VISION:INCLUSiON - Gute Praxis

Mit Workcamps die Welt erleben

Probiere dich aus – überwinde Grenzen!

Christoph Meder, Geschäftsführer IBG Workcamps - Internationale Begegnung in Gemeinschaftsdiensten e.V.

Als junger Mensch mit Behinderung alleine losziehen und die Welt erleben, geht das? Na klar! Internationale Workcamps bieten fast allen die Chance zu interkulturellen Begegnungen, gemeinnützigem Engagement und neuen Herausforderungen. Die jungen Erwachsenen können Grenzen überwinden und haben gleichzeitig einen geschützten Rahmen. Wie das aussehen kann?

Sabrina (Name geändert) ist alleine nach Katalonien in ein internationales Workcamp gereist und hat dort in einem Freilichtmuseum bei der Renovierung einzelner Gebäude in traditioneller Lehmbauweise mitgeholfen. Sie ist 21 Jahre alt, hat einen Migrationshintergrund, ist Epileptikerin, ehemalige Förderschülerin und gilt als lern- und schwerbehindert. Im Rahmen eines Qualifizierungsprojekts macht sie eine geförderte Ausbildung zur Bürokauffrau.

Internationale Workcamps

Internationale Workcamps sind eines der klassischen Formate internationaler Jugendarbeit. Dabei arbeiten junge Menschen aus der ganzen Welt gemeinsam für zwei bis drei Wochen an einem gemeinnützigen Projekt, gestalten in dieser bunten Gruppe den Alltag gemeinsam und lernen so auch den Projektort und seine Menschen kennen. Workcamps richten sich an junge Erwachsene ab 18 Jahren, in Einzelfällen ab 15 Jahren. Diese melden sich einzeln zum Projekt an, die Anreise erfolgt ebenfalls individuell, Treffpunkt ist in der Regel vor Ort. Der pädagogische Ansatz internationaler Workcamps basiert wesentlich auf der kulturellen und sozialen Heterogenität der internationalen Gruppe. Seit knapp 20 Jahren ist Inklusion bei IBG daher im Rahmen der Diskussion der „Accessibility“ - des Abbaus von Zugangsbarrieren sowie des offenen Zugangs für alle jungen Menschen, unabhängig vom persönlichen, kulturellen und sozialen Hintergrund - ein wichtiges Thema. Neben jungen Menschen mit Behinderung werden auch andere Formen der sozialen Ausgrenzung mitgedacht, beispielsweise Migrant*innen, Schulabbrecher*innen.

In den vergangenen Jahren sind junge Menschen mit sehr unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen entweder aus Deutschland zu internationalen Workcamps im In- oder im Ausland aufgebrochen oder aus dem Ausland zu Workcamps in Deutschland gekommen. Junge Menschen mit einer Lernbehinderung sind hierbei stark vertreten, aber auch Jugendliche mit psychischen Krankheiten oder mit körperlichen Beeinträchtigungen. Manche saßen im Rollstuhl, waren blind, hatten Beinprothesen oder Trisomie-21. IBG bietet hierzu individuelle Unterstützungsangebote, um objektiv oder subjektiv bestehende Barrieren zu überwinden.

Den ersten Schritt wagen – wie kommen junge Menschen mit Behinderung zu Workcamps?

Wie kam es bei Sabrina dazu? Der Träger ihrer Qualifizierungsmaßnahme hatte IBG eingeladen, internationale Workcamps bei ihm im Haus vorzustellen. Ein Anleiter vor Ort motivierte zur Teilnahme, war bei der Informationsveranstaltung dabei und baute so die erste Hürde ab. Etwa fünfzehn junge Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund interessierten sich dafür, mehr darüber zu hören. Wie zwei andere wollte Sabrina anschließend wirklich bei einem internationalen Workcamp mitmachen. Da Sabrina nicht weit von Stuttgart weg wohnt, kam sie zunächst zu einem individuellen Beratungsgespräch zu IBG – die nächste Hürde für sie. Bei anderen Interessierten, die weiter entfernt wohnen, wurden andere Wege der Beratung und Begleitung gefunden.
Dieses Beratungsgespräch bildet die Grundlage und den Ausgangspunkt für einen individuellen Vorbereitungs-, Unterstützungs- und Begleitprozess. Gleichzeitig ist dies der Aspekt, der in vielen Fällen die Einbindung derjenigen Sozialarbeiter*innen o.ä. erfordert, die auch sonst mit den Jugendlichen arbeiten. Die Identifizierung und Benennung der Barrieren und individuellen Hindernisse benötigt ein echtes Vertrauensverhältnis, das nur schwer in kurzer Zeit aufbaubar ist. Der individuelle Vorbereitungs- und Begleitprozess wird jeweils mit dem Ziel gestaltet, die Hindernisse und Barrieren abzubauen, ohne dem Workcamp den Charakter einer großen Herausforderung zu nehmen. Gemeinsam mit Sabrina wurden aus dem Angebot von über 1.200 Workcamps weltweit diejenigen Projekte herausgefiltert, die ihren Bedürfnissen in Bezug auf Termin, Erreichbarkeit, Sprachkenntnisse, Arbeitsprojekt, Infrastruktur und vor allem Interessen am meisten entsprachen. In diesem großen Angebot liegt eine der großen Stärken des Formats internationales Workcamp. Sehr viele spezielle Bedürfnisse und Interessen können mit dieser Vielfalt bedient werden. Sabrinas Wahl fiel letztlich auf ein Workcamp in einem Freilichtmuseum in Katalonien, da sie sich durch Telenovelas grundsätzlich für Spanien interessierte, das Workcamp durch gute Flugverbindungen relativ einfach von Stuttgart aus zu erreichen war und auch sichergestellt werden konnte, dass zwei weitere deutschsprechende Freiwillige im Workcamp sind. So wurden auch Ängste in Bezug auf die Verständigung mit dem nur wenig vorhandenen Englisch genommen.

Auf dem Weg ins Ausland – Unterstützung und Herausforderung

Im Vorbereitungsprozess traf sich Sabrina noch zwei weitere Male mit einer IBG-Mitarbeiterin. Gemeinsam wurde die An- und Abreise geplant, Erwartungshaltungen geklärt, auf Spanien bzw. Katalonien vorbereitet, der Alltag im Workcamp näher beleuchtet und das „Infosheet“ - das zehnseitige englischsprachige Dokument mit den Detailinformationen zum Workcamp (inkl. Treffpunkt, Packliste, Notfallnummer etc.) - wurde gemeinsam übersetzt und durchgegangen. Schließlich wurde in einem „Was tue ich, wenn…?“-Block auf Befürchtungen und Unsicherheiten eingegangen. Für Sabrina war es dabei wichtig, dass auch ihr Anleiter sich gelegentlich bei ihr nach dem Stand der Vorbereitungen erkundigte. Gleichzeitig sollte es aber eine echte individuelle Herausforderung bleiben. Zugangshindernisse des Formats „Internationale Workcamps“ liegen meist in der individuellen Anreise und in der Campsprache. Durch die internationale Zusammensetzung einer Workcampgruppe reisen die Teilnehmenden zu unterschiedlichen Zeiten an; daher ist der Treffpunkt der Freiwilligen direkt am Projektort (bzw. dem letzten Bahnhof). Hierauf liegen dann oft besondere Augenmerke der Vorbereitung: Die Anreise wird gemeinsam geplant, notfalls kann über die Bahn bzw. die Airline oder eine Partnerorganisation im Ausland Unterstützung beim Umsteigen organisiert werden. In Einzelfällen wurden bereits vorher „Trainings“ auf dem Bahnhof oder dem Flughafen gemacht.

Sabrina verzichtete auf eine mögliche Umstiegshilfe in Barcelona, fuhr selbstständig vom Flughafen zum Bahnhof und stieg dort in den richtigen Zug. Im Workcamp angekommen erging es Sabrina erstmal genauso wie allen anderen der 15 internationalen Freiwilligen aus zwölf unterschiedlichen Ländern: Etwas orientierungslos versuchte sie sich in der Schule, die als Unterkunft diente, zurechtzufinden. Ziemlich schüchtern reagierte sie auf den ersten Kontakt mit den beiden Betreuern und den anderen Freiwilligen. Da es allen anderen sichtbar genauso ging und einige andere Freiwillige ihr Englisch ebenfalls mit Händen und Füßen ergänzen mussten, brachte Sabrina jedoch schnell den Mut auf, sich zu öffnen und war rasch in die internationale Gruppe integriert.

Der typische Tagesablauf sah für die kommenden beiden Wochen so aus, dass um 7 Uhr gefrühstückt wurde, dann wurde von 8 Uhr bis 12 Uhr im Freilichtmuseum gearbeitet und anschließend gemeinsam gegessen. Nachmittags machte ein Teil Siesta, der andere spielte oder ging kurz ins Schwimmbad, bevor schließlich von 16 bis 18 Uhr nochmal im Freilichtmuseum mit angepackt wurde. Abendessen gab es meist erst gegen 22 Uhr. Gekocht wurde gemeinsam, immer in kleinen Teams aus drei Freiwilligen – so konnte Sabrina mit ihrem Team auch die vorher besprochenen Käsespätzle für alle zubereiten. Auch der sonstige Alltag wurde gemeinsam gemeistert – täglich wechselten die Aufgaben beim Putzen und Kochen. Der Einkauf wurde meist von den Betreuern erledigt.

Die Arbeit im Museum wurde professionell angeleitet, gemeinsam wurden Lehmziegel gestampft und Wege erneuert. Für alle war dies Neuland. Alle brachten sich ein, so gut sie konnten. Wer eine Pause von der für die meisten doch ungewohnten körperlichen Arbeit bei teilweise hohen Temperaturen brauchte, nahm sich eine kurze Auszeit. Die gemeinsame Arbeit schweißte zusammen, der Stolz auf das gemeinsam Geleistete verband die Gruppe. Dabei trat auch die Lernbehinderung völlig in den Hintergrund und war für die anderen Freiwilligen entweder kaum sichtbar oder zumindest unwichtig. Am Wochenende standen dann Ausflüge auf dem Programm, es ging in die Pyrenäen und nach Barcelona. Regelmäßig gab es Auswertungsrunden und die Betreuer hatten ein besonderes Augenmerk auf Sabrinas Einbindung in die Gruppe – da gab es aber keine Probleme. Für den Notfall hatte sie auch die Kontakte einer IBG-Mitarbeiterin dabei.

Wie wirken inklusive internationale Workcamps?

Sabrina kam begeistert und merklich verändert aus dem Workcamp zurück: Das Zusammenleben in der internationalen Gruppe und die Erfahrung, dort integriert und ein echter Teil zu sein beeindruckten sie genauso wie das Erlebnis, im Arbeitsprojekt geholfen und mit den „eigenen Händen“ etwas zur Gesellschaft beigetragen zu haben. Der wichtigste Punkt für Sabrina war jedoch, diese Herausforderung selbst und alleine geschafft zu haben, alleine nach Spanien gereist zu sein, sich dem Unbekannten gestellt zu haben und mit größerer Eigenständigkeit, gewachsenem Selbstvertrauen, besseren Sprachkenntnissen und nicht zuletzt neuen Freunden zurückzukommen. Bei Sabrina führte dies anschließend nach Aussagen ihres Anleiters auch zu einem selbstbewussteren Auftreten in der Ausbildung und im privaten Umfeld.

Sabrina traf während der Vorbereitung und vor allem im Rahmen der Nachbereitung auch auf andere deutsche Freiwillige, die in anderen Workcamps waren und keine Behinderung hatten. Für Sabrina war dieser Austausch auf Augenhöhe ebenfalls ein wichtiges und bereicherndes Element der Gesamterfahrung Workcamp. Inzwischen hat Sabrina an einem weiteren Workcamp in Estland teilgenommen. Diese Wirkung erleben wir bei vielen rückkehrenden Freiwilligen.

Grenzen, Alternativen und Wert

Am wirkungsvollsten sind internationale Workcamps bei individueller Teilnahme. In den meisten Fällen nahmen die Jugendlichen mit Behinderung daher ohne Begleitperson am Workcamp teil und reisten auch alleine an. Damit ist ein bestimmtes Maß an Selbständigkeit Voraussetzung. So müssen notwendige Medikamente auf jeden Fall selbst eingenommen werden können. Die Projekte selbst sind weitgehend ehrenamtlich geprägt, pädagogische „Profis“ finden sich in der konkreten Betreuungssituation im Workcamp selten.

Sollte der Schritt in ein internationales Workcamp im Ausland für eine*n Jugendliche*n mit Behinderung zu groß sein, finden sich auch besonders niederschwellige Alternativen:

Bei der Umsetzung von Inklusion und Integration in Workcamps ist vieles möglich. Trotzdem ist jeder Fall anders. Die individuellen Antworten auf die speziellen Bedürfnisse eines jungen Menschen mit Behinderung erlauben dessen Einbindung. Grundlegende Basis dafür ist der enge Kontakt innerhalb des internationalen Netzwerks von Workcamp-Organisationen. Für IBG und die vielen internationalen Partnerorganisationen sind Wirkungen, wie sie Sabrinas Teilnahme an ihrem Workcamp auslösten, eine wichtige Bestätigung der eigenen Arbeit. Sabrina war auch eine wichtige Bereicherung für die internationale Gruppe. Daher sind die Mitarbeiter gerne bereit, dort zusätzliche Zeit zu investieren. Es wird aufgrund der beschränkten Ressourcen immer eine kleine Zahl von jungen Menschen bleiben, die (nur) mithilfe dieser speziellen Unterstützung  die Erfahrung eines internationalen Workcamps machen können. Aber dies lohnt sich! Sowohl für die betroffenen Jugendlichen als auch die anderen Freiwilligen im Workcamp und nicht zuletzt für uns als ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter*innen der Workcamp-Organisationen.

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Ansprechperson
Ulrike Werner
Referentin
Qualifizierung und Weiterentwicklung der Internationalen Jugendarbeit
Tel.: 0228 9506-230