ijab.de: Dima, wir haben zuletzt vor ziemlich genau zwei Wochen miteinander geredet. In der Zwischenzeit ist in Belarus viel passiert. Wie geht es dir?
Dzmitry Herylovich: Persönlich geht es mir gut, auch wenn ich in den letzten drei Tagen keine einzige Nacht richtig geschlafen habe. Es ist tatsächlich viel passiert. Gestern haben wir eine neue Stellungnahme zur Polizeigewalt und zu Folterungen von Häftlingen veröffentlicht. Wir haben sie an den Generalstaatsanwalt, die Präsidialverwaltung und andere Institutionen verschickt. Nach unseren Gesetzen müssen sie sich dazu innerhalb von 14 Tagen verhalten. Wir fordern darin die Einsetzung von zwei Untersuchungskommissionen – eine zur Polizeigewalt auf der Straße, eine zur Folter von Gefangenen.
Die EU hat sich inzwischen klar positioniert und wird Ressourcen zur Unterstützung der Zivilgesellschaft anbieten. Ich weiß nicht, wie das praktisch umgesetzt werden soll, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Außerdem erkennt sie die Wahlen nicht an und und damit auch nicht Lukaschenko als Präsidenten von Belarus. Für uns ist diese Unterstützung der demokratischen Welt wichtig.
Inzwischen streiken auch die Arbeiterinnen und Arbeiter vieler Staatsbetriebe. Auch das ist von großer Bedeutung, selbst wenn wir natürlich wissen, dass es unserer Wirtschaft schadet. Andere Betriebe – zum Beispiel in der Energiewirtschaft – haben die Produktion gedrosselt, weil sie sie aus technischen Gründen nicht einfach einstellen können. Es würde sonst Monate dauern, sie wieder hochzufahren.
Immer mehr Gruppen schließen sich den Protesten an. Zuletzt waren es prominente Sportler, die erklärten, sie würden nicht mehr für die Nationalteams von Belarus spielen, solange Lukaschenko an der Macht ist. Auch Beschäftigte von Museen und Theatern haben sich angeschlossen. Das medizinische Personal im Gesundheitswesen hat eine wunderbare Botschaft veröffentlicht, in der sie Lukaschenko zum Rücktritt auffordern und medizinische Versorgung der Häftlinge verlangen sowie ehrliche Zahlen über die Ausbreitung der Corona-Epidemie.
Seit einigen Tagen haben wir einen Koordinierungsrat, der die Übergabe der Macht in die Wege leiten will. Prominentestes Mitglied ist Swetlana Alexijewitsch, die Literaturnobelpreisträgerin. Der Rat besteht aus 50 bis 70 Personen – eine Repräsentantin einer unserer Mitgliedsorganisationen hat sich um die Aufnahme beworben – und hat ein Exekutivkommitte.
ijab.de: Lass uns über die Situation junger Menschen sprechen. Ich habe vor ein paar Tagen mit einer Freundin in Minsk gesprochen. Auch sie hat an den Protesten, die der Wahl folgten, teilgenommen und war schockiert von der Brutalität der Polizei. Sie sagte mir, sie habe zum ersten Mal in ihrem Leben über Auswanderung nachgedacht. Ist das die Perspektive der Jugend, wenn Lukaschenko an der Macht bleibt?
Dzmitry Herylovich: Das weiß ich nicht, es gibt ja keine Umfragen dazu. Tatsache ist: Junge Menschen sind weiterhin in großer Zahl an den Protesten beteiligt. Einige, die besonders stark von Gewalt betroffen waren, können sicher psychologische Hilfe bei der Bewältigung ihrer Traumata gebrauchen – am besten im Ausland, wo sie nicht dem dauernden Stress der Repression ausgesetzt sind. Sollte die Situation sich verschlimmern und wir von einer Diktatur in ein totalitäres System abgleiten, dann werden sicher einige ins Exil gehen. Litauen und Polen haben bereits erklärt, die Einreise von Asylsuchenden aus Belarus zu erleichtern. Im Augenblick denkt aber niemand daran, zu gehen. Wir richten uns auf einen langen Prozess von einem halben oder einem Jahr ein, in der ein Machtwechsel vonstatten gehen kann. Der Konflikt könnte von offenem Feuer zu einem Schwelbrand übergehen, bis er gelöst wird.
ijab.de: Als die Proteste begannen, rechneten viele Beobachter angesichts der Brutalität der Polizei nicht damit, dass sie lange anhalten würden. Sie haben sich getäuscht. Im Gegenteil, es gibt eine realistische Aussicht, dass die Proteste Erfolg haben können. Was wäre die Rolle junger Menschen in einem neuen Belarus nach Lukaschenko?
Dzmitry Herylovich: Bis zum heutigen Tag hat die belarusische Jugend keine Stimme. Die jungen Menschen wollen aber, dass ihre Stimme zählt, sie wollen selbst entscheiden können. Bisher sind sie immer nur gegängelt worden. Tu dies nicht, tu das nicht. Mit der Jugend wird unser Land eine kreativere Kultur bekommen, mehr Musik, Theater und Nachtleben. Als RADA, als Dachverband der unabhängigen Jugendorganisationen, wollen wir das möglich machen. Wir wissen, wie man Jugendpolitik macht, wir wissen, wie man Stimmen hörbar macht.
ijab.de: Viele Kommentatoren ziehen Vergleiche mit dem Maidan in der Ukraine. Zur ukrainischen Erfahrung gehört, dass einige der alten Strukturen die Veränderungen unbeschadet überlebt haben – inklusive der Korruption. Sollten junge Menschen in einem neuen Belarus mehr in die Politik gehen?
Dzmitry Herylovich: Das erste, was wir brauchen, ist ein Jugendministerium, das Jugendpolitik macht und dabei mit jungen Menschen zusammenarbeitet. Was wir jetzt schon sehen können ist, dass mehr und mehr junge Leute sich in die Politik einmischen. Ich rechne damit, dass die Jugendorganisationen der Parteien Zulauf haben werden. Vielleicht wird es auch Neugründungen von Parteien geben und junge Menschen dabei eine besondere Rolle spielen.
Eine solche Perspektive hat allerdings Voraussetzungen: Lukaschenko muss weg, es muss freie und faire Wahlen geben, die Häftlinge müssen entlassen werden und diejenigen, die für die Gewalt der letzten Tage verantwortlich waren, müssen vor Gericht gestellt werden. Das sind unsere zentralen Forderungen und bevor Lukaschenko weg ist, gibt es keine anderen Fragen. Anders als während der Maidan-Bewegung in der Ukraine geht es um keine politische Entscheidung zwischen einer europäischen oder russischen Perspektive. Ich weiß nicht, ob dir das aufgefallen ist: Seit Beginn der Proteste gibt es keine brennenden Autos, keine eingeschlagenen Fensterscheiben, keine geplünderten Geschäfte und keine radikalen Gruppen auf den Straßen. Das ist unsere Art, die Stadt für uns zu beanspruchen. Es ist unsere Stadt und wir haben einen 99-prozentigen Konsens über Gewaltfreiheit.
ijab.de: Welche Unterstützung braucht ihr von außen?
Dzmitry Herylovich: Die politische Unterstützung der EU, die Mittel aus den Regierungsprojekten abziehen will, um sie der Zivilgesellschaft zur Verfügung zu stellen, ist ein wichtiges Signal. Wir brauchen internationale Unterstützung und ich würde sie gerne auch auf UN-Ebene angesiedelt sehen. Es könnte zum Beispiel eine internationale Untersuchung zur Folter geben. Wenn die Details ans Licht kommen, müsste selbst Russland darüber nachdenken, ob es wirklich an Lukaschenko festhalten will.
Außerdem brauchen wir mehr Reisefreiheit und mehr Jugendmobilität. Junge Menschen müssen die Erfahrung machen können, wie es sich in einem demokratischen Land lebt und sie müssen diese Erfahrung hier wieder einbringen können. Dabei könnte die Ukraine eine wichtige Rolle spielen, denn sie ist eines der wenigen Länder, in das wir ohne Visum reisen können. Wir brauchen aber auch Erleichterungen für den Schengen-Raum.
ijab.de: Das ist gewissermaßen die politische Ebene. Was kann die Zivilgesellschaft an Unterstützung leisten?
Dzmitry Herylovich: Sie kann authentische Informationen aus Belarus verbreiten, sie kann Druck auf die eigene Politik ausüben, sie kann vor den belarusischen Botschaften im Ausland protestieren. Noch wichtiger ist aber die direkte Zusammenarbeit auf inhaltlicher und struktureller Ebene. In allen Ländern gibt es Jugendorganisationen, Studentenorganisationen, Umweltorganisationen und vieles mehr. Sie können miteinander kooperieren, denn sie teilen viele Themen und haben dieselben Zielgruppen. Man muss allerdings darauf achten, mit wem man in Belarus kooperiert. Wir haben hier Organisationen, die sich NGOs nennen, aber völlig vom Staat kontrolliert werden.
Ganz wichtig ist für uns, dass bestehende Kontakte gehalten werden, dass authentische Informationen Verbreitung finden und auch beim Fundraising für Streikende und Gefangene können wir Unterstützung gebrauchen. Ein weiterer Punkt sind zuverlässige Informationen aus dem In- und Ausland. Die meisten unserer Medien werden vom Staat kontrolliert und verbreiten die entsprechenden Lügen. Unabhängige Medien werden eingeschüchtert. Medien wie Radio Free Europe/Radio Liberty müssen ihre Berichterstattung ausweiten und unabhängige Medien in Belarus unterstützt werden.