Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen
Für die folgende Betrachtung ist es wichtig zu wissen, mit welchen Altersspannen in Japan Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene definiert werden. Für Kinder gilt die Altersspanne von 6 bis 12 Jahren (d.h. während sie die Grundschule besuchen), worauf folgend sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr als „Heranwachsende“ geführt werden. Von zumeist 18 bis einschließlich 29 Jahren gelten sie als „junge Erwachsene“. Bis hierhin unterscheidet sich die Einteilung kaum vom deutschen Verständnis. In Japan wird in einigen Erhebungen jedoch auch noch die Gruppe der bis 39-Jährigen in die Gruppe der Jugendlichen mit einbezogen. Dieser post-young adulthood genannte Altersabschnitt trifft vor allem auf Menschen zu, die sich noch an der Universität befinden, anderweitig ihre Fähigkeiten ausbauen oder Schwierigkeiten haben, sich in die Gesellschaft zu integrieren (und daher nicht als „arbeitende Erwachsene“ geführt werden können). Zumeist wird jedoch ein Schnitt zwischen 29-Jährigen jungen Erwachsenen (ergo noch Jugendlichen) und 30-Jährigen Erwachsenen gezogen.
Kinder und Jugendliche, die in Japan aufwachsen, teilen sich den Inselstaat mit knapp 126 Millionen Einwohner(inne)n, wobei ein Großteil in den Metropolen Tokyo, Kyoto, Osaka, Yokohama, Hiroshima und Kawasaki und deren angrenzender Umgebung lebt. Auch in Japan herrscht ein Stadt-Land-Gefälle, da viele junge Menschen in Städte mit Universitäten ziehen, um dort bessere Bildungs- und Berufschancen zu haben.
Als Bürger/-innen einer parlamentarischen Demokratie dürfen Jugendliche ab 18 Jahren das japanische Unter- und Oberhaus wählen, wobei seit 1955 die Liberaldemokratische Partei bis auf zwei kurze Unterbrechungen (1993-1994 und 2009-2012) die Regierung stellt. Neben Premierminister Yoshihide Suga (seit September 2020) als politisches Oberhaupt Japans stellt Kaiser Naruhito (seit Oktober 2019) mit einem eher repräsentativen Charakter die zweite Säule als Stellvertreter Japans dar.
Die japanische Sprache, welche die einzige Amtssprache ist, wird aufgrund ihrer drei unterschiedlichen Alphabete und ihres komplexen Schriftsystems bereits in der Vorschule bis in die Oberschule gelehrt. Für den alltäglichen Sprach- und Lesegebrauch müssen Kinder und Jugendliche circa 2.000-3.000 Schriftzeichen lernen. Wer für eine der zahlreichen (Aufnahme-)Prüfungen des japanischen Schulsystems Glück braucht, kann an einem der zehntausenden Schreine der beiden Hauptreligionen, Shintoismus oder Buddhismus, um Beistand bitten.
In Japan bestand lange Zeit die Vorstellung einer Kernfamilie, die sich – zumeist aus den drei Generationen der Großeltern, Eltern und Kindern bestehend – gegenseitig unterstützte. Die Eltern garantierten durch ihr Einkommen die Versorgung und Pflege der Großeltern; die Großeltern unterstützten die arbeitenden Eltern im Gegenzug oft bei der Betreuung und teils auch Erziehung der Kinder.
Das Aufwachsen von japanischen Kindern und Jugendlichen wird inzwischen zunehmend durch den demographischen Wandel beeinflusst. Da die Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken ist und es gleichzeitig aufgrund der steigenden Lebenserwartung zu einem überproportionalen Zuwachs an älteren Menschen kommt, fällt langfristig auf jedes Kind und jede/-n Jugendliche/-n eine immer größere Rolle und Erwartung durch die Familie zurück. Da sich das Konzept der Kernfamilie durch den demographischen Wandel immer mehr verzerrt, wird es für die Absicherung der Eltern im Alter immer wichtiger, dass die nachfolgende Generation durch eine gute Bildung beruflich gesichert ist.
Aufgrund der immer älter werdenden Gesellschaft herrscht auf dem japanischen Arbeitsmarkt inzwischen ein zunehmender Mangel an Fach- und Arbeitskräften. Auch das Bild der Frau, ursprünglich eher Hausfrau und Mutter als arbeitende Kraft, verwandelt sich zunehmend, wodurch sich auch das „alte“ japanische Familienbild verändert: vor allem in (Groß)städten, in denen kleine Wohnungen eine Drei-Generationen-Familie nicht möglich machen, erfolgt die Betreuung von Kleinkindern zunehmend durch öffentliche Kitas, während die Großeltern durch ambulante Pflegeangebote versorgt werden.
Im Vergleich zu Deutschland wachsen japanische Kinder und Jugendliche in einem stärker hybrid geprägten Kulturraum und Umfeld auf. Während viele (gesellschaftliche) Ansichten, Verhaltensregeln und Feste auf alten Traditionen beruhen, ist Japan gleichzeitig eines der Länder, das stark von der Technologisierung durchzogen wird. Situationen, in denen Traditionen und Moderne aufeinander treffen, lassen sich schon im Alltag überall beobachten: im ältesten Viertel Kyotos findet sich hinter unscheinbarer Holzfront der neueste Starbucks, in dem Jugendliche statt traditionellem Tee den neuen Kirschblüten-Kaffee probieren können. Und wer vom alten Kaiserpalast Tokyos zu dem ursprünglichen Fischmarkt laufen will, muss dabei die luxuriösen Einkaufsmeilen Ginzas durchqueren.
Japan und seine Gesellschaft versuchen diese scheinbaren Gegensätze kontinuierlich miteinander zu vereinbaren. Doch für Kinder und Jugendliche birgt das Aufwachsen innere Konflikte: einerseits werden sie verstärkt an ihre Pflichten und die Erhaltung der Traditionen erinnert, die sie als neue Generation weitertragen sollen - andererseits aber nehmen sie über soziale Medien und die Unterhaltungsbranche an modernen Entwicklungen teil. Beide Positionen müssen in einem stetigen Prozess überein gebracht werden.
Das Ressort der Politik für eine Gesellschaft mit Zusammenhalt (policies on cohesive society) veröffentlichte 2018 eine Internationale Vergleichsstudie zu den Grundeinstellungen der japanischen Jugend, die in ihrem Ansatz mit der Sinus Jugendstudie verglichen werden kann. Einige zentrale Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Hauptsorgen der japanischen Jugendlichen betreffen vor allem Geldfragen (79,3%), ihre Zukunft grundsätzlich (78,1%) und ihre Anstellung (70,8%). Mit ihren Sorgen wenden sie sich vor allem an ihre Mutter (46,4%), kaum jedoch an ihren Vater (21,3%). Mit knapp 20% liegt der Anteil an Jugendlichen, die gar keine Bezugspersonen für ihre Befürchtungen haben, im internationalen Vergleich am höchsten.
- Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird von über 60% der befragten japanischen Jugendlichen als schwierig angesehen. Dementsprechend sinkt die Prozentzahl derjenigen, die sich eine Heirat (und somit Familiengründung) vorstellen können.
- Auf die Frage, worauf die Jugendlichen stolz in ihrem Land sind, antworteten viele mit der öffentlichen Sicherheit und dem historischen und kulturellen Erbe (jeweils ca. 46%). Der Stolz auf die eigene Staatsbürgerschaft ist im Vergleich mit 61% jedoch relativ niedrig (Deutschland: 66,5%). Nur knapp 40% der Jugendlichen sind mit ihrer Gesellschaft zufrieden. Probleme sehen sie vor allem in der Schere zwischen Armen und Reichen, in den ungleichen Chancen aufgrund des Bildungshintergrundes und der unzufrieden stellenden japanischen Politikgestaltung.
- Auch für Jugendliche liegt während der Schulzeit die Priorität auf dem Erwerb von Wissen (80,4%), einem Bildungshintergrund und entsprechenden Qualifikationen. Im internationalen Vergleich sind jedoch nur circa zwei Drittel mit ihrem Schulalltag zufrieden (Deutschland: ~88%). Ein zunehmender Anteil (46,2%) spricht sich außerdem dafür aus, dass die Bildungskosten von der Gesellschaft getragen werden sollten – anstatt wie momentan von den Familien.