Eine Gruppe von Demonstrantinnen und Demonstranten mit weiß-rot-weißen Fahnen und einem Transparent Eine Gruppe von Demonstrantinnen und Demonstranten mit weiß-rot-weißen Fahnen und einem Transparent
Marsch der Gerechtigkeit, Minsk, Belarus, 20.09.2020
Demokratie und Menschenrechte

„Die Probleme eines Landes sind die Probleme der Welt“

Belarus aus der Sicht einer Langzeitfreiwilligen

Maryna Nikifarenka ist als Langzeitfreiwille des Europäischen Solidaritätskorps in Belgien und arbeitet dort für YFU - Youth For Understanding. Sie hält Kontakt zu Familie und Freunden und setzt sich für Veränderungen in ihrem Heimatland Belarus ein. Zugleich wünscht sie sich mehr Begegnungsmöglichkeiten für junge Menschen aus Belarus und der Europäischen Union. IJAB hat mit ihr darüber gesprochen.

28.09.2020 / Christian Herrmann

ijab.de: Maryna, du arbeitest für den flämischen Zweig von Youth For Understanding – YFU. Wie geht es dir dort?

Maryna Nikifarenka: Ich bin für ein Jahr als Langzeitfreiwillige über das Europäische Solidaritätskorps bei YFU. Als ich in Belgien ankam, habe ich die Ereignisse in Belarus nicht erwartet. Von den gefälschten Wahlen war ich schockiert. Jetzt ist es für mich sehr schwer hier zu sein und zu wissen, dass meine Freunde zuhause jeden Tag auf der Straße sind und riskieren, verhaftet oder verprügelt zu werden. Ich fühle mich hilflos. Alles was ich tun kann, ist Informationen über die Situation in Belarus zu verbreiten und zu hoffen, dass irgendwer sie wahrnimmt. Die Menschen müssen wissen, was geschieht, denn in einer globalisierten Welt sind die Probleme eines Landes die Probleme der ganzen Welt.

ijab.de: Stehst du in Verbindung mit Freunden und deiner Familie?

Maryna Nikifarenka: Ja, natürlich. Ich halte den Kontakt mit meinen Freunden, meiner Familie, den Kolleginnen und Kollegen meiner Entsendeorganisation – dem NGO-Zentrum „Der Dritte Sektor“ – und den Leuten von RADA – dem Nationalen Jugendrat von Belarus – aufrecht und verfolge die Nachrichten.

ijab.de: Hast du Kontakte zur belarusischen Diaspora in Belgien? In Deutschland organisiert die Diaspora in den größeren Städten jedes Wochenende Solidaritätskundgebungen.

Maryna Nikifarenka: Nein, ich habe hier keine anderen Belarusinen und Belarusen kennengelernt. Ich habe nur gesehen, dass Menschen mit weiß-rot-weißen Fahnen vor dem Gebäude der Europäischen Kommisssion standen, als sich Swetlana Tichanowskaja, die die Wahlen in Belarus gewonnen hat und jetzt den Koordinierungsrat der Opposition anführt, dort zu Besuch war, um sich mit den Außenministern der EU-Staaten zu treffen. Ich habe mich einmal mit einem Poster vor das Europäische Parlament gestellt, um auf unsere Situation aufmerksam zu machen und habe gehofft, dass sich mir vielleicht andere anschließen. Aber es ist nur jemand von der Verwaltung rausgekommen und hat mir gesagt, ich solle gehen.

ijab.de: Was berichten dir deine Freunde von zuhause? Wie gehen sie mit der Situation um?

Maryna Nikifarenka: Ich kenne niemanden, der Lukaschenko unterstützt. Was meine Freunde angeht, sie zerfallen gerade in zwei Lager: diejenigen, die bis zum Ende kämpfen wollen und diejenigen, die wegen ihrer Familien und ihres Jobs nicht viel riskieren können. Für die ist es hart. Diejenigen, die kämpfen, sind ziemlichen Stimmungsschwankungen ausgesetzt. An einem Tag sind sie zuversichtlich, dass Lukaschenko bald verschwinden wird, am nächsten Tag sinkt die Stimmung wieder. Ich neige auch zu solchen Stimmungsschwankungen, wenn ich die Nachrichten sehe.

ijab.de: Du bist als Langzeitfreiwillige in Belgien. Wie steht es um den Jugendaustausch zwischen Belarus und Europa?

Maryna Nikifarenka: Es gibt natürlich die Studentinnen und Studenten, die über Erasmus+ nach Europa kommen, um hier zu studieren. Aber diese Möglichkeit wird von den Universitäten in Belarus nur selten beworben, denn die Regierung sieht es nicht gerne, wenn junge Leute ins Ausland gehen. Es gibt auch kein Regierungsprogramm, das Auslandsaufenthalte unterstützen würde. Abgesehen von den Studentinnen und Studenten gibt es nur etwa zehn Organisationen, die junge Leute ins Ausland schicken und die haben selbst bei kleinen Austauschen große Schwierigkeiten, Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu finden. Ein Beispiel: Ich bin Freiwillige im NGO-Zentrum „Der Dritte Sektor“, das ein Qualitätssiegel für Jugendaustausche und Langzeitprojekte hat. Aber selbst wenn wir sehr interessante Projekte haben, ist es schwierig, genügend Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu finden.

ijab.de: Würdest du dir mehr Austausch wünschen?

Maryna Nikifarenka: Ja natürlich – etwas zu lernen ist immer wichtig. Das Europäische Solidaritätskorps ist eine gute Sache und ein Master-Abschluss an eine europäischen Universität ist auch nicht schlecht.

ijab.de: Und umgekehrt? Sollten junge Leute nicht auch nach Belarus reisen?

Maryna Nikifarenka: Natürlich! Ich würde mich freuen, wenn mehr junge Menschen nach Belarus kämen. Es gibt aber auch ein Problem mit der Sprache: Unsere Universitäten bieten keine Kurse auf Englisch an. Übrigens empfangen wir in Belarus auch Freiwillige des Europäischen Solidaritätskorps. Im vergangenen Jahr hatte „Der Dritte Sektor“ drei Freiwillige aus Österreich, Deutschland und Polen für ein einjähriges Projekt. Es ist immer wichtig zu lernen, dass man Dinge nicht nur auf die eine Weise, die man schon kennt, tun kann, sondern dass es auch immer anders geht.

ijab.de: Da sprichst du einen wichtigen Punkt an. Was können junge Menschen, wenn sie nach Belarus gehen, dort lernen?

Maryna Nikifarenka: Man kann eine ganze Menge in Belarus lernen, das zeigt sich gerade jetzt während der Proteste. Geduld ist eine unserer Stärken. Wir vertrauen einander, sind nicht misstrauisch und sind solidarisch miteinander. Wir sind flexibel in dem, was wir tun, und ergreifen die Möglichkeiten, die sich bieten. Wir sagen, wenn wir anderer Meinung sind ohne dabei die Gesetze zu brechen. Die Leute organisieren sich gut selbst und gehen nicht auf Provokationen der Polizei ein – selbst wenn sich große Menschenmengen versammelt haben. Das ist anders, als zum Beispiel in Amerika.
Man hat oft über uns gesagt, dass wir Individualisten seien, die sich nur um sich selbst kümmern. Aber jetzt kooperieren die Leute in ihren Stadtteilen und Wohnblocks. Viele bieten kostenlose professionelle Hilfe an – zum Beispiel Psychologen und Rechtsanwälte. Es gibt lokale und regionale Chats, in denen diskutiert wird. Ich bin in einem solchen Chat für die Stadt Mahiljou. Ich habe es nie erlebt, dass die Leute sich dort streiten, stattdessen handeln sie immer gemeinsam und helfen sich gegenseitig. Das alles kann man in Belarus lernen.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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