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Demokratie und Menschenrechte

„Wir wollen unser Land zurück“

Belarus nach hundert Tagen Protest

Die Proteste gegen Diktator Lukaschenko gehen in Belarus unvermindert weiter – nun schon seit über hundert Tagen. Die Repression durch das Regime nimmt weiter zu. Wie erleben junge Menschen, die sich für einen demokratischen Wandel einsetzen, die Situation? IJAB hat darüber mit Marharyta Vorykhava vom Europäischen Jugendparlament und Vorstandsmitglied von RADA, dem Zusammenschluss der unabhängigen Jugendorganisationen in Belarus, gesprochen.

19.11.2020 / Christian Herrmann

ijab.de: Marharyta, du engagierst dich beim Europäischen Jugendparlament in Belarus. Was machst du dort?

Marharyta Vorykhava: Ich bin dort „safe person“. Das heißt, alle die Probleme haben, können sich an mich wenden. Ich versuche sie dann psychologisch zu unterstützen. Außerdem bin ich im Vorstand von RADA, dem Zusammenschluss der unabhängigen Jugendorganisationen in Belarus. Ich bin ihr neues Vorstandsmitglied.

ijab.de: Wie ist die Situation in Minsk?

Marharyta Vorykhava: Die Dinge stellen sich für unterschiedliche Menschen unterschiedlich dar. Einige tun so, als würde nichts geschehen. Für einige gehört es jetzt zur Morgenroutine, die Nachrichten zu checken – sie leben in der ständigen Angst, sie könnten ihre Freundinnen und Freunde auf der Liste der Verhafteten entdecken.

ijab.de: Es passiert ziemlich viel. Die Proteste dauern nun schon über hundert Tage an. Überrascht dich das?

Marharyta Vorykhava: Ehrlich gesagt, ja. Gestern war tatsächlich der hundertste Tag der Proteste. Dass Proteste so lange andauern, ist für Belarus sehr ungewöhnlich. Es gab ja auch schon in der Vergangenheit Proteste, aber die waren immer nach ein paar Tagen oder Wochen vorbei.

ijab.de: Mein Eindruck ist, dass die Repression zugenommen hat. Was ist deine Beobachtung?

Marharyta Vorykhava: Ja, das nehme ich auch so wahr. Am vergangenen Sonntag sind zum Beispiel etwa 1.100 Menschen verhaftet worden. So viele waren es noch nie an einem einzelnen Tag. Auch Vertreterinnen und Vertreter des Koordinierungsrats, der die Opposition repräsentiert, wurden verhaftet. Viele Studentinnen und Studenten wurden verhaftet und die Brutalität, mit der die Polizei vorgeht, hat zugenommen.

ijab.de: Warst du davon auch schon betroffen?

Marharyta Vorykhava: Mental ja, physisch nein. Bisher habe ich Glück gehabt und habe es bei allen Demonstrationen geschafft, mich nicht schnappen zu lassen.

ijab.de: Am Sonntag wurde Roman Bondarenko gedacht, der von Polizisten ins Koma geprügelt wurde und dann im Krankenhaus starb. Du warst dort. Wie war das?

Marharyta Vorykhava: Es war beängstigend. Ich hatte den Eindruck, dass mehr Polizisten als Demonstranten dort waren. Sie haben irgendwann angefangen, uns einzukesseln. Erst sagte ein Polizeioffizier, er wolle keine Gewalt und wir sollten mit zum Polizeipräsidium kommen, um dort unsere Personalien aufnehmen zu lassen. Dennoch wurde Sekunden später ein Mädchen geschlagen und fing an zu schreien. Dann haben sie angefangen die Leute zu verhaften und abzutransportieren. Ich hatte Glück und konnte entwischen. Danach haben die Polizisten alles zerstört, was die Menschen mitgebracht haben: die Blumen, die Kerzen, die Fahnen. Das war unmenschlich.

ijab.de: Haben die die Proteste immer noch dieselbe Größenordnung? An vielen Sonntagen haben hunderttausend Menschen oder sogar noch mehr allein in Minsk demonstriert. Und wie sind die generellen Perspektiven?

Marharyta Vorykhava: Das Protestpotenzial der Belarusinen und Belarusen ist sehr groß, es hat sich nicht erschöpft, es geht weiter. Und es nimmt neue Formen an. Ich meine, es ist nicht nur auf den Straßen – regionale, zivilgesellschaftliche Strukturen sind bereits geschaffen worden: in Höfen, in Nachbarschaften, eine große Zahl von Internetchats ist entstanden. Was wir auch sehen: Lukaschenko hat seine Rhetorik geändert. Früher wollte er von einem Machtverzicht nichts wissen, jetzt redet er davon etwas von der Macht des Präsidenten an das Parlament zu übertragen. Er gibt zu, dass die Proteste sich nicht einfach in Luft auflösen – sie finden konstant statt. Die Belarusinnen und Belarusen wollen gehört werden.

ijab.de: Spielt die Corona-Pandemie noch eine Rolle? Die Infektionszahlen steigen auch in Belarus. Und die Epidemie hatte auch Auswirkungen auf die Wahlen, weil die offiziellen Zahlen offenkundig zu niedrig angesetzt waren und Lukaschenko das Problem hartnäckig leugnete.

Marharyta Vorykhava: Vor den Wahlen hatte Corona sicher eine Auswirkung auf die öffentliche Meinung. Jetzt sind wir in einer anderen Situation. Die steigenden Infektionszahlen führen natürlich dazu, dass die Demonstranten jetzt konsequent Masken tragen und Desinfektionsmittel benutzen.

ijab.de: Lass uns über junge Menschen sprechen. Wie ist deren Situation im Moment?

Marharyta Vorykhava: Viele Studentinnen und Studenten sind von der Uni gefeuert worden. Wer bei Protesten gesehen oder von Überwachungskameras gefilmt wurde, muss damit rechnen, rauszufliegen. Einige meiner Freundinnen und Freunde sind davon betroffen. Aber wir haben keine Angst mehr. Wir kümmern uns jetzt um unser Land und nicht um unsere Ausbildung.

ijab.de: Bei den Protesten in der Ukraine – 2013 und 2014 – spielte die Anbindung des Landes an die EU eine wesentliche Rolle. Das ist in Belarus offensichtlich nicht der Fall. In welche Richtung schaust du? Nach Westen oder nach Osten?

Marharyta Vorykhava: Ich würde nicht sagen, dass es bei den Protesten um so eine Richtungsentscheidung geht. Im Augenblick wäre es auch nicht der richtige Zeitpunkt, der EU beizutreten. Wir brauchen die Demokratie als Werkzeug, aber wir brauchen auch unsere Unabhängigkeit. Das wichtigste ist, dass die Macht in den Händen des Volkes liegt. Natürlich sind wir Ländern wie Polen, Litauen oder Deutschland für ihre Unterstützung dankbar. Es ist wichtig für uns, diese Solidarität zu spüren. Aber erst mal wollen wir unser Land zurück.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.