VISION:INCLUSiON - Gute Praxis

Internationale Jugendbegegnungen für gehörlose und hörende junge Menschen

Listen to the Silence - Auf die Stille hören!

Klaus Waiditschka, Fachbereichsleiter für außerschulische Bildung und internationale Zusammenarbeit bei Jugendhilfe und Sozialarbeit e.V., Fürstenwalde/Spree (www.jusev.de)

Leise. Das ist eine ungewöhnliche Beschreibung, wenn man an eine lebendige, bunte und dynamische Jugendbegegnung denkt. Leise, geräuscharm, das beschreibt bei dieser Begegnung jedoch ein zentrales Charakteristikum, denn alles Laute wird bedeutungslos, wenn man sich mit gehörlosen Menschen trifft. Will man sich bemerkbar machen, dann durch Zeichen. Licht ein, Licht aus, um die Aufmerksamkeit aller zu bekommen. Mit „Listen to the Silence“ haben wir im Jahr 2016 ein Experiment gewagt, eine doppelte Begegnung, nämlich zwischen jungen Menschen aus drei verschiedenen Ländern (Deutschland, Tschechien und Malta) und gleichzeitig zwischen Gehörlosen und Hörenden.

Und das nun schon vier Mal: im März in unserer Jugendbildungsstätte Hirschluch bei Berlin, im Juni auf Gozo (Malta) und im September an der Moldau in Tschechien. Auch das ist ungewöhnlich: drei Begegnungen mit (beinahe) derselben Gruppe innerhalb eines Jahres. Und dann fortgesetzt in Malta im September 2017 mit einer erweiterten Gruppenzusammensetzung.

Neue Erfahrungen

„Wann hast Du zum letzten Mal etwas zum ersten Mal getan?“ – mit dieser Herausforderung wurden hörende junge Menschen eingeladen, sich auf dieses Experiment einzulassen, und die Nachfrage war größer als die zur Verfügung stehenden Plätze. Zum ersten Mal erleben, dass man auch ohne gesprochene Worte miteinander reden kann. Wie geht das? Indem gehörlose junge Menschen uns dabei helfen. Gehörlos sein heißt, nicht anders zu sein, aber mit anderen Mitteln zu kommunizieren. In dieser Kommunikation ohne Worte sind Gehörlose die Spezialisten, können wir Hörenden von ihnen lernen. Warum werden eigentlich an Schulen Fremdsprachen unterrichtet, aber nicht die Gebärdensprache? Neben kleinen Fortschritten in Gebärden experimentierten wir auch mit allen Möglichkeiten der Kommunikation ohne gesprochene Worte: Schrift und Zeichensprache, Bildsprache (Fotografie), Theater (Pantomime), erfuhren einiges über die beteiligten Länder und machten Ausflüge in die Umgebung, beschäftigten uns mit erfolgreichen und berühmten Personen, die gehörlos sind (was die Hörenden meist gar nicht wissen) und mit der Frage, warum gehörlose Menschen oft diskriminiert und für dumm gehalten werden.

Trotz des Bemühens um erste Schritte in der Gebärdensprache wäre Vieles in diesen Begegnungen nicht möglich gewesen, ohne die Hilfe von Gebärdensprachen-Dolmetschern. Als Menschen, die nicht in dieser Welt der Stille leben, denken wir vielleicht, mit Gebärden ist es viel leichter, die Grenzen von Ländern, Kulturen und (gesprochenen) Sprachen zu überwinden. Das ist richtig und falsch zugleich: Gehörlose Menschen sind es gewohnt, den ganzen Körper für die Kommunikation zu nutzen und es fällt ihnen deshalb leichter, auch über Länder- und Sprachgrenzen hinweg Kontakt aufzunehmen. Aber jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache! So kam es, dass die Hörenden sich in der Regel auf Englisch verständigten, doch wenn jemand Englisch sprach, standen daneben drei oder vier Dolmetscher, die gleichzeitig in die jeweilige Gebärdensprache übersetzten. Gleichzeitig, das ging nur, weil es geräuschlos war; eine Verdolmetschung in gesprochene Sprachen hätte nur nacheinander erfolgen können und sich ewig hingezogen.

Entstehung des Projekts, erste Wirkungen und Entwicklungen

Am Anfang des Projektes im Jahr 2015 stand eine Anfrage und Partnersuche aus Tschechien. Internationale Jugendbegegnungen für gehörlose Teilnehmende finden schon seit Jahren statt, oft im Rahmen der European Union of the Deaf Youth (EUDY), aber Begegnungen mit gehörlosen und hörenden jungen Leuten waren etwas Neues, ein spannendes Projekt und eine enorme Herausforderung. Unser diakonischer Verein, Jugendhilfe und Sozialarbeit e.V. in Fürstenwalde, wurde angefragt, weil wir seit Jahren internationale Begegnungen für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf durchführen, aber das waren zuvor meist Jugendliche mit Lernschwierigkeiten und leichten geistigen Einschränkungen. Zu hörbehinderten und gehörlosen Menschen hatten wir bis dahin keinen Kontakt und das war anfangs auch eine der größten Hürden: Wie Kontakt aufnehmen mit Gehörlosen-Communities, wenn man selbst keine Mitarbeiter/innen hat, die Gebärden können? Unterstützung aus Tschechien und viele Bitten um Kontakte führten schließlich zum Erfolg. Die nächste Hürde bestand darin, auch zwei Gebärdensprachen-Dolmetscher zu finden; es brauchte ungefähr 80 Anfragen, denn nicht alle Dolmetscher können Englisch und vor allem sind sie gewohnt, bei Arzt- und Behördenbesuchen, bei Ausbildung und Arbeit stundenweise zu dolmetschen, aber nicht eine ganze Woche mit einer Gruppe zu leben und ständig zur Verfügung zu stehen.

Eine grundlegende Erfahrung war, dass sich Begegnungen mit gehörlosen und hörenden jungen Leuten nicht erheblich von anderen Jugendbegegnungen unterscheiden, was die Konzeption und Gruppendynamik anbetrifft: Hier sind die Teilnehmenden, egal welche Sprache sie sprechen, zuerst einmal junge Menschen mit ihren menschlichen Bedürfnissen nach Sicherheit und Orientierung zu Beginn der Begegnung, ihrer Neugier und Erwartung, andere Menschen und Kulturen kennenzulernen, ihrer Bereitschaft auf ein gemeinsam vereinbartes Ziel in gemischten Teams hinzuarbeiten und der Freude über vereint erreichte Ergebnisse, die mit Stolz präsentiert werden. Natürlich müssen Methoden verändert und angepasst werden: so wird aus „Lebendiges Geräusche-Memory“ ein „Lebendiges Gebärden-Memory“ und beim Theaterspielen wird es eher Pantomime als Sprechtheater sein. Die größte Herausforderung und der größte Schatz sind jedoch die zusätzliche Sprache, für die mit Methoden der Sprachanimation bei den Hörenden Interesse geweckt wird und die zum zentralen Kompetenzerwerb werden kann.

Neue Partner

Im Vergleich zu den Anfängen haben die meisten Partner gewechselt, neue sind hinzugekommen. Ein Jugendring aus Malta war mit der Aufgabe überfordert, stattdessen arbeiten wir nun mit der Deaf People Association zusammen: dies wiederum betrachte ich als einen Qualitätssprung, dass nun eine Behinderten-Selbstorganisation mit zum Kreis der Träger gehört und Gehörlose im Vorbereitungs- und Leitungsteam vertreten sind. Es brauchte einige Überzeugungsarbeit und einen Lernprozess bei der Nationalagentur Jugend für Europa, um zu verstehen, dass die Gehörlosen nicht mehr, sozusagen „huckepack“, von den Jugendorganisationen mitgenommen werden, sondern eine eigene Vertretung haben und deshalb auch beim vorbereitenden Planungsbesuch selbstverständlich Gebärdensprachen-Dolmetscher benötigt werden. Als viertes Land haben wir schließlich die Slowakei einbezogen, am Anfang noch über eine informelle Gruppe junger Menschen, inzwischen ist aber bei einem neuen Antrag der Verband der slowakischen Gehörlosenorganisationen der offizielle Partner.

Während wir uns bisher ausschließlich an junge Erwachsene gewandt haben, wollen wir als nächsten Schritt – vorausgesetzt wir erhalten eine Bewilligung – ein ähnliches Programm auch für eine jüngere Zielgruppe der 15-19jährigen anbieten. Dabei hilft, dass zwei unserer hörenden Teilnehmenden inzwischen Gebärdensprache studieren, um Dolmetscher zu werden, und als zukünftige Gruppenleiter zur Verfügung stehen und einer unserer gehörlosen Teilnehmer seit September 2017 Geschäftsführer der Deutschen Gehörlosenjugend ist, so dass auch auf deutscher Seite eine enge Zusammenarbeit mit der Selbstorganisation der Gehörlosen möglich wird. Damit ist das Projekt, nach anfänglichen Schwierigkeiten, inzwischen gut aufgestellt und wird hoffentlich noch einige Jahre fortgesetzt werden und seine Wirkung entfalten können.

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Ansprechperson
Ulrike Werner
Referentin
Qualifizierung und Weiterentwicklung der Internationalen Jugendarbeit
Tel.: 0228 9506-230