Eine Gruppe junger Menschen mit Fahnen und Plakaten Eine Gruppe junger Menschen mit Fahnen und Plakaten
Gruppe junger Shomrim (Mitglieder des israelischen Jugendverbands HaShomer HaTzair) in Haifa bei einer Demonstration für die Rückkehr der seit dem 7.10.2023 Entführten
Demokratie und Menschenrechte

„Wir müssen eine klare Sprache finden“

Der deutsch-israelische Austausch nach den Morden der Hamas

ConAct ist das Koordinierungszentrum für den deutsch-israelischen Jugend- und Fachkräfteaustausch. Nach den Massakern und Entführungen der Hamas am 7. Oktober 2023 sind die Kolleg*innen von ConAct tief betroffen und stehen in engem Kontakt zu den Freund*innen und Kolleg*innen der Jugendarbeit in Israel. Die Redaktion von ijab.de hat mit Cyra Sommer und Niclas Cares darüber gesprochen, was jetzt getan werden kann und wie Jugendarbeit mit Antisemitismus umgehen muss.

14.11.2023 / Christian Herrmann

ijab.de: Cyra, Niclas, wie geht es euren Partnern in Israel?

Niclas Cares: Wie alle anderen Menschen im Süden und im Zentrum Israels wurden unsere Partner am Morgen des 7. Oktober von Sirenen geweckt, es gab Luftalarm. Was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, war, dass zur gleichen Zeit tausende Terroristen nach Israel eindrangen und anfingen, wahllos Menschen umzubringen. Innerhalb weniger Stunden wurden etwa 1.200 Menschen ermordet und 240 entführt. Ein solches Massaker war bis dahin in Israel unvorstellbar und der Schock sitzt bei allen tief. Israel ist ein kleines Land, jeder Haushalt, jede Familie ist betroffen. Alle haben Opfer in der eigenen Familie, im Freundeskreis oder kennen jemanden, der in seiner Familie einen Menschen verloren hat. Das betrifft auch die Freund*innen und Kolleg*innen, die im deutsch-israelischen Austausch aktiv sind. Etliche junge Menschen sind unter den Opfern der Terrorangriffe, zum Beispiel die 260, die auf einem Rave ermordet wurden. Der Bereich der Jugendarbeit in Israel ist durch diese Verluste sehr direkt getroffen; auch Leiter*innen und ehemalige Teilnehmende deutsch-israelischer Austauschprogramme sind unter den Getöteten. Viele – hauptsächlich junge Menschen – wurden für die Armee mobilisiert. Die Jugendverbände haben ihre Arbeit umgestellt. Sie sammeln Spenden, kümmern sich um junge Menschen in den Bunkern und Schutzräumen, unterstützen die Evakuierten – etwa 250.000 Menschen mussten ihre Heimat an der Grenze zum Gazastreifen und der Nordgrenze zum Libanon verlassen. Sie tun das trotz der eigenen Betroffenheit und unter andauerndem Beschuss.

ijab.de: Steht ihr täglich in Kontakt?

Niclas Cares: Nicht mit jedem einzelnen Partner täglich, aber doch sehr regelmäßig. Es kommt auch darauf an, welche Kapazitäten unsere Kolleg*innen in Israel gerade haben. Wir versuchen wöchentlich, ein Gesprächsangebot für die im Austausch aktiven Fachkräfte aus Deutschland mit Stimmen aus Israel zu ermöglichen.

Wir teilen die Trauer und Verzweiflung der Menschen in Israel

ijab.de: Was macht das mit euch? Ihr seid ja näher am Geschehen dran als andere, die es nur in den Medien verfolgen.

Niclas Cares: Natürlich sind wir alle bei ConAct mit Israel auch auf einer persönlichen Ebene sehr verbunden. Wir haben dort Freund*innen, Kolleg*innen und einige auch Familienangehörige. Entsprechend tief sitzen der Schock und die Fassungslosigkeit. Wir informieren uns bei unseren Partnern vor Ort und untereinander. Wir teilen die Trauer und Verzweiflung der Menschen in Israel. Für unsere Freund*innen und Kolleg*innen ist es jetzt wichtig, dass wir die Kontakte halten, dass sie wissen, dass wir an sie denken und ihnen beistehen.

ijab.de: Was bedeutet die gegenwärtige Situation für den deutsch-israelischen Jugend- und Fachkräfteaustausch? Was bedeutet sie für eure Arbeit?

Niclas Cares: Erstmal sind wir erleichtert, dass die vier Jugendgruppen, die zum Zeitpunkt des Angriffs in Israel unterwegs waren, alle heil zurückgekommen sind. Und umgekehrt hatten wir ja hier israelische Jugendliche, die schnell wieder zu ihren Familien wollten. Auch sie sind wieder zu Hause. Natürlich bekommen wir jetzt viele Anfragen deutscher Träger. Sie wollen die Situation einschätzen können und fragen auch nach Möglichkeiten zur Umplanung und Stornierung bereits gebuchter Reisen. Wir versuchen zu helfen, wo immer es geht. Die israelischen Jugendorganisationen benötigen für ihre Aktivitäten finanzielle Mittel. Wir haben deshalb eine Sammlung von Spendenaufrufen veröffentlicht. Wir arbeiten auch an einer Erinnerungswand für die getöteten Menschen aus der Familie des deutsch-israelischen Jugendaustauschs. Mit allen unseren Partnern führen wir Online-Gesprächsrunden. Klar ist: Freundschaften sind gerade in Krisenzeiten wichtig. Die deutschen Partnerorganisationen im Austausch sind heute gefragt, sichtbar zu sein und zu unterstützen. Deshalb arbeiten wir aktuell an verschiedenen Aktionen, die in den kommenden Wochen realisiert werden sollen und ermutigen Jugendorganisationen, selbst aktiv zu werden.

Wir brauchen eine langfristige Präventionsarbeit gegen Antisemitismus

ijab.de: In den letzten Tagen und Wochen haben wir in Deutschland Demonstrationen gesehen, in denen der Terror der Hamas bejubelt wurde. Das ist die Spitze des Eisbergs und ein Fall für Polizei und Staatsanwaltschaft. Von den meisten Menschen wird das nicht gutgeheißen, aber auch in der Mehrheitsgesellschaft ist die Vorstellung weit verbreitet, Israel sei „irgendwie selbst schuld“ an den Massakern. Wie können wir in der Jugendarbeit dagegenhalten?

Cyra Sommer: Im ConAct-Projekt „Sichtbar Handeln! Gegen Antisemitismus.“ qualifizieren wir Fachkräfte der Jugend- und Bildungsarbeit zum Umgang mit Antisemitismus in ihrem Arbeitsfeld. Im Moment bekommen wir unglaublich viele Anfragen, weil infolge der aktuellen Ereignisse antisemitische Aussagen zugenommen haben und sich viele Kolleg*innen in der Jugendarbeit überfordert fühlen. Hier geben wir Hilfestellungen und schaffen Weiterbildungsangebote. Dass Israel irgendwie selbst schuld sei, ist tatsächlich etwas, das man häufig hört. Ich glaube, dass wir im Gespräch mit jungen Menschen eine klare Sprache finden müssen. Die Hamas ist eine radikal-islamische Terrororganisation mit einem offen antisemitischen Programm. Was sie tut, tut sie nicht für die Palästinenser*innen – die sind ihr egal. Ihr Ziel ist die Vernichtung Israels und aller Jüdinnen und Juden weltweit. An ihren Massakern ist das deutlich ablesbar. Den Terroristen ist es völlig gleich, ob sie Friedensaktivist*innen oder Soldat*innen töten. Sie ermordeten bei den Angriffen auch arabische Israelis. Letztlich richtet sich der islamistische Terror gegen liberale Wertevorstellungen und eine offene, demokratische Gesellschaft. Das muss man begreifen und benennen – auch und vor allem im Gespräch mit jungen Menschen –, denn das hat dann auch etwas mit uns hier in Deutschland zu tun. Zweitens ist wichtig: Antisemitismus hat nie etwas mit dem Handeln von Jüdinnen und Juden zu tun, sondern er erfüllt unabhängig davon eine Funktion für diejenigen, die antisemitisch denken und handeln.

Im Augenblick, wo die Emotionen unglaublich hochgepuscht sind, ist es natürlich schwer, nur sachlich zu argumentieren. Vielmehr müssen Räume geschaffen werden, in denen Jugendliche über die Geschehnisse und die eigenen Emotionen offen sprechen können. Dabei dürfen Betroffene von Antisemitismus nicht aus dem Blick geraten, die in solchen Räumen geschützt sein müssen. Die jetzige Situation macht wieder deutlich, wie wichtig eine langfristige und nachhaltige Präventionsarbeit gegen Antisemitismus ist. Dabei muss es auch darum gehen, jungen Menschen Wissen über Israel und seine Geschichte, über die vielfältige Gesellschaft, auch über die komplexe Geschichte des Nahostkonflikts mitzugeben und Perspektivwechsel zu schaffen. Doch in diesem Moment muss man eigentlich gar nicht viel über den Konflikt wissen, um deutlich zu machen, dass Israel überfallen wurde und unschuldige Zivilist*innen in großer Zahl ermordet wurden. Daran darf es keinen Zweifel geben.

Dieses Interview ist in Zusammenarbeit mit ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch entstanden.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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