ein Raum mit roten Sitzkissen und roter Beleuchtung ein Raum mit roten Sitzkissen und roter Beleuchtung
Un-Konferenz „Critical Youth Work?“
Demokratie und Menschenrechte

Demokratie (neu) lernen und der Elefant im Ei

Über die Un-Konferenz „Critical Youth Work?“ in Weimar

Vom 12. zum 17. Mai 2024 kamen in der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte in Weimar (EJBW) über 90 Jugendarbeiter*innen, Jugendforscher*innen, Bildner*innen und Aktivist*innen aus der ganzen Welt zusammen. Ziel der (Un-)Konferenz: Politische Bildung unter die Lupe nehmen und neue Ansätze der Demokratie- und Menschenrechtsbildung praktisch-experimentell gemeinsam neu entwerfen.

11.06.2024 / Natali Petala-Weber

Die demokratische Zivilgesellschaft steht immer stärker unter Druck: Die Einschränkung von Presse- und Versammlungsfreiheit nimmt überall in Europa zu. Rechtliche, finanzielle und wirtschaftliche Hürden erschweren die Arbeit zivilgesellschaftlicher Akteure in vielen Ländern zunehmend. Demokratische/menschenrechtliche und insbesondere vulnerable Akteure werden angegriffen und ihre gesellschaftlichen Mitwirkungs- und Gestaltungsräume durch rechtsnationale politische Gruppierungen angefeindet und eingeschränkt – beispielsweise im Kontext von LGBTQI+, von Minderheiten, im Kontext von Migration, aber auch am Beispiel restriktiver Abtreibungspolitiken. Die Entwicklungen zeigen, dass die Demokratie – wie sie aktuell ist – konzeptionell herausgefordert wird. Einhergehend damit sind auch Akteure in Bildung und Jugendarbeit herausgefordert, über ihre konzeptionellen Fundierungen nachzudenken und diese weiterzuentwickeln.

Kritische Jugendarbeit?

Ist Critical Youth Work die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen, vor denen die Zivilgesellschaft steht? Oder ist sie der Beginn des Hinterfragens bestehender Konzepte der Demokratie(-bildung)? Das Fragezeichen am Titel der internationalen Konferenz in Weimar ist auf jeden Fall ein Hinweis darauf, dass die Akteure der (Internationalen) Jugendarbeit ihren Blick auf aktuelle Ansätze und Inhalte umlenken und auf der Suche nach neuen Konzepten sind. Aus diesem Grund haben die Mitglieder der Kommission „Europäische und Internationale Bildungsarbeit“ im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) und deren internationale und europäische Partner zu einer 6-tägigen partizipativen Konferenz nach Weimar eingeladen. Dabei ging es darum, einen multiperspektivischen und internationalen Zugang zum Nachdenken und Entwickeln anzuregen, um gemeinsame Ansätze für pädagogische Wege zu formulieren – denn globale Krisen benötigen internationalen Austausch.

Nicht nur kritisch: Radikale Jugendarbeit

Bereits am ersten Tag der Veranstaltung wurden die Teilnehmenden auf ein pädagogisches Experiment eingeladen mit einem für die europäische Jugendarbeit unkonventionellen Ansatz: In seinem multimedialen Vortrag „Radical Education and Youth Work in Europe“ präsentierte Sérgio Xavier - Demokratie-Forscher, Trainer und Radikal-Bildner aus Portugal – sein Konzept der radikalen Jugendarbeit, das er vordergründig auf der Arbeit des Brasilianers Paulo Freire aufbaut. Radikale Jugendarbeit ist laut Sérgio „der Prozess, der dabei unterstützt, die Kluft zwischen dem Versprechen der Demokratie und der eigentlichen Realität wahrzunehmen“. Darauf aufbauend hat Sérgio Xavier die Methode des „Immersive Audio Unlearning“ entwickelt – ein Experiment, das Menschen aus der historisch-politischen Bubble herausziehen möchte, um ihnen die Möglichkeit zu geben, neue Demokratie-Realitäten zu visualisieren. 1

Die Elefanten im Raum der Jugendarbeit

Podiumsdiskussionen, Inputs und Workshops der Weimarer Un-Konferenz waren darauf ausgerichtet, nicht nur bestehende Demokratie-Konstrukte und pädagogische Ansätze zu hinterfragen, sondern auch darauf, Fragen zu stellen, die man vielleicht schon länger hat stellen wollen, aber nicht genau wusste, wie oder an wen. Dort aber – das heißt direkt vor Ort – kamen Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Georgien, Menschenrechts-Aktivist*innen aus dem Libanon, Kirgistan, Uganda, Belarus oder Chile, Jugendarbeiter*innen aus der Türkei, Montenegro, Ungarn, den USA, Puerto Rico, Armenien, Forscher*innen aus Israel oder Ungarn und viele andere für sechs Tage zusammen. Vom Frühstück bis zum späten Abend konnte man aus erster Hand erfahren, wie es jungen Menschen vor Ort geht und welche Antworten für junge Menschen lokal und regional auf globale Krisen erarbeitet werden.

In Weimar wurden sechs Tage lang viele kritische Fragen gestellt: „Wie können Räume für junge Menschen geschaffen werden, um Begriffe zu dekonstruieren und neue Konzepte zu kreieren, ohne dass dabei Werte verloren gehen?“, „Wie können wir Räume schaffen, die nicht noch mehr Schaden verursachen?“, „Wie viele Elefanten erkennst du in deinem Raum der Jugendarbeit?“. Georg Pirker, Referent für internationale politische Bildungsarbeit im AdB, stellt sich in all dem die Frage nach den Zugängen zu Förderung: Gibt es Wege, internationale Modellprojekte zu etablieren und diese in eine langfristige Finanzierung zu überführen? Denn man müsse auch darüber nachdenken, wie wir aus der europäischen in die internationale Jugendarbeit hinauswachsen. Und dies stelle uns grundsätzlich vor finanzielle Fragen.

Der Elefant im Ei und die Jugendarbeit

Die Teilnehmenden an der Veranstaltung hatten trotz des abwechslungsreichen Programms immer wieder die Möglichkeit, zu ihrer selbstgewählten festen sogenannten Home-Group zurückzukehren, um sich dort über ihre Erkenntnisse untereinander auszutauschen. In meiner „Zuhause-Gruppe“ waren Menschen aus fünf Kontinenten vertreten, die sich immer wieder selbst kritisch hinterfragt haben: Gibt es etwas, das wir in der ganzen Diskussion übersehen? Ist der Elefant vielleicht in einem Ei, das wir noch nicht ganz haben zerbrechen lassen? Die Dekonstruktion aktueller Konstrukte ist auf jeden Fall in vollem Gange – das haben die Diskussionen in Weimar gezeigt. Und es gibt noch Horizonte für strukturelle Weiterentwicklung – das wird sich hoffentlich in der European Youth Work Convention in 2025 widerspiegeln.

Demokratie und Menschenrechtsbildung

Angesichts der aktuellen Entwicklungen widmet sich IJAB verstärkt den Themen „Demokratie und Menschenrechtsbildung“. Materialien zu diesem Thema finden sich im Dossier Internationale Jugendarbeit und Demokratie- und Menschenrechtsbildung.

Lesen Sie auch das aktuelle Interview mit Giorgi Kikalishvili, Leiter der Jugendorganisation DRONI, über die Situation junger Menschen in Georgien, das unser Kollege, Robert Helm-Pleuger, geführt hat: „Wir tun alles mit und für junge Menschen“ (ijab.de).

1 Mehr zum Konzept der Radikalen Erziehung: Xavier, Sérgio (2022). Radical Education. A pathway for new utopias and reimagining European democracies. Youth Partnership – Partnership between the European Commission and the Council of Europe in the field of Youth.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.