Ein junger Mann spielt Klavier Ein junger Mann spielt Klavier
Kyrylo
Demokratie und Menschenrechte

Optimistischer Realismus

Wie ein 19-Jähriger den Krieg gegen die Ukraine erlebt

Kyrylo ist 19 Jahre alt und stammt aus Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk. Während des Angriffs russischer Truppen auf seine Heimatstadt hat er Tagebuch geführt. „Ich wollte eine Nachricht hinterlassen“, sagt er. Heute lebt er in Bila Zerkwa in der Zentralukraine und bietet im örtlichen Jugendzentrum Musik-Workshops an. Die Redaktion von ijab.de hat mit ihm gesprochen und veröffentlicht Teile seines Kriegstagebuchs.

02.11.2022 / Christian Herrmann

ijab.de: Kyrylo, wie war dein Leben vor dem Krieg?

Kyrylo: Ein ziemlich normales Leben, würde ich sagen. Ich habe studiert, habe mit meiner Familie – meiner Mutter und meinen beiden Brüdern – zusammengelebt und in meiner Freizeit mit meiner Band Musik gemacht.

ijab.de: Dein Tagebuch beginnt am 4. Tag der aktiven Phase des Krieges. Offenbar sind die russischen Truppen zu diesem Zeitpunkt sehr schnell vorangekommen.

Kyrylo: Zu diesem Zeitpunkt waren sie noch nicht in der Stadt, aber die Front war zu hören. Wir haben die ganze Zeit Nachrichten gelesen und uns Messages hin und her geschickt, um zu erfahren, wie die Situation ist. Meine Stadt ist Teil eine Städtedreiecks – Sjewjerodonezk, Rubischne und Lysytschansk. Ich dachte, die Russen würden von Osten vorrücken, aber tatsächlich sind sie dann von Norden her gekommen und haben zuerst Rubischne eingenommen. Schon am Anfang war die Elektrizität abgestellt worden, um die Städte nachts zu verdunkeln. Eine Mine hat dann eine Gasleitung getroffen. Wir hatten also kein Licht und keine Heizung mehr.

ijab.de: Was hat dich dazu gebracht, Tagebuch zu schreiben?

Kyrylo: Ich habe einen Zwillingsbruder, der 10 Minuten älter ist als ich. Er lebt aber nicht mit unserer Familie sondern mit seiner Freundin. An ihn habe ich beim Schreiben oft gedacht und habe mich dann entschlossen Tagebuch zu schreiben. Außerdem war mir klar, dass wir nicht weg können, noch nicht mal in den Luftschutzkeller. Mein Großvater hatte Krebs und war bettlägerig. Bei Angriffen waren wir alle im Badezimmer, das war der sicherste Raum. Ohne Strom und Gas wird das Leben ziemlich kompliziert. Wir haben Brennholz geschnitten und auf dem Balkon gekocht. Das sind Dinge, die dich den ganzen Tag beschäftigen können und ich wollte etwas sinnvolles tun. Ich wollte nicht unbedingt Geschichte schreiben, das wäre zu viel gesagt, aber ich wollte wenigstens eine Nachricht hinterlassen.

ijab.de: Hat dir das Schreiben geholfen?

Kyrylo: Das ist eine interessante Frage. Ich habe nicht geschrieben, damit mir das hilft. Mein erstes Ziel war, meine Familie zu retten. Aber sicher hat mir das Schreiben geholfen, psychisch stabil zu bleiben. Außerdem konnte ich mit Textmessages nicht gleichzeitig allen meinen Freunden schreiben. Also habe ich Tagebuch geschrieben.

Ich möchte vor allem Musik machen

ijab.de: Du lebst jetzt in Bila Zerkwa, weit weg von der Front. Wie geht es dir dort?

Kyrylo: Ich bin irgendwie sehr müde, aber im allgemeinen geht es mir gut. Ich habe ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und ein Gefühl von Sicherheit obwohl es auch hier Drohnenangriffe gibt. Die Sozialdienste hier sind eine große Hilfe. Ich habe jetzt einen Kühlschrank. Früher konnte ich Lebensmittel nur in kleinen Mengen kaufen, sie kochen und dann direkt essen, damit sie nicht schlecht werden. Das ist jetzt viel besser geworden. Auch das Jugendzentrum ist eine große Hilfe und hilft mir, mich hier einzuleben. Außerdem möchte ich nicht passiv sein. Ich arbeite freiwillig im Jugendzentrum als und gebe Musik-Workshops. Das ist mein Projekt.

ijab.de: Was für Hoffnungen hast du für die Zukunft?

Kyrylo: Keine Hoffnungen, ich richte mich nach der jeweiligen Situation. Ich nenne das optimistischen Realismus und versuche die Dinge so gut wie möglich zu machen, auch dann wenn wir mal wieder keinen Strom hatten und für sauberes Wasser anstehen mussten. Ich besuche Freunde, wasche, koche. Natürlich hoffe ich, dass der Krieg so schnell wie möglich vorbei ist und dass wir Frieden bekommen. Das Leben in Bila Zerkwa gibt mir Hoffnung, manchmal fühle ich mich glücklich. Ich sah Glück in den Augen der Menschen, als ich hier ankam. Das ist anders als in meiner Heimatstadt. Die Menschen lächeln und sie machen sogar Witze, auch wenn die Situation schrecklich ist. Wir werden hier nicht permanent bombardiert. Ich hoffe, der Krieg endet bald, damit die Menschen nicht weiter leiden müssen und nicht das erleben müssen, was ich erlebt habe.

ijab.de: Hast du Pläne oder Träume für die Zeit nach dem Krieg?

Kyrylo: Ich versuche realistisch zu bleiben und erst mal mit der gegenwärtigen Situation klarzukommen. Ich möchte Musik machen und ich möchte reisen – ich war noch nie im Ausland. Ich möchte dann mit meiner Familie in Kontakt bleiben, vielleicht können sie mich ja dort besuchen, wo ich sein werde. Oder ich besuche sie. Ich möchte in meinem Bereich mehr tun und mit meiner Band im Ausland auftreten, vielleicht in Deutschland oder Tschechien. Wir hatten schon früher Kontakt zu anderen Bands, aber erst kam Covid und dann der Krieg. Ich möchte zu Ende studieren, ich bin jetzt im dritten Studienjahr. Aber vor allem möchte ich Musik machen.

Auszüge aus dem Kriegstagebuch

Kyrylos Text wurde von Susanne Klinzing übersetzt

Tag 4 (Kämpfe beginnen)
Schusswechsel, immer wieder sind Granateinschläge, Explosionen zu hören, Einschläge irgendwo hinter den Häusern.

Tag 5
Die ganze Nacht und den ganzen Tag durch immer wieder Schüsse und Explosionen zu hören, kein Internet, Gerüchte, dass in Fedorenko Einheiten in Wohnhäuser eingedrungen sind.

Tag 6
Ab dem frühen Morgen wieder Schüsse/Explosionen zu hören bis in den späten Abend hinein.

Tag 7
Nach fast zwei Tagen ohne Internet heute Nacht wieder eine Verbindung gehabt, wenn auch schlecht. Im Moment ist es ruhig, es gibt fast keine Informationen.

Heute Morgen geht der Beschuss weiter. Irgendwo in der Nähe ist ein Panzer in die Luft gesprengt worden. Eine Granate ist in den Hof geflogen, in der Nachbarwohnung sind die Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Versuchen, die Fensterscheiben bestmöglich abzudecken. Beschuss in der Nähe. Suche Zuflucht im Badezimmer. Ein bisschen Ruhe zwischendrin, dann wird wieder geschossen.

Tag 8
Am frühen Morgen ist ein Panzer zu hören. Schüsse. Gegen Mittag drei, vier große Einschläge im Hof. Irgendwas brennt im Torbogen, das Militär rennt von dort weg. Draußen schneit es wieder. Schüsse. Etwas explodiert im Hof, klingt wie Feuerwerkskörper. In der Etage unter mir haben Armeeangehörige scheinbar eine Wohnung besetzt. Schüsse bis spät in die Nacht.

Tag 9
Mitten in der Nacht wird direkt im Hof geschossen. Ganz kurz Internet gehabt, ich konnte ein paar Leuten schreiben. Schon der 3. Tag ohne Gas. Wir kochen Essen im Wasserkocher. Wieder Schüsse in der Ferne zu hören, dann auch näher. Irgendwo in der Nähe gab es eine Explosion. Den ganzen Nachmittag und Abend immer wieder Schüsse und Explosionen zu hören.

Tag 10
Bis 06.00 Uhr morgens relativ ruhig. Dann gehen die Schießereien wieder los. Am späten Vormittag fällt der Strom aus. Umspannwerk getroffen? Immer wieder Schüsse. Im Badezimmer eingeschlafen. Es gibt keinen Strom und auch kein Gas.

Tag 11
Weiterhin kein Strom. Es liegt Schnee auf der Straße. Musste den Heizkörper in der Küche entfernen. Wasser aus der Heizungsanlage abgelassen. Schüsse, immer wieder Schüsse. Habe Bretter zersägt, um ein Feuer auf dem Balkon zu machen. Suppe gekocht. Zum ersten Mal seit langer Zeit kam die Sonne heraus. Abends wird es ruhiger.

Tag 12/13
Ab dem frühen Morgen bis abends sind Schüsse zu hören.

Tag 14
Es gab wieder Beschuss, Zuflucht im Badezimmer gesucht. Es schneit immer noch stark.

Tag 15
Gestern wurden wir in eine Nachbarstadt verlegt. Auch hier gibt es genug Probleme und Dinge zu tun. Die ganze Zeit über sind Schüsse zu hören. Ich habe keine Lust mehr, weiter Notizen zu machen. Es fühlt sich an, als würde es nie enden.

Tag 16
Beschuss. Mehr als eine Stunde Anstehen in der Schlange zum Laden. Irgendwo in der Nähe waren ständig Schüsse zu hören.

Tag 17
Schüsse irgendwo in der Ferne.

Tag 18
Massiver Beschuss am frühen Morgen. Sie schießen von irgendwo auf uns.

Tag 19
Irgendwo in der Nähe wird geschossen. Gestern war es relativ ruhig, aber irgendwann am Abend waren die Schüsse von Handfeuerwaffen zu hören. Seit dem Morgen wird immer wieder in der Nähe geschossen.

Tag 20
Heute ist es relativ ruhig. Ich musste im Laden stundenlang Schlange stehen. Abends wird geschossen.

Tag 21
Die Gasleitung wurde in der Nacht getroffen. Am Abend war das Gas wieder verfügbar. Im Allgemeinen war es den ganzen Tag über ruhig.

Tag 23
Immer wieder Schüsse. Am Tag davor gab es keine nennenswerten Ereignisse. Es gibt Informationen, dass eine der Nachbarstädte eingenommen ist. Tagsüber recht aktiver Beschuss. Irgendwo im Zentrum der Stadt ist was runtergekommen.

Tag 24
Der Tag war relativ ruhig.

Tag 28
Die erste Hälfte des Tages wurde nonstop geschossen. Ich habe ein Foto von der Aussicht aus dem Fenster gemacht, ein riesiger Pilz, die Folge einer starken Explosion in einer Nachbarstadt.

Etwas explodierte ganz in der Nähe.

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Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
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