedürfnisse hat oder Bedürfnisse sich gegenseitig ausschließen.
Wichtig: auch Teilnehmenden, die zum Beispiel zurückhaltend sind oder Sprachschwierigkeiten haben Raum einräumen!
»» Wenn sich Bedürfnisse gegenseitig ausschließen, folgt der nächste Schritt.
2. Veränderung der Situation als kreative Lösung des Problems
Als nächstes gilt es zu klären, ob die Rahmenbedingungen, unter denen sich die Bedürfnisse ausschließen, verändert werden können.
Fragen:
- Können Bedürfnisse zeitlich nacheinander befriedigt werden?
- Können Ressourcen ausgeweitet werden (zusätzliche Räume, Geldmittel etc. zur Verfügung stehen), die die Umsetzung aller Wünsche möglich machen?
»» Ist dies auch nicht möglich, kann der nächste Schritt sein:
3. Gleichmäßige Einschränkung aller Beteiligten (Kompromiss)
Sofern nicht alle Bedürfnisse zu 100 % befriedigt werden können ist zu prüfen, inwiefern alle Wünsche zumindest teilweise berücksichtigt werden können.
Fragen:
- Wo können die Beteiligten Abstriche machen, die nicht zu schmerzhaft sind?
- Wie kann ein Kompromiss aussehen, der allen zumindest teilweise gerecht wird?
»» Sollte kein Kompromiss möglich sein, bleibt als letzter Schritt die Möglichkeit einer Abstimmung.
4. Mehrheitsbeschluss
Je nachdem wie groß die Mehrheit ist, die sich für eine Alternative ausspricht, variiert sicher auch die Zufriedenheit in der Gesamtgruppe. Daher sind die drei vormals vorgestellten Schritte oft der bessere Weg, möglichst alle Bedürfnisse in einer Entscheidungsfindung unter einen Hut zu bringen.
In jedem Fall wird die Gesamtakzeptanz eines Mehrheitsbeschlusses größer sein, wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten einer Einigung probiert und diskutiert worden sind und eine Abstimmung nicht der erste und einzige Schritt im Entscheidungsprozess gewesen ist.
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Fußnoten
1 Ulrich, Susanne (1997): Miteinander – Erfahrungen mit Betzavta; ein Praxishandbuch auf der Grundlage des Werks „Miteinander“ von Uki Maroshek-Klarman, Adam Institut, Jerusalem. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung (3. überarbeitete Auflage 2001).
2 Ebenfalls gut geeignet für die Arbeit mit Gruppen sind die Übungen aus dem Konzept „Achtung (+) Toleranz. Wege demokratischer Konfliktregelung“, ebenfalls erschienen im Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2000.
3 Eine genauere Beschreibung der Übung, die anhand des Kürbis-Beispiels das Abwägen von Bedürfnissen aufzeigt, findet sich im bereits genannten Praxishandbuch unter „Empfohlene Zusatzübungen“.