ijab.de: Cyra, was wissen wir über Antisemitismus in Deutschland?
Cyra Sommer: Antisemitismus ist ein akutes gegenwärtiges Problem und kommt in allen Teilen der deutschen Gesellschaft vor. Es umfasst nicht nur Ereignisse, die mediale Aufmerksamkeit erhalten, wie der Anschlag auf die Synagoge in Halle, bei der 2019 ein rechtsradikaler Attentäter versuchte in das Synagogengebäude einzudringen und Menschen zu ermorden. Antisemitismus ist ein Alltagsphänomen und für Jüdinnen und Juden ist er alltagsprägend. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird dies häufig gar nicht wahrgenommen. Wir wissen zudem aus Studien und Umfragen, dass antisemitisches Gedankengut weitverbreitet ist und Zustimmung erfährt. Das betrifft alle Schichten der Gesellschaft.
ijab.de: Du meinst damit Behauptungen wie „Juden haben zu viel Einfluss auf die Medien und in der Politik“ oder „Juden benutzen den Holocaust, um sich zu bereichern“...
Cyra Sommer: Ja, aus vielen Befragungen wissen wir, dass solche Thesen Zustimmungswerte von rund 20% erreichen. Der klassische Antisemitismus tritt selten offen in Erscheinung, denn er ist gesellschaftlich geächtet. Beim sekundären Antisemitismus, der auch als „Schuldabwehr-Antisemitismus“ bezeichnet wird, ist das anders, da gibt es Zustimmungswerte von bis zu 27%. Beim auf Israel bezogenen Antisemitismus geht es sogar noch weiter, da liegen die Zustimmungswerte bei rund 40%. Negative Meinungen über Israel und verzerrte Bilder vom Nahostkonflikt sind in Deutschland weit verbreitet. Dabei verbergen sich hinter einer vermeintlichen „Kritik“ allzu oft antisemitische Vorurteile über „die Juden“, die uns aus der Geschichte des Antisemitismus bekannt sind. Häufig wird nicht zwischen Juden und Jüdinnen und Israel unterschieden. In Deutschland gibt es regelmäßig verbale und physische Angriffe auf Juden und Jüdinnen, die für Ereignisse in Israel verantwortlich gemacht werden, obwohl sie gar nichts mit Israel zu tun haben.
Antisemitismus gibt es auch in der Jugendarbeit
ijab.de: Wir lesen regelmäßig über Vorfälle in Schulen, bei denen jüdische Schüler*innen gemobbt werden und Lehrer*innen nicht reagieren. Wie ist das in der Jugendarbeit – und auch in der Internationalen Jugendarbeit, zum Beispiel bei Jugendaustauschen?
Cyra Sommer: Bezieht sich deine Frage auf junge Menschen oder auf Fachkräfte?
ijab.de: Auf beide.
Cyra Sommer: Es gibt dazu keine ganz spezifischen Studien. Aber generell würde ich sagen, dass sich die Präsenz von Antisemitismus in der allgemeinen Gesellschaft natürlich auch in den von dir angesprochenen Bereichen widerspiegelt. Ich kann von Erfahrungen aus unserem Projekt Sichtbar Handeln! Umgehen mit Antisemitismus in Jugend- und Bildungsarbeit berichten, in dem wir Schulungen zum Thema Antisemitismus und Begegnungsreisen nach Israel für Fachkräfte der Jugend- und Bildungsarbeit anbieten. Bisher haben etwa 140 Fachkräfte daran teilgenommen. Sie kommen zum Beispiel aus Jugendzentren, Jugendverbänden, der Jugendsozialarbeit oder der kommunalen Jugendarbeit. Unsere Erfahrung zeigt, dass sie ein großes Bedürfnis und den Wunsch haben, sicherer mit Antisemitismus umzugehen, dem sie regelmäßig in ihrer Arbeit begegnen. Sie berichten von antisemitisch eingefärbten Israelbildern und auch von offenem Hass. Beschimpfungen wie „du Jude!“ haben sie alle schon einmal gehört. Sie fühlen sich oft überfordert, es ist viel Unsicherheit im Spiel. Die Fachkräfte sagen: „Wir sind nicht dafür ausgebildet worden, adäquat mit Antisemitismus umzugehen“. Wir versuchen sie dabei zu unterstützen. Es fehlt oft an notwendigem Wissen, um Antisemitismus überhaupt als solchen zu erkennen. Und es gibt nur selten Berührungspunkte mit jüdischen Perspektiven oder mit Israel. Je mehr sie sich mit judenfeindlichen Bildern beschäftigen – zum Beispiel mit dem Stereotyp des „reichen Juden“ oder den Ritualmordlegenden, die noch heute fortwirken – desto besser können sie Dinge einordnen. Es ist ein selbstreflexiver Lernprozess, in dem es auch um eigene Bilder und Vorstellungen geht.
Was junge Menschen betrifft: Es gibt ein paar Studien dazu, aber nicht allzu viele. Natürlich werden antisemitische Einstellungen von Generation zu Generation übertragen. Das fängt in der eigenen Familie an, etwa beim Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Holocaust. Wir erleben jetzt immer mehr Geschichtsbilder, in denen die Generation der Großeltern oder Urgroßeltern fälschlicherweise als Widerstandskämpfer erscheint und der Holocaust historisch nicht mehr eingeordnet werden kann. Die schon etwas ältere Studie Opa war kein Nazi hat das schön auf den Punkt gebracht. Hier ist die Jugendarbeit gefordert. Wir erleben zugleich aber auch das Gegenteil: Junge Menschen, die an der Geschichte interessiert sind und mit großem Wissensdurst etwas darüber erfahren wollen.
Antisemitismus taucht bei Jugendlichen häufig auch im Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen auf, die die Welt ganz klar in „gut“ und „böse“ einteilen und vermeintliche Erklärungen geben. Und natürlich findet auch der Nahostkonflikt Widerhall bei Jugendlichen, der häufig emotionalisierend und polarisierend diskutiert wird. Stark vereinfachte Schwarzweiß-Argumentationen und eben auch antisemitische Bilder tauchen dabei wie gesagt immer wieder auf. Hier ist die Jugendarbeit gefordert.
Wie können wir Geschichte vermitteln?
ijab.de: Der Antisemitismus ist in Deutschland eng mit der Geschichte und dem Holocaust verbunden. Aber wenn junge Menschen den Holocaust nicht mehr einordnen können und wenig darüber wissen, hat dann unser Bildungssystem versagt?
Cyra Sommer: Ich denke, das hängt davon ab, wie Geschichte vermittelt wird. Wenn junge Menschen nur Zahlen und Fakten lernen, dann können sie die eben auch wieder vergessen, wenn sie nicht mehr für die nächste Prüfung gebraucht werden. Auch sonst bieten sich ihnen wenig Anknüpfungspunkte. Sie spüren, dass es Themen gibt, über die in der Familie nicht gerne gesprochen wird. Die Generation der Großeltern ist oft schon nach dem Krieg geboren und kann nicht aus eigenem Erleben über den Nationalsozialismus und den Holocaust erzählen. In den Familien ist viel Wissen verloren gegangen. Es wäre wichtig, diese Zeit in lokalen Kontexten zu erklären – zum Beispiel der Fragen nachzugehen, wer im eigenen Haus oder in der Nachbarschaft gelebt hat, oder wie sich die eigene Schule während des Nationalsozialismus verhalten hat. Es gibt einen schönen Podcast – gestern ist jetzt – in dem es um Familiengeschichte im Nationalsozialismus geht und wie man diese recherchieren kann.
ijab.de: Kann die außerschulische Jugendarbeit – und damit auch die Internationale Jugendarbeit – etwas besser machen als die Schule?
Cyra Sommer: Außerschulische Jugendarbeit hat die Chance, junge Menschen selber Fragen an die Geschichte stellen zu lassen und es ihnen zu überlassen, womit sie sich beschäftigen wollen. Lokale Recherche kann dabei eine Rolle spielen oder die Biografien von Opfern und Überlebenden des Holocaust. Dabei können sie Empathie entwickeln. Jugendarbeit kann sich auch mit ganz anderen Themen beschäftigen, die häufig nicht Teil der Schulbildung sind, zum Beispiel mit jüdischem Widerstand. Dies bricht auch mit dem häufig vorhandenen Narrativ von Juden und Jüdinnen als bloße Opfer. Ich höre auch immer wieder, dass junge Menschen mit Migrationsgeschichte sich angeblich nicht für die Nazizeit und den Holocaust interessieren. Ich glaube nicht, dass das so stimmt. Der Zweite Weltkrieg, die deutsche Besatzung vieler Länder, die Deportation und Ermordung der dortigen Jüdinnen und Juden waren globale Ereignisse, die auch die Herkunftsländer dieser jungen Menschen betroffen haben. Jugendarbeit hat die Möglichkeit das aufzugreifen. Es gilt, für junge Menschen – egal welcher Herkunft – Anknüpfungspunkte zu schaffen.
Abseits von der Auseinandersetzung mit Geschichte muss es aber auch darum gehen, junge Menschen über heutige Erscheinungsformen von Antisemitismus zu informieren, sie zu sensibilisieren und letztlich auch zu empowern – damit sie sich für eine offene, demokratische Gesellschaft ohne Antisemitismus und Diskriminierung engagieren. Die internationale Jugendarbeit, die sich ja nicht zuletzt für Menschenrechte und demokratische Bildung stark macht, kann zu all dem einen Beitrag leisten. Dafür muss es wiederum gut qualifizierte Fachkräfte geben, die sich auch mit dem Thema Antisemitismus auskennen.
Mit der langjährigen Erfahrung im deutsch-israelischen Austausch, den ConAct seit über 20 Jahren begleitet, sehen wir ein großes Potential des deutsch-israelischen Austausches auch in der Wirkung gegen Antisemitismus. Das Erleben der Vielfalt und Diversität der israelischen Gesellschaft stößt bei jungen Menschen, Lern- Verstehens- und Reflexionsprozesse an, die sie letztlich vor vorschnellen Urteilen oder vereinfachten Bildern schützt.
Über das Projekt
Das Projekt „Sichtbar Handeln! Gegen Antisemitismus.“ wird seit 2020 von ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch in Kooperation mit der Israel Youth Exchange Authority und dem Council of Youth Movements in Israel durchgeführt und im Jahr 2023 durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Es zielt darauf ab, Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland einen Lern- und Diskussionsraum zu eröffnen und ihre persönliche Sicherheit im Umgang mit antisemitischen Äußerungen in der Jugend- und Bildungsarbeit in Deutschland zu stärken. Nach dem Konzept „Bildung in Deutschland – Begegnung mit Israel“ wird das Lernen zum Themenfeld Antisemitismus mit einer Begegnungsreise in die vielfältige Gesellschaft Israels verbunden.
- Mehr Infos: https://sichtbar-handeln.org/
- Kontakt und Interessent*innenliste: https://sichtbar-handeln.org/kontakt/
- Neu: Methodensammlung zum Thema Antisemitismus: https://sichtbar-handeln.org/methodensammlung/
- Infos zu ConAct und dem Deutsch-Israelischen Jugendaustausch: www.conact-org.de