Odessa ist mit rund einer Million Einwohnern die wichtigste Hafenstadt der Ukraine. Obwohl während der rumänischen und deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 die jüdische Bevölkerung fast ausgelöscht wurde, gilt Odessa vielen Ukrainern und Russen weiterhin als jüdische Stadt. Die heutige jüdische Gemeinde Odessas umfasst etwa 30.000 Menschen und ist damit neben Kiew die größte der Ukraine.
ijab.de: Jenny, sag unseren Leser(inne)n doch kurz, wer du bist.
Jenny Spektor: Hallo, mein Name ist Jenny, ich bin 27 und ein aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde von Odessa.
ijab.de: In Odessa wird vorwiegen Russisch gesprochen. Wenn man sich deutsche Medien anschaut, hat man manchmal den Eindruck, das sei gleichbedeutend mit einer Zustimmung zur ehemaligen Regierung Janukowitsch und zu Putins Annexion der Krim und vielleicht weiterer Teile der Ukraine. Was ist deine Wahrnehmung? Was denken und wollen die Menschen in Odessa?
Jenny Spektor: Das stimmt, Odessa ist eine vorwiegend russischsprachige Stadt. Aber wir sind auch eine multiethnische Stadt. Das bedeutet nicht, dass wir gegen die Ukraine wären oder – G-tt behüte – gerne ein Teil Russlands werden möchten. Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen in Odessa, das ist normal in einer offenen Gesellschaft. Aber die Mehrheit ist sehr anti-russisch.
ijab.de: Nimmst du einen Unterschied zwischen den Generationen wahr? Haben junge Leute eine andere Vision der Zukunft als ihre Eltern und Großeltern?
Jenny Spektor: Sehr richtig, der Unterschied in den Ansichten ist hauptsächlich ein Unterschied zwischen den Generationen. Ältere Leute sind eher für Putin, denn sein Regime erinnert sie an die Sowjetunion – ihre Jugendzeit, als alles glanzvoller aussah. Eltern haben gewöhnlich andere Ansichten, aber diejenigen, die mehr nachdenken und weniger fernsehen, haben dieselben Ansichten wie ihre Kinder, das heißt, sie waren gegen Janukowitsch und sind jetzt gegen Putin.
ijab.de: Während des Euromaidan und auch danach hat es mehrere Angriffe auf Juden in Kiew gegeben. Die Vorfälle sind bis heute nicht aufgeklärt. Während die damalige Regierung sie in Zusammenhang mit den Protesten brachte, haben andere – beispielsweise Josef Zissels von der Vereinigung der jüdischen Gemeinden und Organisationen – argumentiert, es handle sich um Provokationen, mit denen die Proteste diskreditiert werden sollen. Was ist deine Einschätzung?
Jenny Spektor: Wie ich sagte, ich bin ein aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde in Odessa und habe auch viele jüdische Freunde in der ganzen Ukraine. Einige von ihnen waren Euromaidan-Aktivisten, einige waren hauptsächlich über das Internet aktiv. Die Angriffe auf Juden in Kiew waren für uns alle verstörend. Was die meisten meiner Freunde denken, ist dass das nach Provokationen aussieht, die einen mit der neuen Regierung einhergehenden wachsenden Antisemitismus vorführen sollen. In der gesamten Ukraine hat es in all den Jahren nur selten solche Angriffe gegeben. Daher sieht das für mich alles nach Provokationen aus.
ijab.de: Wer sind die Provokateure?
Jenny Spektor: Ich bin natürlich keine Politikexpertin, aber es sieht nach Provokationen von russischen Separatisten und Radikalen aus.
ijab.de: Putins Äußerungen in den letzten Tagen und Wochen lassen sehr unterschiedliche Deutungen zu. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nicht ausschließen, dass auch Odessa betroffen sein könnte. Macht das den Leuten Angst?
Jenny Spektor: Jetzt wo die Krim annektiert worden ist, sind die Bürger von Odessa zunehmend besorgt über das, was sie zu erwarten haben. Die Zukunft ist ziemlich unklar, aber es ist offensichtlich, dass eine Besetzung Odessas nicht so glatt gehen würde, wie die der Krim.
Wir alle hoffen, dass die Lage besser wird und erwarten ernsthafte Reaktionen von Europa, nicht nur unbedeutende Sanktionen gegen ein paar wenige Leute.
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