eine Gruppe demonstrierender Frauen eine Gruppe demonstrierender Frauen
Demokratie und Menschenrechte

„Nur die Frauen können die Situation ändern“

Belarus nach über 50 Tagen Protest

Junge Menschen und Frauen sind ein wesentlicher Teil der Bewegung gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus. Trotz zunehmender Repression dauern die Proteste nun schon seit über 50 Tagen an. IJAB hat mit Sabina Aliyeva von der EHU Students Union gesprochen. Sie sagt: „50 Tage sind nicht unser Limit. Wir werden gewinnen.“

06.10.2020 / Christian Herrmann

ijab.de: Sabina, du bist Präsidentin der EHU Students Union. Was genau macht deine Organisation?

Sabina Aliyeva: Wir vertreten die Rechte von Studentinnen und Studenten, zum Beispiel gegenüber den Universitätsverwaltungen. Wir sind eine belarusische Organisation, aber wir haben unseren Sitz in Vilnius, Litauen. Unsere Mitglieder sind hauptsächlich Belarusinnen und Belarusen, die in Litauen studieren. Um effektiver zu sein, kooperieren wir mit vielen anderen NGOs.
Im Augenblick sind wir natürlich sehr mit den Protesten in Belarus und ihren Folgen beschäftigt. Wir sind solidarisch mit den Inhaftierten. Wir kümmern uns um Studentinnen und Studenten, die von den Universitäten verwiesen wurden, weil sie Sympathien für die Opposition gezeigt haben. Wir machen Öffentlichkeitsarbeit und versuchen in den Medien dafür Interesse zu wecken, was in Belarus geschieht.
Dass wir unseren Sitz in Litauen haben, hilft uns dabei, die litauische Regierung dazu zu bewegen, sich klar zu positionieren und Swetlana Tichanowskaja als unsere legitime Präsidentin anzuerkennen.

ijab.de: In Belarus sind mit dem Beginn des Semesters die Studentinnen und Studenten in den Streik getreten. Dauern die Streiks noch an?

Sabina Aliyeva: Ja, das tun sie und viele Studierende protestieren weiter auf den Straßen. Auch wir in Vilnius sind sehr aktiv. Die meisten Studierenden unterstützen die Opposition. Das hat auch damit zu tun, dass die belarusischen Studierenden hier Erfahrungen damit sammeln, wie es sich in einem freien Land lebt und was eigentlich ein normales Leben ist. Sie merken dann, dass die Situation in Belarus unfrei und anormal ist.

ijab.de: Wie wird es deiner Meinung nach weitergehen? Die Proteste dauern nun schon über 50 Tage an und die Regierung reagiert mit zunehmender Repression. Wie lange könnt ihr das durchhalten?

Sabina Aliyeva: Wir werden gewinnen. Die Menschen sind nicht bereit, Lukaschenko nochmal für vier oder fünf Jahre zu ertragen. Was die jetzigen Proteste von früheren unterscheidet ist, dass sie von der gesamten Bevölkerung unterstützt werden. Früher waren nur die jungen Leute auf der Straße, jetzt sind es alle Altersgruppen. Die Arbeiter unterstützen die Opposition mit Streiks und Demonstrationen. Wir haben die Unterstützung vieler Regierungen, die belarusische Diaspora unterstützt uns. Weil wir diese breite Zustimmung haben, bin ich sehr optimistisch. 50 Tage sind nicht unser Limit. In drei bis vier Monaten werden wir unsere Freiheit haben.

ijab.de: Was könnte die Rolle von Studentenorganisationen in einem demokratischen Belarus sein?

Sabina Aliyeva: NGOs gibt es Belarus seit vielen Jahren, aber sie wurden von der Regierung immer unterdrückt. Natürlich gibt es die offiziellen Studentenorganisationen, aber die tragen wenig bei. Sie beschränken sich darauf, von der Regierung Geld anzunehmen und für Lukaschenko zu werben. Ich hoffe, unabhängige Studentenorganisationen werden in der Zukunft eine aktivere Rolle spielen. Wir wollen uns zum Beispiel mit der Qualität unserer Studiengänge beschäftigen und unsere Lehrer sollten auch freier sein in dem, was sie unterrichten. Dann werden auch mehr junge Leute in Belarus bleiben. Ich habe mein Land ja auch nicht verlassen, weil es mir dort nicht gefällt. Ich bin in Litauen, weil ich dort frei leben kann. Lieber würde ich in einem freien Belarus leben.
Wir sehen seit langem die Leidenschaft der jungen Menschen, etwas verändern zu wollen. Mit der Wahlfälschung vom 9. August sind auch die letzten aufgewacht – das ganze Land ist aufgewacht. Jetzt haben wir die Chance etwas zu verändern.

ijab.de: Lass uns über die Rolle der Frauen in den Protesten sprechen. Ihre Präsenz ist bemerkenswert.

Sabina Aliyeva: Ja, die Revolution wird von Frauen geführt – selbst wenn Swetlana Tichanowskaja ins Exil gezwungen wurde und Maria Kolesnikowa in Haft sitzt. Dass die Frauen auf die Straße gegangen sind, war entscheidend für die Protestbewegung, denn nur die Frauen können die Situation ändern. Zunächst geschah das, weil es hauptsächlich Männer waren, die nach der gefälschten Wahl vom 9. August verhaftet und verprügelt wurden. Die Frauen haben sich schützend vor die Männer gestellt. Inzwischen werden auch wir Frauen misshandelt und verhaftet. Trotzdem haben wir jeden Samstag einen Frauenmarsch, an dem Zehntausende teilnehmen – Frauen mit schönen Kleidern in den weiß-rot-weißen Nationalfarben und mit Blumen. Die Bilder davon sind um die Welt gegangen.

ijab.de: Lukaschenko hat im Wahlkampf eine Menge Unsinn erzählt. Die schwere Bürde des Präsidentenamtes könne nur ein Mann tragen und die belarusische Verfassung sei nicht für Frauen geschrieben worden.

Sabina Aliyeva: Ja, und das hat sich als schwerer Fehler erwiesen, denn er hat damit die Frauen gegen sich aufgebracht. Uns ist klar geworden, dass es nicht nur um eine Wahl geht, sondern auch um unsere Rolle in der Gesellschaft. Lukaschenko hat die Kandidatur von Swetlana Tichanowskaja toleriert, weil er dachte, dass er gegen eine Frau in jedem Fall gewinnen würde. Er hat sich geirrt.
Heute sagen viele Menschen, die belarusischen Frauen seien tapferer und stärker, als die Männer. Eine unserer bekanntesten Sportlerinnen, die Basketballspielerin Elena Levchenko, ist am Dienstag verhaftet und zu einer Haftstrafe wegen „Beteiligung an einer nicht genehmigten Massendemonstration“ verurteilt worden. Alle – Frauen, Männer, Sportlerinnen und Sportler haben – vor dem Gefängnis und vor dem Gericht demonstriert. Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir stehen zusammen. Unsere Kraft wächst mit jedem Tag.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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