Ein Teil eines Flugzeugflügels vor einem wolkenlosen Himmel Ein Teil eines Flugzeugflügels vor einem wolkenlosen Himmel
Trägerkonferenzen des BMFSFJ

Dürfen wir jetzt nicht mehr fliegen?

Ein Interview zu nachhaltiger Jugendmobilität

Eine nachhaltige internationale Jugendmobilität war einer der thematischen Schwerpunkte der jüngsten Trägerkonferenz des Bundesjugendministeriums. Dass das wichtig und richtig ist, darüber sind sich Träger und Förderer einig. Aber was bedeutet das für die pädagogische Praxis und für die Förderrichtlinien? Géraldine Cromvel und Carolina Sachs von der Solidaritätsjugend Deutschlands plädieren für einen Nachhaltigkeitsbegriff, in dem auch soziale Aspekte ihren Platz finden. Sandra Kleideiter hat mit ihnen gesprochen.

01.08.2024 / Sandra Kleideiter

Sandra Kleideiter: Die diesjährige Trägerkonferenz hat sich mit dem Themenfeld „Nachhaltige Gestaltung internationaler Jugendmobilität" auseinandergesetzt. Dabei richtet sich das Verständnis von Nachhaltigkeit auf verschiedene Dimensionen: ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit. Wie habt ihr die Debatten dazu bei der Konferenz wahrgenommen?

Géraldine Cromvel: Oftmals wird in den Fachdebatten ein großer Schwerpunkt auf die ökologische Nachhaltigkeit gelegt. Für mich beinhaltet Nachhaltigkeit aber nicht nur die ökologische Dimension. Wenn wir von Nachhaltigkeit bei der Solidaritätsjugend Deutschlands sprechen, dann ist unser Anliegen vor allem, nachhaltige Partnerschaften zu pflegen. Wir setzen uns mit unserer Arbeit für eine soziale, gerechte, demokratische und nachhaltige Gesellschaft ein. Das ist unser Ansatz. Wir versuchen mit unseren Partnern gemeinsame internationale und europäische Projekte durchzuführen und uns zu vernetzen. Wenn wir bei uns auf die Umsetzung ökologischer Nachhaltigkeit schauen, haben wir sicherlich noch Luft nach oben. Das liegt auch daran, dass die Hürden hier groß sind und die Rahmenbedingungen dies erschweren.

Unsere Realität in der Praxis ist oft eine andere

Sandra Kleideiter: Vor welchen Herausforderungen steht denn die europäische und internationale Jugendarbeit beim Thema „Nachhaltige Gestaltung internationaler Jugendmobilität“?

Carolina Sachs: Das Thema ist grundsätzlich sehr wichtig. Ich selbst lebe soweit wie möglich ökologisch, fahre viel Fahrrad und achte darauf, was ich verbrauche. Bei jedem Einkauf produziere ich trotzdem viel Müll, das tut mir in der Seele weh. Mir ist wichtig, dass die nachfolgenden Generationen noch etwas von unserer Umwelt haben und natürlich auch, dass sie ein Bewusstsein für die Wertschätzung unserer Natur entwickeln. Auf der Trägerkonferenz haben wir gehört, dass eine nachhaltige Gestaltung internationaler Jugendmobilität finanziell gefördert werden soll. Das hört sich erstmal sehr gut an. Dennoch ist unsere Realität in der Praxis oft eine andere: Wir müssen beispielsweise möglichst früh Flüge buchen, damit es bezahlbar bleibt. Und wenn fliegen billiger ist, dann fliegen wir, damit möglichst viele junge Menschen an der Maßnahme teilnehmen können und nicht nur diejenigen, die es sich finanziell leisten können, insbesondere nach Corona. Wenn es Kosteneinsparungen wegen ökologisch nachhaltigerer Konzeption von Maßnahmen geben sollte, wären meine Bedenken: Bitte nicht an Teilnehmendenzahlen sparen.

Géraldine Cromvel: Ja genau. Wir sind gezwungen, die Kosten in allen Bereichen zu reduzieren. Wir müssen kostengünstigeres Material kaufen. Zum Beispiel haben wir kein Geld, einen Fair-trade-Fußball zu kaufen. Das ist einfach zu teuer. Die europäische und internationale Jugendarbeit müsste hier finanziell besser abgesichert sein. Wir haben deswegen als Solijugend das Positionspapier des DBJR „Europäische und internationale Jugendarbeit endlich absichern!“ maßgeblich mitgeschrieben.

Wir brauchen nachhaltige Strukturen

Sandra Kleideiter: Die Forderung nach einer besseren finanziellen Absicherung ist immer wieder präsent im Praxisfeld der europäischen und internationaler Jugendarbeit. Spielt sie im Themenfeld der Nachhaltigkeit eine besondere Rolle?

Géraldine Cromvel: Um ökologisch nachhaltig internationale und europäische Jugendarbeit gestalten zu können, brauchen wir nachhaltige Strukturen. Es ist ein wichtiges Thema, aber die Rahmenbedingungen fehlen uns dazu. Eine nachhaltige Anreise zu gestalten ist dazu auch noch eine Zeitfrage. Eine längere Anreise verlängert ein Projekt und dann stehen wir wieder vor neuen Herausforderungen.

Carolina Sachs: Nochmal zur Frage der Förderung: Was bedeutet das für die Förderung, wenn die Gestaltung von ökologischen Maßnahmen zu einer Förderbedingung wird? Ich befürchte, dass es im Namen der ökologischen Nachhaltigkeit weitere Einsparungen im Bereich der Internationalen Jugendarbeit geben könnte. Mir ist es aber wichtig, dass die Internationale Jugendarbeit nachhaltig gesichert wird und bleibt. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder auch noch international reisen können und junge Menschen, gerade aus Familien, die nicht so viel Geld in der Tasche haben, ebenfalls noch die Möglichkeit erhalten, wie wir sie hatten, einen ökologischen oder sozialen Freiwilligendienst in einem anderen Land absolvieren zu können, wo sie Menschen aus anderen Ländern begegnen und voneinander lernen können. Dies trifft auch auf die internationalen Maßnahmen der Solijugend zu, mit denen wir jungen Menschen die Möglichkeit geben wollen ihre Komfortzone zu verlassen und die Perspektive zu ändern. Auch dadurch tauschen sich junge Menschen über globalpolitische Herausforderungen aus und bringen Probleme, die international bearbeitet werden müssten, mit in die jeweils nationale Debatte. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG´s), der durch mögliche Einsparungen auch wegfallen würde. Jetzt ist gerade die richtige Zeit, um mehr Geld in den Bereich der europäischen und internationalen Jugendarbeit zu stecken. Eine zusätzliche Frage wäre, was es bedeutet, wenn die Förderung auf nachhaltige Begegnung ausgerichtet ist. Dürfen wir dann weniger reisen? Ich denke, dass wir als Grundlage für eine ökologische nachhaltige internationale Jugendarbeit unbedingt sozialpolitisch Handeln müssen, um den Bereich für die Zukunft zu stärken. Damit ist auch eine ökonomische Absicherung verbunden, erst dann können wir ökologisch nachhaltig agieren. Das baut alles aufeinander auf.

Können überhaupt alle Teilnehmenden Fahrrad fahren?

Sandra Kleideiter: Das Themenfeld der Nachhaltigkeit spielt ja nicht nur in der Gestaltung einer Maßnahme eine Rolle. Es kann ja auch zum Thema der Maßnahmen werden. Dann geht es darum, Bewusstsein zu schaffen, inhaltlich dazu zu arbeiten. Arbeitet ihr mit solchen inhaltlichen Konzepten?

Carolina Sachs: Ja, wir haben das Thema Umweltschutz in einem Projekt mit unserem tunesischen Partner bearbeitet und auch Workshops zu den SDGs durchgeführt. Das Thema kommt immer wieder vor in unseren Maßnahmen und wird auch von unseren Partnern gefordert. Wir feiern dieses Jahr 60 Jahre internationale Jugendbegegnungen und 70 Jahre Solijugend. Da kommen im Sommer wieder 250 Jugendliche aus 9 Ländern in Süddeutschland zusammen. Als Teil des ehemals größten Radsportverbands der Welt fände ich es interessant, wenn alle Jugendlichen zur Fortbewegung vor Ort ein Fahrrad bereitgestellt bekämen und dies auch gefördert werden würde. Diese Mobilitätsform könnte man auch in die inhaltliche Arbeit mit einbeziehen. Diese Art von Förderung während der Begegnung wäre tatsächlich interessant und wünschenswert. Aber dann müssen wir uns die Frage stellen: Können überhaupt alle Teilnehmenden Fahrrad fahren?

Géraldine Cromvel: Demnächst haben wir auch eine trilaterale Teamer*Innenausbildung: Deutschland, Frankreich, Marokko. Auf der Reise von Frankreich nach Deutschland reist die ganze Gruppe zusammen. Da könnte man die Idee von Oliver Camp von Sand für alle e.V. ausprobieren, schon die Reisezeit als Begegnungsphase zu gestalten. Das Thema der ökologischen Nachhaltigkeit ist bei der Planung unserer Maßnahmen und Projekte immer präsent, nur nicht bis ins kleinste Detail. Unser Fokus liegt in erster Linie auf der Gestaltung nachhaltiger Partnerschaften und die müssen gerade nach Corona dringend gepflegt und gestärkt werden.

Nicht aus einer kolonialen Denkweise heraus diskutieren

Sandra Kleideiter: Ist das Thema bei euren Partnern präsent?

Carolina Sachs: Wie bereits erwähnt hatten wir Projekte zum Thema Umweltschutz mit unserem tunesischen Partner und 2020 während der Coronazeit mit unserem türkischen Partner im Projekt Global Education zu genau diesem Themenspektrum. Allerdings müssen wir auch aufpassen, dass das Thema nicht aus einer kolonialen Denkweise heraus diskutiert wird. Denn unsere Partner aus dem globalen Süden haben oft auch mit ganz anderen Herausforderungen zu kämpfen. Da ist es auch wichtig, die Bedarfe und Themen der Partner mitzudenken, um nachhaltig auf Augenhöhe
arbeiten zu können.

Géraldine Cromvel: Wir müssen auch unsere Jugendlichen fragen, was denen wichtig ist und gemeinsam entscheiden, wie wir ökologische Nachhaltigkeit umsetzen wollen. Wir könnten natürlich auch Dinge aufzwingen, wie z.B.: Wir fahren nur noch Fahrrad oder wir essen nur noch vegan. Aber das ist meiner Meinung nach nicht zielführend und höchstwahrscheinlich kommt dann keiner mehr.

Sandra Kleideiter: Es gibt unterschiedliche Angebote für die Praxis wie z.B. die cliMATEs-App, die von der Naturfreundejugend Deutschlands vorgestellt wurde. Nutzt ihr solche Angebote? Braucht es hier mehr oder anderes?

Géraldine Cromvel: Bisher haben wir solche Apps nicht genutzt. Unsere Priorität liegt mehr auf dem ökologischen Handabdruck. Dem Zeigen von positiven Effekten.

Die Richtlinien müssten noch flexibler werden

Sandra Kleideiter: Welche Debatten müssen eurer Meinung nach jetzt weiter geführt werden? Was braucht die Trägerlandschaft?

Carolina Sachs: Die Frage, die öfter von jungen Menschen gestellt wird, lautet: Warum dürfen Politiker*innen und Fußballspieler*innen im Inland fliegen, aber die junge Generation soll auf den ökologischen Fußabdruck achten? Die internationale Jugendarbeit ist nicht der größte CO2 Verursacher im Vergleich mit großen multinationalen Konzernen. Es gibt den Druck, möglichst schnell ökologisch nachhaltig Maßnahmen zu gestalten. Wir sollten den Druck etwas rausnehmen und uns aktuell auf die Soziale Frage im Land konzentrieren. Die Ungleichheit steigt und es stehen starke Kürzungen im Bereich Jugend bevor. Wie werden wir damit umgehen und welche Wertschätzung erfahren die Jugend und die internationale Jugendarbeit aktuell und in Zukunft in Deutschland? Diese Frage interessiert mich angesichts der aktuellen Lage gerade etwas mehr. Wie gesagt: ökonomische Nachhaltigkeit, soziale Nachhaltigkeit und dann können wir über ökologische Nachhaltigkeit sprechen.

Géraldine Cromvel: Das Antragswesen muss weniger bürokratisch gestaltet werden, allein die Förderlogik im Kontext von Anschaffungen. Die Richtlinien müssten noch flexibler werden, um einfacher nachhaltig Dinge über die Maßnahme hinaus anschaffen zu können. Die soziale Nachhaltigkeit müsste stärker definiert werden. Hier ist eine breitere Darstellung notwendig, was alles unter Nachhaltigkeit beim Träger gemacht wird. Soziale und ökologische Nachhaltigkeit dürfen sich auch nicht gegenseitig ausspielen. Z.B. denen, die noch nie die Chance hatten, zu fliegen, nimmt man dann die Möglichkeit weg, wenn die Förderung prekär bleibt. Ökologische Werte dürfen nicht die soziale Ungleichheit bestimmen.


Das Interview führte Sandra Kleideiter, plan BeE – Beratung und Expertise.

Carolina Sachs ist seit Juli 2019 Referentin für Internationales der Solidaritätsjugend Deutschlands. Sie leitet gemeinsam mit ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen die verbandseigene, gleichnamige „AG Internationale Jugendpolitik“. Die jährlichen internationalen Jugendbegegnungen mit bis zu zwölf ausländischen Partnerverbänden koordiniert sie zusammen mit dem hauptamtlichen Team der Solijugend. Carolina Sachs war Mitglied der Arbeitsgruppe Internationale Jugendpolitik des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR) und arbeitete gemeinsam mit Kolleg*innen des Beethovenkreises - dem informellen Zusammenschluss der Arbeiterjugendverbände im DBJR — während der Corona-Zeit das Positionspapier „Internationale Jugendverbandsarbeit in Krisenzeiten ermöglichen und sichern“ aus.

Géraldine Cromvel ist seit 2017 für die Planung, Organisation und Durchführung von Seminaren, Freizeiten und internationalen Jugendbegegnungen, sowie Fortbildungen zuständig. Des Weiteren koordiniert sie seit 2022 ein deutsch-französisches Fachkräftenetzwerk zwischen Akteuren und Fachkräften der Jugend(sozial)arbeit der Partnerregionen Hessen und Nouvelle-Aquitaine. In ihrer Arbeit bearbeitet sie relevante jugendpolitische Themen und vertritt die Solidaritätsjugend Deutschlands u.a. im Deutschen Bundesjugendring. Als Fachkraft für Prävention Sexualisierter Gewalt in der Jugendarbeit berät sie die Solijugend und ihre Untergliederungen bei der Erstellung von Schutzkonzepten.

Die Solidaritätsjugend Deutschlands ist ein Jugendverband mit Wurzeln in der Arbeiter*innensportbewegung. Die Solijugend setzt sich für eine soziale, gerechte, demokratische und nachhaltige Gesellschaft ein – durch Seminare, Workshops, Freizeiten und internationale Jugendbegegnungen. Sie ist anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und eigenständige Jugendorganisation des RKB „Solidarität“ Deutschland 1896 e. V., einem Verband für Rad-, Motor-, Roll- und Breitensport.

Ein Mann beugt sich über einen Tisch und schreibt etwas, im Hintergrund diskutieren mehrere Menschen.
Trägerkonferenzen des BMFSFJ

Alle zwei Jahre lädt das Bundesjugendministerium zur "Zentralen Trägerkonferenz zur Fortentwicklung der europäischen und internationalen Jugendpolitik und Jugendarbeit" ein.

Über das Thema Nachhaltigkeit

Die Klimadiskussion und die damit verknüpfte Frage, wie Mobilität bei Austausch und Begegnung nachhaltig gestaltet werden kann, bewegt auch IJAB.