Einführung in das interkulturelle Lernen
Über das interkulturelle Lernen in internationalen Jugendbegegnungen
Durch die kulturelle Brille
Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln jedes Menschen sind wesentlich von der Kultur geprägt, der er angehört. Kultur ist dabei nicht als „Hochkultur“ (Literatur, Musik, andere), sondern im weitesten Sinne zu verstehen, als ein Orientierungssystem von spezifischen Lebensweisen, Werten, Ideen und Bedeutungen, das alle Lebensbereiche durchdringt und an dem sowohl die Gesellschaft im Ganzen als auch die Individuen ihr Handeln ausrichten.
Mit den eigenen kulturellen Wahrnehmungs- und Handlungsrastern treten wir auch fremden Kulturen gegenüber (Ethnozentrismus). Da diese Muster in der Regel unbewusst sind, betrachten wir fremde Kulturen zunächst unreflektiert durch unsere Brille, was dazu führt, dass wir vieles nicht verstehen, fehlinterpretieren und oft genug auch ablehnen beziehungsweise abwerten. Kultur darf dabei nicht vorschnell mit einem anderen Land oder einer Nationalität gleichgesetzt werden. Beispiele auch aus der jüngeren Vergangenheit belegen, dass durchaus innerhalb eines Staates oder einer Nation kulturelle Unterschiede bestehen können, wie es zum Beispiel für die ehemalige DDR und die Bundesrepublik Deutschland oder für Ex-Jugoslawien und andere gilt.
Bewusste Auseinandersetzung mit dem Anderen
Interkulturelles Lernen findet keineswegs automatisch statt, sobald Vertreter/-innen verschiedener Kulturen aufeinander treffen. Ganz im Gegenteil: Kontakte mit fremden Kulturen bestätigen oft genug alte Vorurteile, statt das Verständnis für das Fremde zu fördern. Oder aber das Harmoniebedürfnis und der Verständigungswille sind so groß, dass Unterschiede gar nicht mehr wahrgenommen werden. Daher braucht es mehr als nur das Zusammensein an sich, damit Deutsche und Ausländer/-innen einander kennen und verstehen lernen.
Nötig ist das ständige bewusste Bemühen, sich dem Unbekannten, Andersartigen, Unverständlichen zu öffnen, Differenzen und manchmal auch Unvereinbares wahrzunehmen und auszuhalten. Dann erst besteht die Chance, Kenntnisse über die fremde und im Spiegel auch über die eigene Kultur zu erwerben, die eigene kulturelle Geprägtheit erkennen und relativieren zu können, Toleranz und Empathie gegenüber Anderem und Fremdem zu entwickeln und zu lernen, wie Konflikte aufgrund kultureller Differenzen friedlich gelöst werden können. Zu berücksichtigen ist, dass all dies nicht nur auf der Sach- und Erkenntnisebene stattfindet, sondern ganz stark auch die Gefühlsebene miteinbezieht.
Interkulturelles Lernen bei internationalen Begegnungen
Natürlich darf man nicht erwarten, dass das alles in zwei Wochen Begegnung zu erreichen ist, doch können erste Schritte getan und Grundlagen für die spätere weitere Entwicklung der Persönlichkeit geschaffen werden. Nicht die Zahl der Begegnungen ist dabei wichtig, sondern die Intensität, in der die interkulturellen Situationen bearbeitet werden. Neben der Bearbeitung sich konkret in der Begegnung ergebender Situationen können dazu auch eine ganze Reihe von Übungen und Spielen eingesetzt werden, die speziell für das interkulturelle Lernen geschaffen wurden.
Die Methoden sollen Jugendlichen (und auch Erwachsenen) helfen, Fremde und Fremdes besser zu verstehen, Toleranz und Fähigkeit zu konstruktiver Zusammenarbeit zu entwickeln, mitzubestimmen und Verantwortung zu übernehmen. Internationale Jugendbegegnungen dienen damit der Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen, haben aber angesichts zunehmend multikultureller Gesellschaften und einer Internationalisierung der Wirtschaft auch (sozial-)politische und berufsqualifizierende Aspekte.
Die Jugendlichen selbst und die ausländischen Partner können daneben ganz andere Motivationen mitbringen, die nicht einfach unter den Tisch fallen sollten. Jugendliche wollen Spaß und Action, und so manche Gruppe aus fernen Ländern (besonders aus wirtschaftlich und sozial schwachen Gebieten, wenn dies vielleicht die einzige Auslandsreise ihres Lebens ist) wünscht sich, möglichst viel zu sehen, Einkäufe zu machen, die Sprache zu üben, das eigene Land zu repräsentieren oder Ähnliches. Aufgabe des Leitungsteams ist es, die verschiedenen Vorstellungen „unter einen Hut zu bringen“ und Lernen ohne pädagogisch erhobenen Zeigefinger zu ermöglichen.
Weitere Themen sind:
Die Bedeutung von Kommunikation und Sprache für das interkulturelle Lernen
Entscheidend für jede internationale Begegnung ist der Umgang mit Sprache: Welche Fähigkeiten und Kenntnisse sind vorhanden? Wer kann übersetzen? Gibt es "Campsprachen"? Wo möglich, sollten Kenntnisse der Partnersprache für die Verständigung genutzt werden, aber auch das gemeinsame Benutzen einer Fremdsprache kann Vorteile haben, da so die Dominanz der Muttersprachler/-innen verhindert wird.
Fremdsprachenkenntnisse haben etwas mit Macht zu tun: Wer alles versteht und sich gut ausdrücken kann, hat es in internationalen Gruppen erheblich leichter, findet besser Kontakt, prägt mehr das Geschehen. Die Leitung tut daher gut daran, sich im Vorfeld geeignete Zugänge für die sprachlich nicht so fähigen Teilnehmenden zu überlegen. Hierfür sind alle nonverbalen Methoden (Theater, Spiel, Sport...) bestens geeignet und sollten vielfältig und abwechselnd zum Einsatz kommen.
Sprachanimation
Sehr positive Auswirkungen auf die Atmosphäre in der Gruppe hat es, wenn Interesse an der Sprache des Partners gezeigt wird. Ganz besonders dann, wenn es um Sprachen geht, die sonst kaum gelernt werden. Ein paar Worte und Wendungen sind in der Vorbereitung schnell gelernt, und die Freude der Partner, wenn sie in Arabisch (Thai, Ungarisch...) begrüßt und nach dem Namen gefragt werden, macht alles Weitere einfacher. Eine Liste mit bekannten Wörtern (Internationalismen, Lehnwörter) und spielerische Methoden der Sprachanimation nehmen Schwellenangst. Schon 30 Verben und Substantive machen so manche Mini-Konversation bei Tisch und anderswo möglich. Auch während der Begegnung können Gelegenheiten geschaffen werden, in denen eine spielerische Annäherung an die Partnersprache stattfindet.
Übersetzung
Systeme der Übersetzung, bei denen die Teilnehmenden einer Gruppe sich selbst helfen, alles zu verstehen, sind Profi-Dolmetscher/-innen meist vorzuziehen. Es macht nichts, wenn die Qualität der Übersetzung dann nicht perfekt ist: der gruppendynamische Wert des „Miteinander-Verständigens“ ist dafür sehr hoch! Unter anderem über die Jugendwerke werden so genannte Gruppendolmetscher/-innen ausgebildet. Sie lernen, als eingebundenes Mitglied der Gruppe zwischen den Sprachen und Kulturen zu vermitteln – und sind damit weit mehr als Übersetzer/-innen. Der Einsatz solcher Menschen im pädagogischen Team ist sehr zu empfehlen.
Konflikte und ihre Bearbeitung in interkulturellen Kontexten
Konflikte zwischen den Kulturen sind für deutsche und westeuropäische Pädagog(inn)en das „Salz in der Suppe“ der internationalen Begegnung. Schließlich werden Unterschiede hier sehr deutlich und damit interkulturelles Lernen in besonderer Weise ermöglicht. Nicht alle sehen das aber so. Da es auch beim Umgang mit Konflikten kulturelle Unterschiede gibt, ist höchste Sensibilität angebracht.
In Kulturen, in denen das Kollektiv eine größere Rolle als in unserer Gesellschaft spielt, werden offene Konflikte als Bedrohung der Gemeinschaft und des Einzelnen interpretiert und um jeden Preis vermieden. Unangenehme Situationen zuzulassen, widerspricht darüber hinaus in vielen Fällen einem traditionellen Begriff von Gastfreundschaft. Daher kann es durchaus vorkommen, dass der Partner, direkt darauf angesprochen, das Vorhandensein eines Konfliktes leugnet und um jeden Preis auf Harmonie bedacht ist. Bei solchen Konstellationen ist es gewiss nicht angebracht, „konfliktfreudig“ direkt aufs Tapet zu bringen, wo es knirscht, um daraus zu lernen und den Konflikt einer Lösung zuzuführen. Sonst ist am Ende zwar vielleicht ein interkultureller Lernerfolg zu verzeichnen und das Problem zum Beispiel der unterschiedlichen Zeitauffassung - dem Anschein nach - gelöst, dafür aber sind das Vertrauen verloren und die Beziehungen zerstört.
Fingerspitzengefühl und Rücksichtnahme auf Empfindlichkeiten oder Tabus sind daher die Voraussetzung für einen erfolgreichen Umgang mit Konfliktsituationen. Patentlösungen gibt es natürlich nicht, aber immerhin einige, in verschiedenen Zusammenhängen erprobte Methoden (Mediation).
Jedes Programm wird von Teamer(inne)n und Teilnehmenden ständig bewertet. Meist äußert sich das aber nur in nebenbei gemachten Bemerkungen oder Kleingruppengesprächen. Auswertungen helfen, diese Beurteilungen konstruktiv zu nutzen, indem die Möglichkeit geschaffen wird, das Erlebte noch einmal zu reflektieren, Konsequenzen daraus zu ziehen und das Programm (veränderten) Bedürfnissen anzupassen.
Neben begleitenden Auswertungen (jeden Abend 10 bis 15 Minuten) sind auch etwas umfangreichere Zwischen- und Schlussauswertungen möglich. Dabei muss das für die Gruppe richtige Maß gefunden werden, sonst entsteht leicht Überdruss.
Die kulturelle Spezifik des Partners wird einen Einfluss auf Häufigkeit und Form der Auswertungen haben. Schließlich gibt es Länder, in denen offene Kritik als Affront gilt, Gruppenreflexionen unbekannt sind, grundsätzlich der/die Leiter/-in für die Gesamtgruppe spricht und so weiter. Dann ist es Aufgabe des Leitungsteams, eine für alle akzeptable Lösung zu finden, wie Reflexion stattfinden kann, ohne dass dem Partner etwas aufgezwungen wird. Von der Gruppenkonstellation und dem machbaren Maß an Offenheit wird abhängen, ob Auswertung anonym oder offen und in Groß- oder Kleingruppen stattfindet – Methoden gibt es genug.
Aufgabe des Teams (vielleicht auch gemeinsam mit den Teilnehmenden) ist es, sich im Anschluss Gedanken über mögliche Konsequenzen und Umsetzungen der Ergebnisse zu machen. Nichts ist nämlich destruktiver, als erst auszuwerten, die Ergebnisse dann aber tapfer zu ignorieren und das einmal Geplante weiter durchzuziehen. Regelmäßige Teambesprechungen sollten ohnehin eine Selbstverständlichkeit sein...
Transfer
Schade ist, wenn mit dem Programm selbst für die Teilnehmenden alles vorbei ist. Vieles „setzt“ sich erst nach einer Weile und lässt sich gut bei einem oder auch mehreren Nachtreffen aufgreifen. Dabei können die Jugendlichen Fotos zeigen und austauschen, eine Dokumentation zusammenstellen, aus der Distanz noch einmal das Gelernte reflektieren, über weiterbestehende Kontakte berichten oder nochmals als Gruppe zu ihren Partnern Kontakt aufnehmen oder Folgeprojekte planen.
Schulung für Teamer(inne)n von internationalen Begegnungen
Die Schulung beziehungsweise Aus- und Fortbildung der betreuenden Personen ist gerade bei internationalen Begegnungen das A & O für die Programmqualität des Trägers. In der Regel kann eine gute Schulung nicht von den hauptamtlichen Mitarbeiter(inne)n allein gestaltet werden (es sei denn, sie sind ausgemachte Begegnungspezialist(inn)en!).
Gezielte Ausbildungs- oder gar Berufsgänge für Referent(inn)en der internationalen Jugendarbeit existieren nicht, so dass Sie sich einiges einfallen lassen müssen, um gutes Fortbildungspersonal zu bekommen. Ob eine Schulung im nationalen Rahmen oder zusammen mit den Partnern stattfindet, wird neben inhaltlichen Gesichtspunkten vor allem von den organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten abhängen.
Themen der Ausbildung
Seit geraumer Zeit gibt es von Expert(inn)en zusammengetragene Erkenntnisse darüber, mit welchen Themen Kurse für Teamer/-innen von internationalen Begegnungen bestückt sein sollten. Die folgende Übersicht von Themen für einen (Grund-)Ausbildungskurs wurde im Rahmen einer dreijährigen Kursreihe von Ausbilder(inne)n entwickelt:
- Arbeiten im internationalen Team: kritische Situationen, Konfliktregelung, Konsensfindung, Umgang mit Mehr- und Minderheiten/mit "arm" und "reich";
- Gestaltung und Vermittlung von Rahmenbedingungen: Hintergründe, institutionelle Zusammenhänge internationaler Jugendarbeit, präzise und attraktive Programmausschreibungen und Vorinformationen, Auswahl und Gestaltung der Unterkunft;
- richtige Partnerwahl: Grundgemeinsamkeiten der Partner;
- Verständnis/Ansatz von interkulturellem Lernen, Arbeiten und Zusammenleben: Ziele formulieren, Erfolgskriterien nennen können, Selbstverständnis der Teamer/-innen;
- Kommunikation - "Kommunikationssicherung": Sprachtraining, (non-)verbale Kommunikation, Dolmetscher/-innen;
- Didaktik: Programmstrukturen, -typen, Lernen, Erwartungen/Orientierung/Aktivierung der Teilnehmenden, angemessene Konzepte interkultureller Pädagogik zwischen Selbst- und Fremdbestimmung der Teilnehmenden;
- gruppendynamische und (kulturen-)psychologische Grundlagen;
- Methoden: Motivierung, Animation, "Action", Spiel, Sport, Bewegung, atmosphärische Gestaltung;
- Umgang mit Medien;
- "Transparenz": Finanzen, Recht, Versicherung ...;
- landeskundliche Kenntnisse, Methoden der Stadt- und Landerkundung;
- nationale und persönliche Identität: Umgang mit Vorurteilen, Ethnozentrismus, Kenntnis von Entkulturationsprozessen;
- Leitungskompetenz: Rollen, Macht, Geschlechterverhältnis, Moderation und Präsentation, Gesprächsführung, Umgang mit Zeit, Methoden der Reflexion;
- Organisation vor Ort;
- (Methoden der) Evaluation.