ijab.de: Von meinen ukrainischen Freunden habe ich gelernt, dass die Frage „Wie geht es dir?“ instinktlos ist, weil es im Krieg natürlich allen schlecht geht. Ich frage dich also lieber, wie du die Nachrichten des heutigen Morgens bewertest. Die israelische Regierung und die Hamas haben sich auf einen Austausch zwischen Geiseln und Gefangenen verständigt. Verbunden ist das mit einer mehrtägigen Kampfpause.
Tal Madar: Ja, die Frage ist tatsächlich schmerzhaft, aber ich verstehe auch, dass es schwierig ist auf andere Weise nach dem Befinden von Freunden und Bekannten zu fragen. Uns fehlen für solche Situationen die richtigen Worte. Was deine Frage nach dem Austausch angeht: Wir hängen hier alle an den Fernsehern und Radios und sprechen über nichts anderes. Viele Menschen sind wütend und empört und empfinden diesen Deal als zynisch. Wie kann man mit Leuten verhandeln, denen jegliche moralische Standards fehlen? Zugleich ist das in unserer Tradition und in unseren Werten: Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt. Natürlich hoffen wir, dass wir 50 Menschenleben zurückbringen können, aber das wird auch Familien auseinanderreißen, die jetzt als Geiseln festgehalten werden. Kinder und Frauen können gehen, aber Väter, Großeltern und andere Angehörige werden bleiben müssen. Was wird nach ein paar Tagen Feuerpause sein? Wenn es den Terroristen der Hamas gelingt in dieser Zeit ihre Vorräte aufzustocken, was werden sie dann tun? Sicher werden sie nicht den Terror beenden. Ich beneide unsere Politiker nicht darum, mit so schwierigen Fragen umgehen zu müssen und Entscheidungen zu treffen.
Ich sehe natürlich auch den internationalen Druck auf Israel und verstehe ihn nicht. Wir sind doppelten Standards ausgesetzt. Die Hamas macht ja kein Geheimnis daraus, dass sie uns alle umbringen will. Wenn andere Verbrechen begehen, wie zum Beispiel in Syrien, dann schweigt die Welt. Wenn wir uns wehren, dann werden auf einmal alle laut. Nachdem was wir am 7. Oktober erlebt haben, steht unsere Welt Kopf. Aber es gelingt uns offenbar nicht, zum Gewissen der Welt durchzudringen. Wir verstehen das nicht und für mich als Linke ist die internationale Reaktion der Linken sehr enttäuschend. Sehen die Menschen nicht, was für Leute das sind, die gegen Israel protestieren und dass sie Gefahr laufen, ihre Demokratie zu verlieren?
Es gibt keinen Alltag mehr für junge Menschen
ijab.de: Auch für junge Menschen steht die Welt Kopf. Wie gehen die Mitgliedsorganisationen des Council of Youth Movements in Israel mit der Situation um? Was macht ihr? Wie ist das Leben junger Menschen im Augenblick?
Tal Madar: Wir haben eine halbe Million Mitglieder im Alter zwischen 10 und 18 Jahren. Unser Zusammenschluss spiegelt die Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft wieder. Unsere Mitgliedsorganisationen kommen aus dem gesamten politischen Spektrum, es gibt religiöse und säkulare Organisationen, Juden, Araber, Drusen und Beduinen. Zu unserem normalen Tagesgeschäft gehört zum Beispiel ein Freiwilligendienst für junge Menschen in der Zeit zwischen Schule und Wehrdienst. Am 7. Oktober hat sich unser Leben radikal verändert und damit meine ich nicht nur die Menschen, die vom Terror der Hamas unmittelbar betroffen waren und sind. 60.000 bis 70.000 junge Menschen aus dem Süden – aus dem Grenzgebiet zum Gazastreifen – und etwa 30.000 aus dem Norden – aus der Grenzregion zum Libanon – sind jetzt Flüchtlinge im eigenen Land. Für sie gibt es keinen gewohnten Alltag mehr, keine Schule und keinen Kindergarten, wie sie es bisher kannten. Im schlimmsten Fall haben sie Freunde und Angehörige bei den Massakern verloren oder Teile ihrer Familien sind jetzt Geiseln. Sie sind jung, eigentlich wollen sie sich von ihren Eltern lösen und ihr eigenes Leben leben – stattdessen sitzen sie jetzt mit ihren Familien auf engstem Raum zusammen. Aber wie schon bei Covid gibt es für die besonderen Bedürfnisse junger Menschen wenig Raum und Verständnis. Wir versuchen eine neue Umgebung für sie zu schaffen – das ist nicht einfach.
Junge Menschen gehen mit der gegenwärtigen Situation unterschiedlich um. Ich beobachte drei Gruppen. Die erste Gruppe ist stabil. Nach dem ersten Schock kommt sie ziemlich schnell ins gesellschaftliche Leben zurück. Diese jungen Menschen wollen sich als Freiwillige engagieren und etwas tun. Die zweite Gruppe neigt zu riskantem Verhalten, beispielsweise durch Alkoholkonsum und Drogen. Die dritte Gruppe ist am gefährdetsten. Es sind junge Menschen, die sich völlig isolieren, sich in ihren Wohnungen einschließen, nicht mehr vor die Tür gehen, kein soziales Leben mehr haben. Wir suchen sie auf, sprechen mit ihnen, machen ihnen Angebote und vor allem sagen wir ihnen: „Geh raus! Jetzt!“ Wir versuchen ihnen Mut zu machen und ihren Blick in die Zukunft zu richten. Wir sagen ihnen, dass dieser Krieg irgendwann vorbei sein wird und dass wir ihn gewinnen werden. Aber wir wissen selbst nicht, welchen Preis wir dafür bezahlen müssen und wie dieser Sieg aussehen wird. Die jungen Menschen fragen uns vieles und wir haben nicht immer eine Antwort darauf.
Das schlimmste ist: Die Täter waren unsere Nachbarn
ijab.de: Befürchtest du eine traumatisierte Generation?
Tal Madar: Im Augenblick sind wir alle traumatisiert. Wir fragen uns, was wir all die Jahre gedacht haben, wie es möglich war, dass wir nicht gesehen haben, was da neben uns entstanden ist – und damit meine ich nicht unsere Geheimdienste, an die man auch Fragen haben kann, ich meine die gesamte Gesellschaft. Wie konnten wir überrascht sein? Das schlimmste ist: Die Täter waren unsere Nachbarn. Sie haben mit uns gelebt und für uns gearbeitet. Jetzt sind sie gekommen um zu töten und zu vergewaltigen. Unsere Geheimdienste versuchen die Täter zu identifizieren. Dabei sind sie auch auf ein Telefonat eines Mannes gestoßen, der am 7. Oktober seine Mutter in Katar anrief um ihr stolz zu erzählen, dass er gerade 10 Israelis getötet hat. Die Mutter hat ihm gratuliert. Das sind unsere Nachbarn. Selbst russische Soldaten, die in den Krieg in die Ukraine geschickt werden, desertieren manchmal. Von den Milizen der Hamas desertiert niemand. Wir haben gedacht, wir bekommen Frieden, wenn wir helfen die Lebensbedingungen der Palästinenser zu verbessern. Dieses ganze Konzept ist zusammengebrochen und wir wissen nicht mehr, was wir tun können.
ijab.de: Ist es unter den Bedingungen, die du beschreibst, für Israelis möglich für die Menschen im Gazastreifen Empathie zu empfinden? Auch deren Welt ist ja zusammengebrochen.
Tal Madar: Nein. [An dieser Stelle unterbricht Tal Madar das Interview und kämpft mit den Tränen. Dann fährt sie fort.] Das bin ich nicht. Ich bin nicht so, ich habe nie so gefühlt. Ich habe immer Mitgefühl mit anderen Menschen gehabt, aber im Moment fühle ich nichts für diese Menschen. Natürlich sind die Fernsehbilder schrecklich und ich kann auch nicht sagen, dass ich möchte, dass die Menschen im Gazastreifen leiden. Aber jeder Mensch hat eine Wahl, er kann sich für seine Zukunft und für die Zukunft der nächsten Generation entscheiden. Er kann sich zum Beispiel wehren, wenn die Hamas von ihm verlangt, Geiseln in seiner Privatwohnung zu verstecken – und wir wissen, dass das geschieht. Er kann auch sagen, dass die Hamas nicht für ihn und für alle Menschen im Gazastreifen spricht. Stattdessen rufen die Menschen „From the river to the sea, Palestine will be free“. Sie wollen damit sagen, dass Israel verschwinden soll und mit ihm alle Israelis. Sie wollen mich töten. Ich existiere für sie als Mensch nicht. Von den Überlebenden des Holocaust hat auch niemand verlangt, dass sie Empathie für die SS-Wachen empfinden sollen. Wir sind in derselben Situation.
Ich werde nicht aufhören, an die Begegnung der Menschen zu glauben
ijab.de: Gibt es eine wichtige Botschaft, die du für unsere Leser*innen hast, etwas das du noch sagen möchtest?
Tal Madar: Ja, ich habe zwei wichtige Botschaften. Die eine ist: Es tut gut, dass Deutschland an unserer Seite steht. Das ist mir sogar wichtiger als die Unterstützung der USA – auch wenn ich nicht genau erklären kann, warum das so ist. Die deutsche Regierung hat sich sehr klar verhalten. Die zweite Botschaft ist: Deutschland hat sich seiner Vergangenheit gestellt, sich selbst mit den Dämonen der Vergangenheit konfrontiert und tut das auch weiterhin. Das ist etwas, das mir Hoffnung macht. Ich war bei der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den Ghettoaufstand vor 80 Jahren in Warschau. Drei Präsidenten haben dort gesprochen: der polnische, der israelische und der deutsche. Es hat 80 Jahre des Heilens gebraucht, aber heute sind wir Freunde. Ich werde deshalb nicht aufhören an Bildung und die Begegnung von Menschen zu glauben und hoffe, dass wir weiterhin die Kraft dazu finden.
ijab.de: Ich danke dir! Meine ukrainischen Freunde wünschen sich beim Abschied einen sicheren und friedlichen Himmel. Das wünsche ich dir auch.
Tal Madar: Danke! Bei uns sagt man: Wir warten auf gute Nachrichten, nur auf gute Nachrichten!
Dieses Interview ist in Zusammenarbeit mit ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch entstanden.