Eine junge Frau hat ihre Hände zu einem Herz geformt und ruft etwas Eine junge Frau hat ihre Hände zu einem Herz geformt und ruft etwas
Solidaritätskundgebung mit Belarus in Köln
Demokratie und Menschenrechte

„Wir werden nicht aufgeben“

Belarus nach einem Monat Protest

Hanna ist Historikerin an einem Museum in Minsk und hat an den Protesten gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl in Belarus teilgenommen. IJAB hat mit ihr über einige der Hintergründe der Proteste gesprochen, an denen seit Wochen in großer Zahl junge Menschen teilnehmen. Sie sagt: „Wir brauchen eure Unterstützung!“

14.09.2020 / Christian Herrmann

Hanna ist nicht der wirkliche Name unserer Interviewpartnerin. Aus Sicherheitsgründen möchte sie unerkannt bleiben. Ihre tatsächliche Identität ist der Redaktion bekannt.

ijab.de: Hanna, die Führung der belarusischen Opposition besteht aus Frauen. Auf den Aufnahmen der großen Demonstrationen sind sehr viele Frauen, vor allem junge Frauen, zu sehen. Ist die Revolution weiblich?

Hanna: Nein, ich glaube nicht. Was die Menschen auf die Straßen treibt ist Angst und Verzweiflung. Diese Angst spüren Männer und Frauen gleichermaßen. Tatsache ist aber, dass Frauen in geringerem Umfang verhaftet und geschlagen wurden. Es sieht für die Sicherheitsbehörden schlecht aus, wenn sie auf offener Straße friedliche Frauen verprügeln und in Autos zerren. Unsere Charmeoffensive kann man durchaus als Waffe sehen und dabei spielen Frauen eine besondere Rolle.

ijab.de: Die Proteste dauern jetzt schon über einen Monat an. Deutet das darauf hin, dass die Menschen ihre Angst vor der Diktatur verloren haben?

Hanna: Nein, wir haben jetzt sogar noch mehr Angst, als zu Beginn der Proteste. Ich habe Angst, alle meine Freunde haben Angst, verhaftet oder verprügelt zu werden. Aber zuhause zu sitzen und nichts zu tun, das macht mich mehr fertig, als mich dieser Angst auszusetzen. Wir haben Strategien entwickelt, mit ihr umzugehen. Zu Beginn der Proteste sind wir zum Beispiel immer in großen Gruppen zu den Demonstrationen gegangen. Wir haben gedacht, dass uns das weniger angreifbar macht. Jetzt gehen wir in kleinen Gruppen. Das zwingt die Polizei dazu, sich über das ganze Stadtgebiet zu verteilen. Wir haben unsere Taktik geändert.

Der ganze letzte Monat kommt mir wie ein einziger Tag vor. Wir stehen unter emotionalem Dauerstress. Ich und meine Freunde haben noch Glück gehabt, niemand ist verhaftet oder verprügelt worden. Nur mein Auto ist für 30 Tage beschlagnahmt worden.

ijab.de: Eines der hervorstechenden Merkmale der Proteste ist ihre absolute Friedfertigkeit. Die Gewalt ging immer von der Polizei aus, nie von den Protestierenden. Ein polnischer Freund sagte mir einmal: „Weißt du, warum die Solidarność-Bewegung so friedlich war? Weil wir mit dem Warschauer Aufstand eine extreme Gewalterfahrung gemacht haben“. Gibt es in Belarus ein vergleichbares historisches Trauma, das die Friedfertigkeit erklärt?

Hanna: Natürlich gibt es eine Menge Parallelen mit der polnischen Geschichte, auch was den Zweiten Weltkrieg betrifft. Und auch wir haben unsere historischen Traumata. Aber was wichtiger ist: Wir können nicht gewinnen, wenn die Proteste gewalttätig werden sollten. Lukaschenkos Antwort würde nur noch repressiver sein und Russland hat Waffen in unserem Haus. Ich rede dabei nicht ausschließlich über das Töten von Menschen, es geht auch um unsere Unabhängigkeit. Wir müssen alles vermeiden, was Lukaschenko einen Vorwand liefern könnte, Russland dazu einzuladen, seine Armee zu schicken. Schon jetzt sind die Journalisten im Staatsfernsehen durch russische Journalisten ersetzt worden und wir wissen, dass Russland bereit ist zu kämpfen.

ijab.de: Für wie wahrscheinlich hältst du eine russische Intervention?

Hanna: Ich habe nichts gegen Russen, sie sind unsere Nachbarn und einige würden sogar sagen, sie sind unsere Brüder. Aber eins ist klar: Wir sind nicht ein Volk und wir wollen nicht aus dem Ausland regiert werden. Was gerade in Belarus geschieht, steht nicht in den russischen Lehrbüchern. Deshalb weiß die russische Regierung auch nicht, wie sie damit umgehen soll. Bisher beschränkt sie sich auf eine hybride Intervention, zum Beispiel durch die Unterstützung von Lukaschenkos Propaganda. Aber wir sehen das, wir wissen, was sie tun.

ijab.de: Reden wir nochmal über die Unabhängigkeit. Überall auf den Demonstrationen sehen wir die weiß-rot-weiße Flagge, die die Nationalfahne war, als Belarus am Ende des Ersten Weltkriegs seine Unabhängigkeit erklärte. Die heutige offizielle Fahne lehnt sich an die Sowjetrepublik Belarus an. Ist weiß-rot-weiß auch ein Statement zur Unabhängigkeit?

Hanna: Ich stimme teilweise zu, aber nicht alle kennen die Geschichte unserer Fahne. Die Menschen vergessen schnell. Viele wissen nicht, dass Belarus auch 1991 mit der weiß-rot-weißen Fahne in die Unabhängigkeit ging und Lukaschenko sie erst später ändern ließ. Aber ich glaube, etwas anderes ist wichtig: Die weiß-rot-weiße Fahne hat – unabhängig von ihrer Geschichte – eine neue Bedeutung bekommen. Sie steht heute für die Einheit aller Belarusen und Belarusinen. Sie steht für die Wiedergeburt von Belarus als Nation.

ijab.de: Du arbeitest an einem Museum. Wir haben von Streiks in Museen gehört. Streikst du auch?

Hanna: Ich weiß nur von einem Museum in Wizebsk, das dauerhaft bestreikt wird und geschlossen hat. Viele andere praktizieren das, was wir „italienischen Streik“ nennen. Das heißt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun nur das Allernötigste. In den Pausen gehen sie auf die Straße, halten Plakate hoch und drücken ihre Meinung aus. Einige sind deswegen verhaftet worden. Andere Berufsgruppen hat es härter getroffen. Wir wissen sogar von einem Arzt, der auf dem Weg in den Operationssaal verhaftet wurde.

ijab.de: Welche Unterstützung braucht die belarusische Demokratiebewegung aus dem Ausland?

Hanna: Wenn diejenigen, die in den Gefängnissen und auf den Straßen verprügelt wurden, im Ausland medizinische und psychologische Hilfe bekommen könnten, dann wäre das hilfreich. Polen und Litauen haben bereits humanitäre Visa angeboten. Andere Länder könnten sich dem anschließen. Wir brauchen auch Unterstützung bei der Berichterstattung. Vielen Journalisten wurde ihre Ausrüstung zerschlagen oder sie wurden des Landes verwiesen.
Die EU hat Sanktionen gegen Einzelpersonen verhängt. Das ist gut, aber es hilft uns nicht viel, denn die Betroffenen werden das Land ohnehin nicht verlassen. Wir brauchen mehr aktive Maßnahmen, denn hier werden Menschen getötet, aber sie dürfen den normalen Menschen nicht schaden.
Moralische Unterstützung können wir immer gebrauchen.

ijab.de: Wie geht es jetzt weiter?

Hanna: Die Menschen sind müde, aber wir werden nicht aufgeben. Es steht zu viel auf dem Spiel. Wir werden gewinnen. Wenn das hier vorbei ist, dann werden wir alle gemeinsam feiern.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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