Gefängnis in Hrodna, Belarus Gefängnis in Hrodna, Belarus
Gefängnis in Hrodna, Belarus
Demokratie und Menschenrechte

Leben im Gefängnis

Junge belarusische politische Gefangene

Lavon Marozau ist der Internationale Sekretär von RADA, dem Zusammenschluss der unabhängigen Jugendorganisationen in Belarus, und Menschenrechtsanwalt. Er hat während und nach den Protesten gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 junge Menschen vor Gericht verteidigt. Obwohl er inzwischen im Exil lebt, hält er weiter Kontakt zu politischen Gefangenen. Wie geht es ihnen?

25.08.2022 / Lavon Marozau

Das belarusische Rechtssystem ist ein Unrechtssystem

Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal bei Gericht in Minsk, wo zwei Brüder im Alter von 19 und 21 Jahren zur Höchststrafe in Belarus – der Todesstrafe – verurteilt wurden. Für diejenigen, die es nicht wissen: In Belarus werden auch heute noch Menschen für Straftaten im Namen des Staates erschossen.

Damals, im Jahr 2020, saß ich persönlich im Gerichtssaal und sah zu, wie die sehr jungen Männer schweigend auf ihr Urteil warteten. Ich werde nie ihre verlorenen Gesichter, ihre weißen Socken und den stummen Blick der Richter vergessen, als sie einen weiteren Band mit Anklagen vorlasen, ohne auch nur den geringsten Zweifel zu äußern. Erschütternd war, dass die drei Richter vor der Verkündung der Todesurteile zu Mittag aßen und danach hereinkamen, um das Urteil zu verlesen, als ob nichts geschehen wäre – Hinrichtung. Die beiden Brüder sagten kein Wort, sahen sich nur an und saßen schweigend da.

Ich ging aus dem Gerichtsgebäude und weinte, ich hatte nicht einmal die Kraft, jemanden anzurufen. Es zeigte sich, dass dieses Jahr noch mehr für mich bereithielt – massenhafte Folter, Tötung von Zivilisten und Zehntausende von Verhaftungen. In Belarus fand nach einem halben Jahr eine moralische Revolution statt, und nach ein paar Jahren wollte ich wieder Zeuge sein und Menschen, die nach dem August 2020 inhaftiert waren, fragen, was sie dachten und denken, während sie hinter Gittern sitzen.

Ich habe heute mit mehreren jungen politischen Gefangenen in Belarus gesprochen, und das zusammengefasst, was sie sagen. Ich nenne bewusst keine Namen, denn selbst für meinen Artikel kann man in Belarus jetzt ins Gefängnis gehen.

“Ich konnte nichts unternehmen, um mich zu schützen”

Was war während Ihrer Zeit im Gefängnis Ihre größte Angst? Worauf haben Sie gehofft?

Einige Leute erzählten mir, dass am Anfang eine schreckliche Müdigkeit und manchmal auch Wut herrschte [Jeder wird verprügelt auf dem Polizeirevier, wenn er verhaftet wird. – Anm. d. Ü.], dann ein gemischtes Gefühl von Unsicherheit und "Stabilität". Es passierte nicht jeden Tag etwas, außerdem galten alle Sorgen der Gesundheit, dem Wohlbefinden und dem psychologischen Zustand der Menschen, die ihnen nahe standen, das Unbekannte war beängstigend. Erstaunlicherweise hofften die Menschen, sobald sie im Gefängnis waren, dass niemand mehr verhaftet werden würde. Sie träumten von der Freiheit für andere Belarus*innen.

So furchtbar es auch klingen mag, gab es auch Momente des Glücks? Gab es etwas, das Sie glücklich gemacht hat?

Es gab die Freude, andere Jungs zu sehen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden. Es war schön, Briefe zur Unterstützung von Menschen zu erhalten, die sie nicht kannten. Es war schön zu merken, dass man nicht allein ist und dass es Menschen mit ähnlichen politischen Fällen gibt, die sich gegenseitig unterstützen. Einige wurden mehr als andere durch die guten Nachrichten aus ihrem freien Leben ermutigt, die zeigten, dass sie ihren Kampf trotz allem fortsetzen können. Auch der Besuch bei einem Anwalt war für alle "ein echtes Ventil und ein kleiner Urlaub".

Was hat sie besonders wütend gemacht oder vielleicht auch stolz?

Viele hegten einen Groll gegen sich selbst, weil sie in manchen Momenten dachten, dass sie tatsächlich schuldig waren. “Es gab Wut, weil ich nichts unternehmen konnte, um mich zu schützen – ich wurde auf einem Foto erkannt, auf dem ich ohne Maske und in auffälliger Kleidung zu sehen war. Es gab auch Stolz, weil mir klar wurde, dass ich das, was ich getan habe, auch dann tun würde, wenn es wieder passieren würde.” Unter anderem sagten mir einige Leute, dass sie stolz auf all die vielen Belarus*innen seien, die sich offen oder stillschweigend, mit Worten oder Taten gegen die rechtswidrige und extreme Gewalt gewehrt haben.

Sind Sie bereit, weiter zu kämpfen?

Ja, ja und ja. Alle hatten nur diese eine Antwort.

Im Moment müssen Sie wahrscheinlich Ihr Leben von Grund auf neu beginnen, oder? Wie sehen Sie das?

Alle, denen ich diese Frage gestellt habe, waren optimistisch, einige sagten, dass sie "von Grund auf" neu anfangen würden. Neuer Ort, neuer Job, neue Freunde. “Ich bin traurig und froh zugleich. Traurig, weil ich die Stabilität verloren habe, die ich zu Hause hatte, froh, dass ich weitermache und nicht im Gefängnis stagniere."

Glauben Sie, dass die Menschen, die im Gefängnis arbeiten, tatsächlich glauben, dass diejenigen, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden, ihre persönlichen Feinde sind? Gibt es im Gefängnis eine Art von Rache?

Erschreckenderweise sprachen fast alle von der Brutalität des Gefängnispersonals, einige behaupteten, es gäbe Leute, die politische Gefangene wirklich für ihre Feinde und für Staatsfeinde hielten, aber es gab auch solche, die nichts ändern konnten oder wollten. Es gab einige, die sich aus Angst nicht damit befassen wollten. Eine der wichtigsten Antworten lautete: "Sie sind für die zivilisierte Zivilgesellschaft verloren. Sie ist ihnen fremd. Und sie glauben, dass sie völlig im Recht sind."

Worum ging es in den Gesprächen im Gefängnis? Was hat sich Ihnen am meisten eingeprägt?

Es war inspirierend, den Antworten auf diese Frage zuzuhören, als die Menschen antworteten, dass darüber gesprochen wurde, wie die Dinge geändert werden könnten, was als Nächstes zu tun sei, was sie erwarte. Was ihnen am meisten in Erinnerung blieb, war, dass die Menschen nicht entmutigt waren, obwohl die Staatsanwälte unglaubliche Strafen forderten: 3, 5, 15 Jahre. Fast alle sprachen von Freiheit und wünschten sich, zu Hause bei ihren Verwandten oder einfach zu Hause zu sein. Aber die wichtigste Frage für sie war: "Wann wird es endlich vorbei sein?"

Wie haben Sie sich nach Ihrer Entlassung gefühlt, als Sie Ihr Telefon in die Hand genommen oder sich ins Internet eingeloggt haben?

Ich war ziemlich erstaunt über die Antwort auf diese Frage. Kein Telefon zu haben, ist nichts, was man bedauert, wenn man inhaftiert ist. Es gab einen Mangel an Informationen, aber damit kann man sich abfinden. Einige fingen nach ihrer Haft an, Nachrichten zu lesen und verpasste Informationen aufzuholen. Dann kontaktierten sie nach und nach Freunde und Verwandte, die sie unterstützt hatten, um sich bei allen zu bedanken. Fast alle, die ich befragte, sagten mir, sie könnten nicht glauben, dass alles vorbei sei, obwohl sie sofort hinzufügten, dass ihnen klar sei, dass es noch nicht vorbei sei.

Lang lebe Belarus und Nein zum Krieg!

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.