Giorgi Kikalishvili  Giorgi Kikalishvili
Giorgi Kikalishvili
Demokratie und Menschenrechte

„Wir tun alles mit und für junge Menschen“

Interview mit Giorgi Kikalishvili zur Situation in Georgien

Seit mehreren Wochen kommt es in Georgien zu Demonstrationen gegen ein umstrittenes Gesetz gegen Nichtregierungsorganisationen, die Gelder zur Finanzierung ihrer Aktivitäten aus dem Ausland erhalten. Unter den Demonstrant*innen sind viele junge Menschen, die ihren Protest selbstständig organisieren. Sie wollen für ihre Zukunft und die Demokratie ihres Landes eintreten. Robert Helm-Pleuger, Geschäftsbereichsleiter bei IJAB, sprach mit Giorgi Kikalishvili, Leiter der Jugendorganisation DRONI in Georgien, über die aktuelle Situation und die Proteste junger Menschen in Georgien. Giorgi Kikalishvili beschreibt aus seiner Sicht die aktuelle Stimmung in Georgien und spricht über die Arbeit seiner Organisation.

29.05.2024 / Robert Helm-Pleuger

IJAB: Herr Kikalishvili, können Sie uns kurz erläutern, wo Sie arbeiten und wie Ihre Arbeit in Georgien genau aussieht?

Giorgi Kikalishvili: Ich vertrete die Jugendorganisation DRONI. Mein gesamtes Arbeitsleben habe ich im Jugendbereich für Nichtregierungsorganisationen in Georgien gearbeitet. Seit 2017 arbeiten wir mit dem EU-Förderprogramm Erasmus+ als Infozentrum und Einsatzstelle des Europäischen Solidaritätskorps in Georgien. Unser Auftrag besteht darin, das Programm bei jungen Menschen und verschiedenen Interessengruppen, einschließlich staatlichen Institutionen und lokalen Kommunen, bekannter zu machen. Unser Interesse liegt in der Stärkung unserer Organisation durch die Teilnahme an diesem Programm, denn es ist eine großartige Chance für uns und für die Jugendlichen.

IJAB: Sie arbeiten von Tbilissi in Georgien aus?

Giorgi Kikalishvili: Ja, wir arbeiten in Tbilissi, aber wir haben Programme und Projekte im ganzen Land. Wir besuchen ländliche Gebiete, Kleinstädte und Dörfer in ganz Georgien.

IJAB: Um eine klarere Vorstellung zu bekommen: Mit wie vielen jungen Menschen arbeiten Sie derzeit zusammen?

Giorgi Kikalishvili: Wir haben mehr als 200 aktive Mitglieder in unserer Organisation, die sich für die Förderung der lokalen Jugendgemeinschaft engagieren. Wir nehmen auch internationale Freiwillige auf. Im Moment haben wir zehn Freiwillige, die meisten von ihnen kommen übrigens aus Deutschland. Sie arbeiten im Bereich der Jugendarbeit, jedoch in einem Umfeld, in dem sie verschiedene Bildungsaktivitäten durchführen. Sie leisten hervorragende Arbeit. Dank ihnen ist es uns gelungen, die lokale Jugendarbeit weiterzuentwickeln. Davor hatten wir nicht viel Erfahrung damit, wie wir junge Menschen erreichen, wie wir sie auf uns aufmerksam machen und in unsere Aktivitäten einbeziehen können.

IJAB: Und die Freiwilligen arbeiten mit den Jugendlichen auf lokaler Ebene?

Giorgi Kikalishvili: Sie arbeiten mit ihnen in den Jugendorganisationen auf allen Ebenen zusammen, zum Beispiel in Dörfern und Stadtteilen.

IJAB: Können Sie uns ein Beispiel benennen, welche Art von Projekten Sie organisieren, und welche Art von Aktivitäten Sie mit den jugendlichen Teilnehmenden durchführen?

Giorgi Kikalishvili: Die Philosophie unserer Arbeit ist, dass wir alles, was wir tun, für und mit jungen Menschen tun. Daher haben wir sehr unterschiedliche Schwerpunkte. Wenn sich zum Beispiel junge Leute für Musik interessieren, versuchen wir, ein Musikprojekt durchzuführen. Wir entwickeln beispielsweise auch Projekte zur Menschenrechtsbildung und testen immer, welche Aktivitäten Jugendliche aus Georgien ansprechen und welche für sie sinnvoll sind.

Derzeit haben wir ein Projekt zur sektorübergreifenden Zusammenarbeit, das darauf abzielt, die Beteiligung junger Menschen im weiteren politischen Sinne auf lokaler Ebene zu verbessern. Gleichzeitig gibt es Meinungen, die es als schwierig ansehen, solche Beteiligungsprozesse durchzuführen. Aber ich denke, das ist unsere Stärke und unser Vorteil.

Zusätzlich bieten wir Outdoor-Angebote an. Wir produzieren von Jugendlichen erstellte Karten, die kostenlos verteilt werden. Zum Beispiel gab es ein Projekt, bei dem Jugendliche Orte markierten, an denen sich junge Leute aus der Gegend aufhalten.

Wir lieben, was wir tun, weil es sehr kreativ und nie gleich ist. Und wir versuchen stets, auf die Bedürfnisse junger Menschen einzugehen.

IJAB: In den letzten Tagen haben wir viel von der kritischen Lage in Georgien gehört. Können Sie uns erläutern, was derzeit in Ihrem Land wirklich vor sich geht?

Giorgi Kikalishvili: Viele junge Menschen setzen sich in diesen Tagen für den Schutz ihrer Zukunft ein, die ihrer Meinung nach aufgrund ihrer Verbindungen nach Europa gefährdet ist. Wir alle spürten und spüren die Gefahr, dass unser Bestreben, Teil Europas zu werden, gefährdet ist. Und wir erleben jetzt den Moment, in dem viele junge Menschen aufstehen und sich organisieren. Für die Regierung ist es sehr schwierig, gegen die jungen Leute vorzugehen, zum einen wegen der enormen Anzahl der jungen Menschen, zum anderen wegen der Menge an Organisationen und Anführer*innen, die sich gegen die Regierung stellen.

Trotz der vielen Hürden, die die Protestierenden überwinden mussten, werden diese Gegenstimmen nicht verstummen oder irgendwie zerstört werden. Es geht nicht nur um das Transparenzgesetz oder eine Kampagne gegen NGOs – wir stehen vor dem Moment, in dem unsere Demokratie und unsere Freiheit bedroht sind, und das haben die jungen Menschen gespürt. Und ich bin sehr stolz auf die Jugendlichen, denn alles, was wir in den Bereichen Jugendbeteiligung und Jugendengagement umgesetzt haben, ist das, was wir gerade praktisch auf der Straße sehen. So sehen Jugendengagement und Jugendstimmen wirklich aus. Sie sind kreativ. Sie sind mutig. Und sie nutzen alle Werkzeuge, die wir ihnen nahegebracht haben, wie die digitalen Werkzeuge, die gewaltfreien Aktionen und die Friedensbemühungen. Sie machen es jetzt in der Praxis. Und natürlich ist es schön, den Protest zu sehen und zu beobachten, aber es ist offensichtlich, dass die Demokratie in Georgien in Gefahr ist. Für uns ist Europa nicht nur die Europäische Union, sondern ein gesellschaftlicher Wert. Und ja, wir werden unser Bestes tun, um diese europäischen Werte in unserem Land zu schützen.

IJAB: Es geht also nicht nur darum, dass einige Gesetze von der Regierung erlassen werden. Habe ich es richtig verstanden, dass es mehr um das Gesamtgefühl geht?

Giorgi Kikalishvili: Es ist jenseits davon. Es ist definitiv kein Gesetz, weil es absurd ist. Der Staat kann notwendige Dokumente ohnehin jederzeit prüfen und anfordern, um Organisationen zu überprüfen. Der Staat kann die Finanzen einer Organisation oder deren Aktivitäten überprüfen, auch ohne ein gesondertes Gesetz. Damit hat es nichts zu tun. Wir sehen, dass die Zivilgesellschaft in Gefahr ist. Sie wollen den Geist der Zivilgesellschaft zerstören. Und zum Glück sind wir stark genug, nicht aufzugeben.

IJAB: Sie meinen also, dass es in Ihrem Land nicht nur junge Menschen gibt, die gegen diese Situationen kämpfen oder aktiv sind. Es ist die ganze Gesellschaft?

Giorgi Kikalishvili: Natürlich ist es die ganze Gesellschaft. Aber das Interessante an der Situation gerade ist, dass die jungen Leute die Führung übernommen haben. Sie bestimmen, wo sie stehen, was sie tun und wie sie protestieren. Manchmal blockieren sie die Straßen. Und das liegt in ihren Händen, aber natürlich stehen ihnen viele (Oppositions-) Politiker*innen, andere politische Parteien, die Jugendorganisationen oder alle Arten von Organisationen zur Seite. Auch die Protestorganisation selbst besteht aus jungen Leuten. Und deshalb ist es einzigartig. Es liegt alles an ihren Ideen. Sie werden nicht müde und glauben an ihre Ideen. Dabei geht es nicht nur darum, sich gegenseitig zum Handeln aufzurufen, sondern auch um Engagement, z.B. um die Versorgung mit Regenschutz, Wasser und Essen oder darum aktiv Spenden zu sammeln. Es ist der gesamte Prozess der Selbstorganisation. Es funktioniert großartig und ich bin wirklich stolz darauf. Und ja, die EU-Programme spielten eine große Rolle in der Entwicklung der Zivilgesellschaft in Georgien, besonders die Programme Erasmus+ und das Europäische Solidaritätskorps. Dafür bin ich sehr dankbar. Wir sind diejenigen, die von diesen Programmen profitieren und dennoch keinen finanziellen Beitrag dazu leisten müssen. Aber ich kann mit Stolz sagen, dass die ganze Idee, die hinter diesen Programmen steckt, in Georgien wirklich funktioniert. Solidarität, Demokratie, Freiheit, Gleichheit – all das zeigt dieser Protest. Und es ist ein unglaubliches Gefühl.

IJAB: Sie sagten, dass die Hauptaktivitäten, die derzeit stattfinden, beispielsweise die Straßenblockaden sind. Können Sie uns weitere Protestbeispiele nennen, was die Menschen tun?

Giorgi Kikalishvili: Der Kampf findet überall statt.

IJAB: Aber ist es friedlich?

Giorgi Kikalishvili: Friedlich, natürlich gewaltlos. Es ist so, dass sie andere Dinge tun, etwa in den sozialen Medien, verschiedene Memes, Videos und Kommentare auf TikTok, die Teil einer Sensibilisierungskampagne sind. Darüber hinaus gibt es auch Unterstützungsversammlungen, die sich nicht nur gegen die Regierung richten, sondern an das Staatsoberhaupt, Präsidentin Salome Zurabischwili richten, um ihr zu danken, denn wir sehen, dass die Präsidentin klar auf der Seite des Volkes, der Zivilgesellschaft steht. Es passiert wirklich einiges im Jugendbereich. Manchmal spielen Jugendliche während dieser Zusammenkünfte oder sie tanzen auf der Straße, was ihren Willen zeigt, auf friedliche Weise in jugendlichem Geist zu Wort zu kommen. Es ist sehr emotional, dies zu sehen und ein Teil davon zu sein. In diesem Moment, nach der Verabschiedung des Gesetzes über „ausländische Agenten“ durch die Regierungsmehrheit im Parlament, sind keine konkreten Widerstandspläne sichtbar, sondern die jungen Organisatoren – von denen niemand genau weiß, wer sie sind, da diese nicht vordergründig sichtbar sind und auch immer wieder wechseln – arbeiten daran. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass sie nicht aufhören werden. Es handelt sich hauptsächlich um Universitätsstudent*innen, die gemeinsam mit ihren Lehrer*innen protestieren. Viele Lehrer*innen halten den Unterricht auch auf der Straße ab, auch um den Unterricht der Studierenden nicht zu unterbrechen. Boykott ist eine Sache, Bildung eine andere. Es funktioniert also parallel. Und nicht nur Student*innen, sondern auch Schüler*innen beginnen sich zu organisieren, was in Begleitung von Kindern oft ein Garant für einen friedlichen Protest ist. Leider gibt es auch einige Fälle von Brutalität und Gewalt seitens der Polizei. Aber im Vergleich zu der Menge an Menschen, die auf der Straße ist, kommt das nicht allzu oft vor.

IJAB: Sie haben uns bereits etwas über die Reaktion der Präsidentin erzählt. Welche weiteren Reaktionen gibt es von staatlicher bzw. führender Seite?

Giorgi Kikalishvili: Es gibt Reaktionen vom Ombudsmann, von der Präsidentin und von Politiker*innen der Opposition. Es gab aber auch einige Signale von Teilen der Regierung, die keine Notwendigkeit sehen, das neue Gesetz umzusetzen. Ich möchte sie nicht beim Namen nennen, aber es passiert. Was ich jedoch betonen möchte, ist, dass eine breite Unterstützung aus dem Land gegeben ist und diese sehr hilfreich ist. Es ist unsere Pflicht, uns zu äußern und zu protestieren. Andererseits sind wir auch auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen, auf die Unterstützung unserer Freunde, die uns moralisch unterstützen. Das bedeutet uns sehr viel und das ist es, was die jungen Menschen brauchen. Denn manchmal werden wir müde, wenn wir tage- und wochenlang ununterbrochen protestieren. Aber wenn die Jugendlichen dann sehen, dass Politiker*innen und Aktivist*innen aus anderen Ländern an ihrer Seite stehen, tanken sie neue Energie auf und sie fangen mit noch mehr Enthusiasmus wieder an. Es ist sehr wichtig, dass unsere ausländischen Freund*innen an unserer Seite stehen, aber nicht nur, indem sie sagen, dass es gut ist oder darüber nachdenken. Schreiben Sie stattdessen bitte darüber, nutzen Sie soziale Medien, informieren Sie über unsere Lage, dokumentieren Sie es. Denn es gibt so viele schöne Momente, die niemanden ohne Emotionen zurücklassen können. Wir würden uns über die Unterstützung unserer Partner und Freunde aus der gesamten EU sehr freuen.

IJAB: Was sind Ihre Hoffnungen? Was würden Sie sich für das nächste Jahr in Ihrem Land wünschen?

Giorgi Kikalishvili: Wir erleben jetzt, wie sich Georgien endlich zu einem demokratischen Staat formiert. Freiheit und Demokratie werden siegen. Daran möchte ich glauben, und ich glaube wirklich an einen Staat, der auf diesen Werten basiert. Ich sehe keinen anderen Weg oder eine andere Wahl. Also ja, ich denke, dass dieser Konflikt wirklich dazu beitragen wird, das ganze Land zu verändern, um unser Land wirklich demokratisch und stabil zu machen. Nichts wird unser Land gefährden, das ist unsere Zukunft.

IJAB: Vielen Dank.

Giorgi Kikalishvili: Danke.

Das Interview wurde von Robert Helm-Pleuger mit Giorgi Kikalishvili auf der European Academy on Youth Work geführt. Diese fand Mitte Mai 2024 in Slowenien statt.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.