Eine junge Frau lehnt sich gegen eine Blechwand Eine junge Frau lehnt sich gegen eine Blechwand
Liliia Steptschenko
Demokratie und Menschenrechte

Wir sind eine starke Gemeinschaft

Jugendarbeit während des Krieges in der Ukraine

Liliia Steptschenko war Langzeitfreiwillige im Bonner Büro von Service Civil International. Im Sommer letzten Jahres kehrte sie in der Ukraine zurück und begann im Jugendzentrum ihrer Heimatstadt zu arbeiten. Am 24. Februar überfiel Russland die Ukraine. An diesem Tag veränderte sich auch Liliias Leben schlagartig. Jetzt geben ihr die Jugendarbeit und die Arbeit mit Geflüchteten die Kraft weiterzumachen. IJAB hat mir ihr gesprochen.

29.06.2022 / Christian Herrmann

ijab.de: Liliia, du lebst in Bila Zerkwa, südlich von Kyjiw. Wie ist die Situation in der Stadt?

Liliia Steptschenko: Dank unserer Armee ist die Lage im Augenblick stabil. Vor ein paar Wochen war es sehr viel schlimmer – du hast es ja gesagt, wir sind nicht weit von Kyjiw entfernt. Im Augenblick haben wir mehrere Luftalarme am Tag, aber die Menschen haben sich schon so daran gewöhnt, dass sie nicht immer in den Keller gehen. Außerdem gibt uns unsere Luftabwehr ein Gefühl der Sicherheit.

ijab.de: Bei unserem letzten Gespräch klangst du sehr niedergeschlagen und wolltest kein Interview geben. Jetzt hast du von dir aus angeboten, etwas zu erzählen. Was hat sich verändert?

Liliia Steptschenko: Ich bin jetzt Jugendarbeiterin in unserem lokalen Jugendzentrum. Das ist für mich ein wichtiger Schritt. Außerdem haben sich unsere Rahmenbedingungen verbessert. Bis vor kurzem gab es keine Definition, was Jugendarbeit überhaupt ist. Jetzt haben wir ein neues Gesetz und ich bin Teil einer anerkannten Berufsgruppe. Am 1. September bin ich aus Deutschland zurückgekommen und habe angefangen im Jugendzentrum zu arbeiten. Zu uns kamen viele junge Menschen und wir haben das angeboten, was sie interessierte: Workshops oder Vorträge zu ihren Wunschthemen zum Beispiel oder Freizeitaktivitäten und Entwicklung und Umsetzung eigener kleiner Projekte. Während des Lockdowns haben wir das online fortgeführt. Durch das Ukraine-Programm von USAID haben wir im Wettbewerb “Youth HERE: create a community of youth perspectives” innerhalb des Programms “We dream and act” Sach- und Personalmittel gewonnen.

Am frühen Morgen wurde ich durch zwei Luftangriffe geweckt

ijab.de: Wie ging es dann weiter?

Liliia Steptschenko: Am 26. Februar wollten wir das einjährige Bestehen unseres Jugendzentrums feiern. Am frühen Morgen wurde ich durch zwei Luftangriffe geweckt. Ich hörte zwei schwere Einschläge. Ich war zuhause und hatte das – wie viele andere auch – nicht erwartet. Ich habe sofort angefangen, SMS an die Mitglieder meiner Jugendgruppe zu schreiben. Wo seid ihr, seid ihr okay? Ich habe mir wirklich große Sorgen gemacht. Ein Jugendlicher schrieb mir, die Einschläge seien sehr nah und sehr laut gewesen. Dann bin ich in Panik geraten, hatte aber keine Ahnung, wohin ich laufen sollte.

Später sind meine Familie und ich dann in ein benachbartes Dorf gezogen, meine Großmutter hat dort ein Haus. Meine Eltern gingen weiter zur Arbeit, meine Mutter arbeitet in einem Krankenhaus. Sie wird dort gebraucht und kann sich nicht einfach freinehmen. Bei meinem Vater ist es genau so. Die nächsten Wochen waren sehr hart. Ich habe die ganze Zeit die Nachrichtenkanäle rauf und runter gescrollt. Ich konnte nichts essen, es ging mir wirklich schlecht. Dann habe ich mir gedacht: Du musst jetzt etwas tun. Das hat sich dann als Therapie erwiesen.

Ich bin jetzt wieder zuhause in Bila Zerkwa. Bei Luftalarm sind wir aufgefordert, uns im Treppenhaus aufzuhalten, weil das sicherer sein soll. Ich weiß nicht, ob das stimmt – wir haben ja alle die Bilder aus Kyjiw und Charkiw gesehen. Das wichtigste ist: Ich arbeite jetzt wieder. Unser Jugendzentrum ist jetzt ein Registrierungszentrum für Geflüchtete. Wir kümmern uns jeden Tag um das Gebäude und um die Geflüchteten. Wir reden mit ihnen, geben ihnen Informationen, wo sie eine Unterkunft, Kleidung, Lebensmittel und einen Arbeitsplatz bekommen können. Einige von ihnen sind buchstäblich nur mit dem, was sie am Leib trugen, zu uns gekommen.

Die Geflüchteten sind Teil unserer Gemeinschaft

Inzwischen hat sich die Situation stabilisiert. Die Hälfte unseres Gebäudes wird jetzt zum Lagern und Verteilen von Spenden genutzt. Wir haben hier Spielzeug, Spiele, Kinderwägen und mehr – alles was Kinder brauchen. Das alles sind Spenden und es ist wirklich erstaunlich, wie schnell die Leute verstehen, was gebraucht wird, und wie bereitwillig sie es hergeben. Wir haben hier ein sehr starkes Gemeinschaftsgefühl und das ist auch etwas, das mir sehr hilft.

Wir versuchen, unsere Unterstützung professioneller werden zu lassen. Viele der Geflüchteten sind traumatisiert. Die Workshops mit Militärpsychologen haben mir geholfen zu verstehen, was in ihnen vorgeht. Uns ist es außerdem wichtig, dass sich die Geflüchteten hier zuhause fühlen, dass sie Teil unserer Gemeinschaft werden und kein Fremdkörper sind. Auch dafür versuchen wir uns fortzubilden und auszutauschen.

ijab.de: Das ist sehr weit weg von dem, was du als Jugendarbeiterin bisher gemacht hast.

Liliia Steptschenko: Ja, andererseits habe ich auch das Workcamp als Methode wiederentdeckt und das ist ja etwas, was ich von meiner Zeit bei SCI in Deutschland kenne. Die NGO Building Ukraine Together (BUR) bietet Workcamps an und ich habe an einem ihrer Workcamps in Drohobytsch im Westen der Ukraine teilgenommen. Die Idee von BUR war ursprünglich, Freiwillige aus der Westukraine in die Ostukraine zu bringen, um dort Kriegsschäden zu beseitigen. Das war einerseits praktische Hilfe, andererseits hat es geholfen, gegenseitige Vorurteile abzubauen. Wegen des Krieges kann man das im Augenblick natürlich nicht machen, aber die Ziele bleiben. In Drohobytsch haben wir ein Studentenwohnheim renoviert, das jetzt als Unterkunft für Geflüchtete dient. Mir hat das riesigen Spaß gemacht. Ich hatte keine Ahnung, wie man eine Wand verputzt, aber wenn man professionelle Anleitung bekommt, dann geht es. Auch die Arbeit mit den anderen Freiwilligen und die vielen Kontakte in Drohobytsch, die ich Dank dieses Workcamps machen konnte, haben mir großen Spaß gemacht. Die Freiwilligen in unserer Gruppe waren total unterschiedlich und trotzdem ist innerhalb kurzer Zeit eine starke Gemeinschaft entstanden. Ich überlege schon, ob wir BUR irgendwie mit einem Workcamp nach Bila Zerkwa bekommen können.

Für mich ist das außerdem eine Perspektive für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg. Wenn ich das richtig versanden habe, gab es die ersten Workcamps nach dem Ersten Weltkrieg und auch da ging es um die Überwindung der Kriegsschäden in vielfacher Hinsicht. Auch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es solche Beispiele.

ijab.de: Wie kann es mit deinem Jugendzentrum in Bila Zerkwa weitergehen?

Liliia Steptschenko: Wir überlegen, wie wir weiterarbeiten können, wie wir die Jugendarbeit wiederaufbauen können. Wir müssen die Geflüchteten in das Leben unserer Stadt integrieren und ich möchte, dass das starke Gemeinschaftsgefühl bleibt. Zu uns sind junge Menschen aus unterschiedlichen Minderheiten gekommen. Sie gehören zu unserer Gemeinschaft. Wir stehen in einem gemeinsamen Dialog mit ihnen und versuchen ihre Integration so leicht wie möglich zu machen.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.