Tobias Flessenkemper Tobias Flessenkemper
Tobias Flessenkemper
Demokratie und Menschenrechte

„Was sind wir, was wollen wir sein?“

Ein Gespräch zur Jugendpolitik des Europarats

Tobias Flessenkemper ist der neue Abteilungsleiter für Jugend im Direktorat Demokratie des Europarats in Straßburg. Der gesamte Europarat und die Politik der 46 Mitgliedsstaaten sollen in Zukunft eine „Jugendperspektive“ beinhalten. Was damit gemeint ist, wie sich Russlands Angriff auf die Ukraine und der Krieg im Nahen Osten auf die Jugendpolitik auswirken und warum er sich mehr multilaterales Denken wünscht, hat Tobias Flessenkemper der Redaktion von ijab.de im Interview erklärt.

11.01.2024 / Christian Herrmann

ijab.de: Herr Flessenkemper, was sind die jugendpolitischen Vorhaben des Europarats in den nächsten Jahren?

Tobias Flessenkemper: Demokratie und die Partizipation junger Menschen bleiben wesentliche Aufgaben. Seit dem Treffen der Staats- und Regierungschefs in Reykjavik im Frühjahr 2023 ist etwas hinzugekommen, das wir Jugendperspektive nennen. Kein Politikfeld sollte ohne diese Jugendperspektive auskommen. Das soll auch dazu beitragen, unter den neuen Rahmenbedingungen eines Europarats ohne Russland, die Demokratie zukunftsfest zu machen und Demokratieabbau zu verhindern.

ijab.de: Ist damit die Perspektive junger Menschen als Querschnittsaufgabe gemeint?

Tobias Flessenkemper: In Deutschland spricht man gerne von Querschnittsaufgaben. Wir streben mit der Jugendperspektive etwas Weitergehendes an. Wir haben zum Beispiel die Venedig-Kommission, die Staaten verfassungsrechtlich berät. In ihren Gutachten spielt die Perspektive junger Menschen allzu oft kaum eine Rolle. Wir sind im Gespräch darüber, wie das geändert werden könnte, denn Rechtsrahmen haben eine große Wirkung auf das Leben junger Menschen, zum Beispiel, wenn es darum geht, wie sie gehört werden und mitentscheiden können. Wir haben große Zukunftsthemen wie Künstliche Intelligenz oder Bioethik, bei denen ich mir zum Beispiel gemeinsame Expertisen vorstellen kann, aber das muss über unser bisheriges Verständnis von Partizipation hinausgehen. Bei Partizipation geht es immer um Entscheidungen hier und jetzt – auch wenn die Beteiligten nach ein paar Jahren vielleicht einen ganz anderen Standpunkt einnehmen oder eine neue Generation Dinge möglicherweise anders bewertet. Denn wir müssen die demografische Lage im Blick haben. Sie bedeutet, dass junge Menschen strukturell keinen großen Anteil an der Wahlbevölkerung in Europa stellen. Die Politik hat also weniger Antrieb ihre Interessen ernst zu nehmen. Wir sehen dieser Tage wie unterschiedlich die Politik in Deutschland zum Beispiel auf die Proteste reagiert, die die Umsetzung internationalen Klimarechts einfordern, vor allem von jungen Menschen. Auf der anderen Seite werden vergleichbare Protestformen von Interessengruppen, die ihre staatlichen Beihilfen sichern wollen, von der Politik ganz anders behandelt. Wir brauchen also neue politische Ansätze, die eine dauerhafte Auseinandersetzung mit den Themen der jungen Generationen fördern und zu nachhaltigerem Handeln führen. Dies wird die repräsentative Demokratie stärken, denn sie bleibt das Fundament eines freien Europas. Dafür müssen wir Standards entwickeln, einen Referenzrahmen, wie wir ihn beispielsweise schon für die schulische und politische Bildung haben.

„Wir müssen in unserer Friedensarbeit immer wieder aufzeigen, dass Frieden nicht einfach da ist.“

ijab.de: Sie haben schon die veränderten politischen Rahmenbedingungen durch den Ausschluss Russlands aus dem Europarat angesprochen. Welche Auswirkungen hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auf die Jugendpolitik des Europarats und was sind die Auswirkungen des Krieges im Nahen Osten?

Tobias Flessenkemper: Der russische Angriffskrieg hat ganz direkte Auswirkungen auf den Europarat, denn die Ukraine ist einer unserer Mitgliedsstaaten. Junge Menschen sind direkt vom Krieg betroffen. Sie sind die Bevölkerungsgruppe, die heute und in Zukunft die enormen Lasten zu tragen hat, z.B. als Soldatinnen* oder als Vertriebene und Geflüchtete. Es ist wichtig, dass wir zu Beginn des 3. Kriegsjahrs das Ziel nicht aus dem Blick verlieren, dass die gesamte Ukraine befreit werden muss. Was dann folgt, ist aber nicht einfacher. Der Wiederaufbau muss mit den jungen Leuten schon heute gestaltet werden. Was dabei verpasst werden kann, sehen wir heute, 25 Jahre nach Kriegsende, mit Sorge in der Westbalkanregion. Aber auch für die jungen Menschen, die nicht unmittelbar vom Krieg betroffen sind, ist vieles ins Wanken geraten. Viele sind in einer Zeit sozialisiert worden, in der es keine Konflikte gab, ein friedliches Europa gebaut wurde und das alles sehr selbstverständlich schien. Jetzt spüren sie die Fragilität unserer Ordnung und das hat einen prägenden Einfluss auf sie. Wir merken das auch im Programm, dessen Schwerpunkte ja durch die Mitentscheidungsgremien der Jugendorganisationen beschlossen werden und das die aktuellen Entwicklungen widerspiegelt. Frieden, Demokratie und Menschenrechte sind Kernaufgaben des Europarats. Wir müssen in unserer Friedensarbeit immer wieder aufzeigen, dass Frieden nicht einfach da ist. Er beruht auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Staaten Europas und wir müssen junge Menschen dazu befähigen, daran mitzuwirken.

Der Krieg im Nahen Osten berührt das weite Feld „Europa und seine Nachbarn“, die Nord-Süd-Beziehungen, unsere Mittelmeer-Beziehungen, die Folgen des Kolonialismus, den Anteil der europäischen Geschichte am Zustand der Welt. Das ist alles sehr kompliziert und berührt auch die Themen Umwelt und Klima. Die Themen Frieden, soziale Gerechtigkeit, Klima und Europa und die Welt werden lange auf der Agenda bleiben. Der Krieg im Nahen Osten geht uns also etwas an und hat Auswirkungen auf uns.

„Mit Verteilung allein kann man Europa nicht bauen.“

ijab.de: Haben Sie sich für Ihr neues Amt als Abteilungsleiter für Jugend im Direktorat Demokratie etwas Besonderes vorgenommen? Haben Sie so etwas wie eine persönliche Agenda von Dingen, die sie erreichen möchten?

Tobias Flessenkemper: Wir tun ja nie etwas allein, sondern stets mit den Vertreterinnen* der Jugendorganisationen und Mitgliedsstaaten. Insofern geht es nicht um eine persönliche Agenda. Aber ich möchte schon, dass wir jetzt den Schwung des Gipfels von Reykjavik in unsere Arbeit mitnehmen. Es wäre ein gutes Ergebnis, wenn die 10. Jugendministerkonferenz des Europarats, die hoffentlich Ende 2025 stattfinden kann, den Standard zur Jugendperspektive beschließt. Es wird mal wieder Zeit für ein solches Treffen, das letzte fand 2012 statt. Wir müssen außerdem wieder in den Mitgliedsstaaten präsenter werden, zum Beispiel durch Trainings für Jugendleiterinnen*, bei denen wir auch die Werte des Europarats vermitteln. Vor dieser Aufgabe habe ich das Europaratsbüro in Belgrad geleitet. Irgendwann haben wir festgestellt, dass wir 8 Jahre lang keine Trainings mehr für Jugendleiterinnen* angeboten haben. Das heißt nicht, dass es in Serbien keine Trainings gegeben hätte, aber die einmalige Weise, in der wir als Europarat demokratische Werte vermitteln, war zu wenig präsent. Unsere wertebezogene Jugendarbeit muss also wieder sichtbarer werden. Wir brauchen ein Roll-out in die Fläche. Außerdem möchte ich an den Sanierungsstau unserer Jugendzentren in Straßburg und Budapest ran, damit sie auch in Zukunft als Begegnungsstätten junger Menschen aus Europa und der Welt funktionieren können.

ijab.de: Sie haben IJAB und JUGEND für Europa besucht. Haben Sie bestimmte Erwartungen oder Hoffnungen mit diesem Besuch verbunden?

Tobias Flessenkemper: Deutschland hat beeindruckende Strukturen im Jugendbereich, aber ich wünsche mir manchmal, dass die Dinge multilateraler gedacht würden. Aufgrund seines großen Erfolges für die deutsch-französischen Beziehungen gilt das Deutsch-Französische Jugendwerk als Blaupause für immer neue Jugendwerke und die deutsche Politik neigt dazu, gute Beziehungen bilateral zu denken. Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Ein Land wie Nordmazedonien, mit seinen komplexen historischen und gegenwärtigen Verflechtungen, kann nur multilateral an der europäischen Einheit mitwirken. Daher bieten wir einen größeren, integrativeren Diskussionsrahmen an. Denn Jugendpartizipation auf europäische Ebene heißt zu fragen: Was sind wir und was wollen wir sein? Die EU muss allzu oft als Verteilungsinstitution agieren. Aber mit Verteilung allein kann man Europa nicht bauen. Wir feiern in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz und 75 Jahre Europarat. Es war der Europarat, der es Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals ermöglichte, wieder Teil eines größeren Ganzen zu sein und sich in Europa zu integrieren. Das ist eine gute Gelegenheit neu nachzudenken, wie wir integrativer sein und Teilhabe ermöglichen können. Was sind wir, was wollen wir sein?

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.

Eine junge Frau spricht in ein Megafon, andere hören ihr zu.
Über Jugendbeteiligung

Jugendliche sollen ihre Meinung äußern und bei politischen oder gesellschaftlichen Entscheidungen, die ihr Lebensumfeld betreffen, mitbestimmen dürfen.