Die SCI-Freiwilligen Yevheniia Skrypnyk and Olia Protyniak bei einer Manifestation zur Unterstützung der Ukraine vor dem Kölner Dom Die SCI-Freiwilligen Yevheniia Skrypnyk and Olia Protyniak bei einer Manifestation zur Unterstützung der Ukraine vor dem Kölner Dom
Demokratie und Menschenrechte

„Es geht um das Überleben unseres Landes“

Ukrainische Freiwillige in Deutschland berichten

Yevheniia Skrypnyk und Olia Protyniak, zwei Freiwillige aus der Ukraine, arbeiten im Bonner Büro von Service Civil International (SCI). Einiges von dem, was sie in Deutschland erleben, irritiert sie. Beispielsweise das zögerliche Verhalten bei politischen Entscheidungen und die Bereitwilligkeit, auf Fake News hereinzufallen. IJAB hat mit ihnen darüber gesprochen.

06.04.2022 / Christian Herrmann

ijab.de: Jenia, Olia, seit wann seid ihr schon in Bonn?

Yevheniia Skrypnyk: Ich bin seit März 2021 hier, also seit einem Jahr, im Rahmen eines Freiwilligendiensts, der ursprünglich jetzt im April enden sollte. Aufgrund des Krieges in der Ukraine hat SCI meinen Freiwilligendienst jedoch vorerst bis Ende Juni verlängert. Olia kam am 14. März dieses Jahres an. Sie soll mich hier nach einer Orientierungsphase ablösen.

ijab.de: Was genau macht ihr bei SCI?

Yevheniia Skrypnyk: Ich verwalte den Ablauf der Workcamps, kümmere mich um die Anmeldungen und stimme mich mit den Partnern vor Ort ab. Wegen der Pandemie gab es auch mehrere Online-Veranstaltungen. Wir unterstützen auch die Öffentlichkeitsarbeit und unsere Kollegen bei einigen zusätzlichen Projekten, zum Beispiel ERASMUS+.

ijab.de: Wo kommt ihr her und war es euch möglich den Kontakt zu euren Familien zu halten?

Yevheniia Skrypnyk: Ich bin aus Charkiw, und in den ersten 10 Tagen des Kriegsausbruchs blieben meine Eltern noch dort. Doch dann merkten sie, dass es nicht sicher ist, im Stadtzentrum zu bleiben, und sind in ein Dorf 100 km außerhalb von Charkiw gezogen, wo es ruhig und relativ sicher ist. Ich habe die ganze Zeit über Kontakt gehalten, auch wenn ich nicht immer sofort eine Antwort bekomme. Sie hatten nie Probleme mit der Stromversorgung, aber die Internetverbindung könnte besser sein.

Olia Protyniak: Ich komme aus Lviv. Lviv ist relativ sicher, es gab Angriffe auf die Stadt und manchmal gibt es Warnungen vor Luftangriffen. Ich halte Kontakt zu meiner Familie und frage sie immer, ob sie dann in Sicherheit sind.

ijab.de: Ist unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Rückkehr nach Charkiw überhaupt vorstellbar?

Yevheniia Skrypnyk: Einerseits hatte ich, bis der 24. Februar kam, überlegt, ab April in Wuppertal zu studieren, aber nun hat sich alles verändert. Andererseits wird Charkiw all unsere Hilfe brauchen, um die Stadt wiederaufzubauen. Aber um ehrlich zu sein, fühle ich mich im Moment nicht in der richtigen Verfassung, um das zu entscheiden. Ich warte auch immer noch auf eine Entscheidung der Nationalen Agentur für das Europäische Solidaritätskorps, um zu schauen, was sie mit den ukrainischen Freiwilligen machen wollen, die jetzt hier sind, und ob die Freiwilligendienste offiziell verlängert werden können. Mein Problem ist auch, dass ich nicht einfach hier arbeiten kann. Ich habe die Ukraine vor Kriegsbeginn am 24. Februar verlassen und falle daher nicht unter die neuen Regelungen für Kriegsflüchtlinge. Ich bräuchte also einen Arbeitgeber, der bescheinigt, dass er auf dem Arbeitsmarkt keinen deutschen oder europäischen Arbeitnehmer finden kann. Das ist nicht so einfach.

Keine ausreichende Unterstützung der Ukraine

ijab.de: Was meint ihr, bekommt die Ukraine genug Unterstützung aus Deutschland? Das wird hier gegenwärtig kontrovers diskutiert.

Yevheniia Skrypnyk: Leider gehört Deutschland zu den europäischen Ländern, die der Ukraine immer wieder wichtige Hilfe verweigern. Das betrifft den beschleunigten Beitritt zur EU, aber auch die komplette Unterbrechung des SWIFT-Zahlungsverkehrs mit Russland. Es sind immer wieder Deutschland und Ungarn, die solche Entscheidungen verhindern. Vielleicht wirkt die russische Propaganda hier immer noch. Es gibt hier weiterhin pro-russische Demonstrationen, auf denen russische und sowjetische Fahnen geschwenkt wurden. Es gibt die Verbreitung von Fake News in russischsprachigen Nachrichtensendern, wie die über den angeblichen Mord an einem Russen in Euskirchen. Solche „Nachrichten“ haben offenbar ein großes deutsches und russisches Publikum. In Baden-Baden wurde ein ukrainischer Restaurant-Angestellter entlassen, weil er offen seine Unterstützung für die Ukraine zeigte. Anscheinend fallen auch Westeuropäer*innen leicht auf russische Propaganda herein. Eine deutsche Freundin von mir erzählte mir kürzlich, für wie heldenhaft sie eine russische TV-Mitarbeiterin hielt, der plötzlich mit einem Plakat gegen den Krieg in eine Nachrichtensendung platzte. Diese Journalistin musste nur eine kleine Geldstrafe zahlen. Wäre es wirklich eine Protestaktion gewesen, wäre sie in Russland für Jahre eingesperrt worden.

Ich bin im Moment mit meinen Gefühlen beschäftigt und weiß nicht, ob ich wirklich auf Dauer in Deutschland leben möchte. Natürlich leistet die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland humanitäre Hilfe und unterstützt Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, und wir, die Ukrainer*innen, sind dankbar für ihre Aufnahme.

Olia Protyniak: Vielleicht sollte ich noch etwas Positives hinzufügen. Ich bin am 14. März in Deutschland angekommen. Überall an den Bahnhöfen und Busbahnhöfen habe ich Freiwillige gesehen, die beim Übersetzen halfen, den Ankommenden aus der Ukraine erklärten, wie sie ihre Fahrt fortsetzen können oder kostenlose SIM-Karten besorgten. Diese Unterstützung sah ich von dem Moment an, als ich die ukrainisch-polnische Grenze überquerte, bis ich schließlich in Bonn ankam.

Kein Frieden um jeden Preis

ijab.de: Viele Projekte von SCI beschäftigen sich mit dem Thema Frieden und mit friedlicher Konfliktlösung. Was ist davon auf den Krieg in der Ukraine anwendbar?

Yevheniia Skrypnyk: Für mich ist es schwer zu verstehen, dass wir Projekte zur friedlichen Kommunikation durchführen und gleichzeitig einen Krieg in der Ukraine erleben. Normalerweise gibt es bei den Workcamps ukrainische und russische Teilnehmende, die friedlich zusammenleben. In diesen Tagen ist der Hass der ukrainischen Bevölkerung auf den Aggressor groß, und wir wissen nicht, wie unsere Gefühle in Zukunft aussehen werden.

Olia Protyniak: Für mich ist es immer noch unfassbar, dass sich die Geschichten, die unsere Großeltern über den Zweiten Weltkrieg erzählten, heute wiederholen. Ich hatte gedacht, dass wir uns im 21. Jahrhundert darauf konzentrieren könnten, wie wir zum Beispiel den Klimawandel aufhalten können. Aber jetzt sind wir im Krieg. Es ist emotional sehr schwer zu sehen, wie die Städte zerstört, Menschen getötet und Familien zwangsweise auseinandergerissen werden. Wir brauchen jetzt nicht nur Frieden, wir brauchen einen Sieg - sonst wird es keine unabhängige Ukraine mehr geben. Wir müssen unsere Armee unterstützen, wir müssen uns verteidigen. Natürlich wollen wir Frieden, aber wir wollen keinen Frieden um jeden Preis.

Yevheniia Skrypnyk: Viele Menschen bringen uns ihre Verbundenheit und ihr Mitgefühl entgegen. Man fragt uns, wie es uns geht und ob wir Kontakt zu unseren Familien haben. Aber es geht nicht nur um unsere Familien. Es geht um das Überleben unseres Landes und die ganze Ukraine ist heute unsere Familie. Ich frage mich oft, wie es wäre, wenn ich in Charkiw geblieben wäre. Würde ich noch dort bleiben oder weggehen? Das beschäftigt mich die ganze Zeit.

Olia Protyniak: Ich habe mich erst sicher gefühlt, als ich die Grenze nach Polen überquert hatte, aber jetzt ist es noch schwerer. Meine Familie und meine Freunde sind noch in der Ukraine, und es ist immer noch Krieg, also schaue ich jeden Tag Nachrichten und mache mir Sorgen um sie.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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