Blick auf die spanische Stadt und Exklave Ceuta an der nordafrikanischen Küste und der Straße von Gibraltar Blick auf die spanische Stadt und Exklave Ceuta an der nordafrikanischen Küste und der Straße von Gibraltar
Demokratie und Menschenrechte

„Zuhören reicht nicht mehr“

Marokkos Jugend verliert Glauben an die Zukunft

In Marokko verstärken sich die gesellschaftlichen Widersprüche. Junge Menschen aus der Mittelschicht fordern mehr individuelle Freiheitsrechte ein. Andere haben die Hoffnung auf eine Zukunft im eigenen Land aufgegeben und sehen Auswanderung als einzige Lösung an. Abdel Hamid Tawfik ist Lehrer und engagiert sich in der NGO Young United, die im von IJAB unterstützten Netzwerk deutscher, marokkanischer, tunesischer und ägyptischer Akteure im Jugendaustausch mitwirkt. Wir haben mit Hamid über die Perspektiven junger Menschen und der Zivilgesellschaft in Marokko gesprochen.

18.08.2021 / Christian Herrmann

IJAB: Hamid, wie geht es der marokkanischen Jugend?

Abdel Hamid Tawfik: Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, denn die Jugend ist nicht homogen. Wie es jungen Menschen geht, hängt von der sozialen Schicht ab, ob sie in der Stadt oder auf dem Land aufwachsen oder davon, ob sie Zugang zu Ausbildung und Studium haben. Diejenigen, die begrenzten Zugang zu Bildung haben, sind in einer schlechten Situation und entsprechend unzufrieden sind sie. Oft sehen sie ihre einzige Chance darin, das Land zu verlassen und nach Europa zu gehen. Einer Studie des Moroccan Observatory For Youth Policies und UNICEF von 2019 zufolge, fallen 28% der jungen Menschen in diese Kategorie. Ihnen fällt es schwer, Arbeit zu finden und es ist schwer, sie davon zu überzeugen, im Lande zu bleiben.

Für junge Menschen aus der Mittelschicht stehen andere Fragen im Mittelpunkt. Sie fordern individuelle Freiheitsrechte und sie brauchen eine Atmosphäre, in der sie das Gefühl haben, dass das Land Fortschritte macht.

Insgesamt kann man sagen, dass sich die Situation in den letzten fünf Jahren verschlechtert hat. Das gilt für die Wirtschaftsdaten, aber auch für das Bildungssystem, bei dem die soziale Herkunft eine große Rolle spielt. Ob ein junger Mensch im Bildungssystem erfolgreich ist, hängt oft von der Familie ab, aus der er stammt.

IJAB: Bleiben wir bei den 28%, denen es schlecht geht. Sind für sie Demokratie und Menschenrechte überhaupt ein Thema oder brauchen sie in erster Linie andere Dinge?

Abdel Hamid Tawfik: Demokratie, Menschenrechte und individuelle Freiheitsrechte sind vor allem ein Thema für die Mittelschicht. Einem jungen Mann und einer jungen Frau ist es zum Beispiel nicht ohne weiteres möglich, gemeinsam in einem Hotel zu übernachten – sie müssen nachweisen, dass sie verheiratet sind. Viele junge Menschen würden auch gerne während des Ramadans draußen essen gehen, sie scheitern aber an den religiösen Restriktionen. Diese jungen Menschen fordern mehr Rechte und eine offenere Gesellschaft. Die Armen haben andere Sorgen.

IJAB: Müsste man diese Sorgen dann nicht erst recht ernst nehmen und diesen Menschen zuhören? Wäre das nicht auch ein Beitrag zur Demokratiebildung?

Abdel Hamid Tawfik: Ja natürlich, aber zuhören reicht nicht mehr. Die Gesellschaft muss ihnen auch etwas anbieten können. Natürlich gibt es NGOs, die mit diesen jungen Menschen sprechen und ihnen zuhören. Aber wenn sich dann nichts ändert, hören sie nicht mehr zu. Sie verlieren den Glauben an die Zukunft. Einige Organisationen versuchen, die sozial Benachteiligten zu integrieren, aber wir sprechen über eine Gruppe, die sehr groß ist. Sie kann nicht durch NGOs allein erreicht werden. Der Staat betrachtet es nicht als seine Aufgabe, diesen Menschen zu helfen und so lastet alles auf der Zivilgesellschaft.

Ich möchte dir ein Beispiel dafür geben, wie groß die Verzweiflung inzwischen ist. Gerade gestern haben 30 junge Leute von Fnideq aus versucht, mit Booten und schwimmend zur spanischen Enklave Ceuta zu kommen. Drei von ihnen sind ertrunken. Fnideq ist eine marokkanische Kleinstadt in der Nähe von Ceuta, die nach der durch die Pandemie bedingten Grenzschließung der spanischen Enklave wirtschaftlich sehr gelitten hat. Einige junge Menschen stellen sich Europa als eine Art Paradies vor und sind kaum von etwas anderem zu überzeugen.

IJAB: Was kann internationaler Jugendaustausch unter diesen Bedingungen überhaupt erreichen? Ist Jugendaustausch ein Luxusgut?

Abdel Hamid Tawfik: Mit unserer NGO Young United sind wir hier in Al Hoceïma, im Norden von Marokko, sehr im Jugendaustausch engagiert. Aber realistischer Weise muss ich sagen, dass wir nur die jungen Menschen erreichen, die ihre Hoffnungen hier im Land noch nicht aufgegeben haben. Die große Gruppe der sozial Benachteiligten wird Jugendaustausch nicht helfen, sie brauchen etwas anderes.

IJAB: Viele unserer internationalen Partner klagen über schrumpfende Spielräume der Zivilgesellschaft. Wie ist die Situation in Marokko?

Abdel Hamid Tawfik: Sie ist nicht anders, als in vielen anderen Ländern auch. Aber auch in der Zivilgesellschaft gibt es Unterschiede. Die Zusammenschlüsse, die mit der offiziellen Politik harmonisieren und sich regierungsnah positionieren, haben keine Probleme und auch keine Geldsorgen. Für politische Organisationen und Menschenrechtsorganisationen sieht die Situation anders aus. Einige ihrer Aktivitäten werden vom Staat nicht genehmigt. Auch unabhängige Journalisten haben Schwierigkeiten, ihre Meinung frei ausdrücken zu können. Fünf von ihnen befinden sich gegenwärtig in Haft.

IJAB: Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf den Jugendaustausch aus? Könnt ihr eure Kontakte aufrechterhalten?

Abdel Hamid Tawfik: Die Pandemie hat natürlich vieles verändert – hier vor Ort und auch, was den internationalen Austausch angeht. Wir haben immerhin ein kleines Online-Projekt mit der Stadt Wiesbaden durchgeführt. Das ist nicht dasselbe, wie physischer Austausch, aber es hat uns geholfen die Kontinuität in der Zusammenarbeit aufrecht zu erhalten. Und für unsere Jugendlichen war es auch wichtig, denn durch den Lockdown sind sie von physischer und psychischer Isolation betroffen. So haben sie die Möglichkeit gehabt, kreativ zu sein, Videos und Musik zu machen. Das hat ihnen Spaß gemacht und die Kontakte, die im Projekt entstanden sind, setzen sie auf Facebook und in anderen sozialen Netzwerken fort. Ja, es hat sich vieles verändert und wir haben viel lernen müssen, um solche Online-Projekte durchzuführen. Vieles klappt, aber es gibt auch Probleme. Eines ist die schwache Internetverbindung, die wir jenseits der großen Städte haben. Du merkst es ja gerade an unserem Gespräch.

Abdel Hamid Tawfik ist Lehrer und lebt in Al Hoceïma, Marokko. In der NGO Young United engagiert er sich für den Jugendaustausch.

Dieser Beitrag erschien im IJAB journal 1/2021.

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