ijab.de: Herr Bütow, Europa erinnert in diesen Tagen an das Ende des Zweiten Weltkriegs – in Zeiten des Krieges. Sie haben sich vor wenigen Monaten bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrat zur Resolution 2250 – Jugend, Frieden und Sicherheit – für den Jugendaustausch als Instrument der Friedenssicherung stark gemacht. Wird das nun irgendwo festgeschrieben und bekommt damit praktische Relevanz?
Tobias Bütow: Die Vereinten Nationen schreiben nicht Geschichte durch schnelle, sondern durch gemeinsame Entscheidungen. Wenn im multilateralen UN-System ein neuer Weg gemeinsam gegangen wird, dann kann dies nachhaltig und weltweit Folgen zeigen. Ein wichtiger Rahmen der internationalen Jugendpolitik der Vereinten Nationen ist die im Dezember 2015 einstimmig verabschiedete UN-Resolution 2250 „Jugend, Frieden und Sicherheit“. Doch in dieser UN-Strategie steckt noch zu wenig Europa drin. Vielleicht dachte man, freilich zu Unrecht, dass in Europa die Friedensordnung garantiert und das Ende der Geschichte erreicht sei. In jedem Fall ist bislang die europäische Erfahrung der Jugendarbeit nach 1945 nicht in die „Lessons Learned“ der UN-Jugendstrategie integriert worden.
Zu der konsultativen Sitzung des UN-Sicherheitsrats hatte Albanien als Vorsitzland gemeinsam mit Frankreich und Deutschland eingeladen. Diese Beratungsformate stehen allen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen offen. Die Sitzung zum neu gegründeten UN-Jugendwerk, zu RYCO und zum Deutsch-Französischen Jugendwerk war gut besucht, auch die US-Botschafterin hat sich viel Zeit genommen. In diesen Monaten wird der 3. Bericht des UN-Generalsekretärs zu Jugend, Frieden und Sicherheit vorbereitet. Dem Thema Jugend wird eine erhöhte Priorität eingeräumt. Entscheidungen werden auf konsultativen Sitzungen aber nicht getroffen. Ich möchte jedoch auf zwei Punkte hinweisen, mit denen sich auch die deutsche Politik beschäftigen muss. Wenn wir Jugend, Frieden und Sicherheit ernst nehmen und überzeugt sind, dass junge Menschen einen Beitrag zu Verständigung und Frieden leisten, dann müssen wir, wie es auch unlängst der UN-Generalsekretär sagte, die Frage beantworten, auf welcher finanziellen Grundlage dies geschehen soll. Das gilt besonders in Zeiten des Krieges. Jede zusätzliche Investition von Regierungen in die Teilhabe junger Menschen, jede zusätzliche Investition in den Jugendaustausch ist von unschätzbarem Wert. Zweitens: Die europäische Erfahrung nach 1945, die Begegnung junger Menschen, das Abbauen von Feindbildern, zeigt, dass schon lange vor der UN-Resolution 2250 junge Menschen Akteur:innen der Friedensarbeit waren. Wir haben es also mit intergenerationellen und internationalen Lernprozessen zu tun, die wir stärken müssen. Das europäische Beispiel, also der bilaterale und multilaterale Jugendaustausch nach 1945, nach der Osterweiterung der Europäischen Union und auch nach den Balkan-Kriegen, kann in diesen ernsten Zeiten immer wieder als Inspiration dienen und konkrete Handlungsmodelle aufzeigen: für eine friedlichere Welt.
Austausch braucht finanzielle Absicherung
ijab.de: Die Resolution 2250 ist in ihrer praktischen Umsetzung nur schwer zu fassen. Wie bekommen wir einen praktischen Pack-an in diesem eher abstrakt gehaltenen Dokument hin?
Tobias Bütow: Ja, in der Tat, es ist ein politisches Dokument, das aber einen Kompass, eine Strategie bietet. Der Praxisbezug muss gestärkt werden. Im Krieg sind junge Menschen Opfer und Kombattant*innen, aber eine Rolle als Akteur*innen für Frieden wird ihnen üblicherweise nicht zugeschrieben. Das ist die wesentliche Veränderung durch die Resolution 2250. Es ist naiv, sich Deeskalation ohne eine Beteiligung junger Menschen vorzustellen und es ist auch historisch falsch. Begegnungen junger Menschen aus Deutschland und Frankreich hat es schon vor 1963 gegeben, also vor der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks. Es hat sie sogar während des Zweiten Weltkrieges im Widerstand gegeben. Daran können wir anknüpfen. Mit dem internationalen Jugendaustausch kann ein konkretes Aktionsfeld in die Umsetzung der UN-Strategie integriert werden, das auch in Krisensituationen genutzt werden kann. Als Deutsch-Französisches Jugendwerk konnten wir im März 2022, kurz nach dem Angriff Russlands gegen die Ukraine, ein multilaterales Ad-hoc-Treffen von Jugendverbänden in Budapest fördern. Im dortigen Jugendzentrum des Europarats haben sich die jungen Engagierten darüber ausgetauscht, welche Bedarfe die einzelnen Jugendorganisationen in dieser Ausnahmesituation haben, wie sie jungen Menschen in der Ukraine nach ihren Möglichkeiten helfen und Solidarität zeigen können und welche Netzwerke dafür aufgebaut werden müssen. Die europaweite Solidarität junger Menschen mit Partnern in der Ukraine ist beeindruckend und wichtig. Der Deutsche Bundesjugendring hat das auf Ebene der Jugendverbände getan und das Deutsch-Polnische Jugendwerk im trilateralen Austausch zwischen Polen, Deutschland und der Ukraine. Das findet jetzt auch öffentliche Anerkennung. In diesem Jahr wird das Deutsch-Polnische Jugendwerk mit dem Westfälischen Friedenspreis ausgezeichnet – gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Macron. Diese Meilensteine sind auch immer ein Appell an die Regierungen, die Finanzierung sicherzustellen. Das Weimarer Dreieck ist in diesen Zeiten wichtiger denn je. In Zeiten von Krieg und Frieden brauchen wir mehr internationalen Jugendaustausch.
Jugendarbeit bietet geschützte Räume
ijab.de: Sie haben die Ukraine angesprochen. Der Jugendaustausch konnte die russische Aggression nicht verhindern und er wird sie auch nicht beenden können. Was kann Jugendarbeit in einer solchen Situation überhaupt leisten?
Tobias Bütow: Ich würde die Frage gerne weiter fassen: Was können externe Akteure in einer solchen Situation von Krieg und Gewalteskalation leisten? Sie können beispielsweise sichere Räume für Aktivist:innen anbieten. Die Aufnahme von Nawalny in die Berliner Charité ist ein prominentes Beispiel für einen sicheren Raum. Sie können junge Geflüchtete aufnehmen und sich um sie kümmern. Auch im Jugendaustausch können wir geschützte Räume anbieten, in denen sich junge Menschen austauschen können. Man darf solche Räume nicht unterschätzen. Der Oslo-Prozess zur Befriedung des israelisch-palästinensischen Konflikts geht ursprünglich auf akademische Treffen auf neutralem Boden zurück, in denen frei über Friedensvorschläge nachgedacht und gesprochen werden konnte. Erst später hat das die politische Sphäre erreicht. Vor bald 30 Jahren sind dann Yitchak Rabin und Yasser Arafat für ihren Mut und ihr Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Heute, im Zeitalter der Sozialen Medien und der Desinformation, engagieren sich junge Menschen auch gegen Gewaltvorstellungen im Netz, denen sie ausgesetzt sind – beispielsweise bei TikTok. Dafür brauchen sie die Unterstützung der Politik und mediale Aufmerksamkeit.
ijab.de: Sie haben in ihrer Rede im UN-Sicherheitsrat den Zusammenhang zwischen Jugend, Frieden und Sicherheit und Jugendbeteiligung hervorgehoben. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Tobias Bütow: Es gibt zum Beispiel offizielle Delegationsreisen in Krisen- und Konfliktgebiete, zum Beispiel in die Republik Moldau, in den Maghreb oder das östliche Mittelmeer. Warum werden dorthin keine Vertreter:innen von Jugendverbänden mitgenommen? Ebenso sollte der Auswärtige Ausschuss des Bundestags selbstverständlich Jugendverbände und Jugend-Expert*innen zu Anhörungen einladen. Und auch der Wiederaufbau in der Ukraine kann auf die Unterstützung und das Engagement junger Menschen aus ganz Europa zählen. Dafür braucht es aber eine Finanzierung und den politischen Willen.
Wir brauchen die Weisheit junger Menschen
ijab.de: Kann man das auch auf die lokale Ebene herunterbrechen? Ein großer Teil der Jugendarbeit findet schließlich lokal statt.
Tobias Bütow: Ja, natürlich kann man das. Wir hatten zum Beispiel ein deutsch-französisch-ukrainisches Projekt in Berlin, das in die Feiern zum 60. Jahrestag der Elyseé-Verträge eingebettet war. Daran waren junge Geflüchtete aus der Ukraine und ukrainische Künstler:innen beteiligt. Wir haben uns im Vorfeld des Projekts den Kopf zerbrochen, wie man während des Krieges feiern kann. Die ukrainischen Teilnehmenden haben ihre eigenen künstlerischen Ausdrucksformen gefunden, ihre eigenen Präsentationen, bei denen auch frei Tabuzonen angesprochen wurden. Jugendbeteiligung kann sehr wichtig für Verarbeitungsprozesse sein. Aber aus vielen Studien wissen wir auch: Die meisten jungen Menschen in Europa sehen nicht mehr ihren Nachbarn als Bedrohung , sondern den Klimawandel. Zugleich haben sie ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser Bedrohung und fühlen sich nicht ausreichend gehört. Daraus folgt Desillusion. Wir müssen das Gefühl der Ohnmacht in Engagement umwandeln und das geht nur mit Jugendbeteiligung. In allen wichtigen Zukunftsfragen sind junge Menschen Expert:innen in eigener Sache. Was sie brauchen, können nur sie beantworten und wir brauchen ihre Weisheit.