Alexandra Polivanova Alexandra Polivanova
Alexandra Polivanova
Demokratie und Menschenrechte

„Wir dürfen nicht in einem schwarzen Loch verschwinden“

Die russische Zivilgesellschaft zwischen Repression und Hoffnung

Alexandra Polivanova ist im Vorstand des Netzwerks International Memorial und kuratiert die Forschungsprojekte des Moskauer Zentrums von Memorial. 1989 gegründet, ist Memorial eine der größten und ältesten Bürgerrechtsorganisationen in Russland. IJAB hat mit ihr über die Situation der Zivilgesellschaft, den Austausch zwischen Russland und Deutschland sowie über die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte gesprochen.

20.07.2021 / Christian Herrmann

ijab.de: Alexandra, Memorial hatte einmal eine eigenständige Jugendorganisation, die zum Beispiel internationale Workcamps in Perm 36, einem ehemaligen Gulag-Lager durchgeführt hat. Was ist aus der Jugendorganisation geworden?

Alexandra Polivanova: Wir haben eine ganze Menge generationsübergreifende Projekte bei Memorial. In den Regionen Moskau und Perm sind junge Menschen besonders stark vertreten und dort gab es in der Vergangenheit auch Jugendorganisationen. Inzwischen haben wir sie in unsere örtlichen Gruppen eingegliedert. Die Jugendorganisationen wollten damit einer Kennzeichnung als „ausländische Agenten“ zuvorkommen. Vielleicht treffen sich die jungen Aktivist*innen immer noch, aber sie haben keine formale Struktur mehr. Bei uns sind immer noch viele junge Menschen aktiv. Inzwischen ist Memorial insgesamt von der russischen Regierung als „ausländischer Agent“ eingestuft.

ijab.de: Welche Auswirkung hat dieses Gesetz über „ausländische Agenten“ in der Praxis?

Alexandra Polivanova: Dieses Gesetz wurde gegen Memorial und andere Bürgerrechts-NGOs gemacht und wir waren eines seiner ersten Opfer. Weil wir ein internationales Netzwerk sind, war es besonders einfach, uns als Agenten des Auslands hinzustellen. Auf allen unseren Publikationen müssen wir angeben, dass wir als „ausländische Agenten“ eingestuft sind. Dir als deutschem Journalisten kann das egal sein, aber wenn ich einem russischen Journalisten ein Interview gebe, dann muss er schreiben, dass wir „ausländische Agenten“ sind. Außerdem bedeutet es viel Verwaltungsaufwand, denn wir müssen den Behörden vier mal im Jahr ausführliche Tätigkeitsberichte vorlegen. Der dritte Effekt ist, dass Menschen und Organisationen Angst vor uns haben. Das betrifft auch unsere Kooperationspartner. Wir können nicht mehr ohne weiteres Ausstellungen oder Bücher mit ihnen machen, denn sie müssen selbst Nachteile befürchten. Inzwischen stehen praktisch alle Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen auf der Liste der ausländischen Agenten.

„Unerwünschte“ Organisationen

ijab.de: Am 26. Mai 2021 hat die russische Generalstaatsanwaltschaft drei deutsche NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, darunter auch den Verein Deutsch-Russischer Austausch. Damit verbunden ist ein Betätigungsverbot in Russland, die russischen Partnerorganisationen stehen unter Strafandrohung, sollten sie die Zusammenarbeit fortsetzen. Damit ist nun auch der Jugend- und Fachkräfteaustausch von der Repression betroffen. Ist das ein Zeichen, dass die Bedingungen für die russische Zivilgesellschaft immer schlechter werden?

Alexandra Polivanova: Einige unserer internationalen Partnerorganisationen sind bereits zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt worden, andere noch nicht. Aber auch die fragen sich, ob das bald der Fall sein wird und was dann geschieht. Betroffen sind international arbeitende Organisationen im Bereich Menschen- und Bürgerrechte und alle, die Werte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. In der Vergangenheit war es immerhin möglich, dass einzelne Personen Unterstützung gefunden haben, zum Beispiel, indem sie ein Praktikum oder einen Freiwilligendienst im Ausland gemacht haben. Auch das ist jetzt unmöglich, zumindest wenn das bei einer „unerwünschten Organisation“ stattfindet.
Viele aus der Frauen-, Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung weichen in non-formale Strukturen von Selbstorganisation aus. Sie haben keine Organisationen und kein Geld, aber sie wachsen.

Alles ist politisch

ijab.de: In Deutschland wird seit Jahren diskutiert, wie politisch der Jugendaustausch sein muss. Wie politisch kann er im Austausch mit Russland sein?

Alexandra Polivanova: Es ist ja letztlich alles politisch, wir müssen es uns nur bewusst machen. Fußball scheint zum Beispiel unpolitisch zu sein, aber es gibt auch Frauenvereine, die zeigen, dass nicht nur Männer Fußball spielen können. Sie verstehen sich als Teil der Frauenbewegung. Sportverbände haben oft keine demokratischen Strukturen und ähneln eher Diktaturen – auch darüber kann man sprechen. 2018, während der Weltmeisterschaft haben wir gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung ein Projekt über den berühmten Moskauer Fußballclub Spartak gemacht und wie er Opfer der stalinistischen Repression wurde. Und Sport ist natürlich auch eine Propagandawaffe.

ijab.de: Nach der großen Protestwelle gegen die Verhaftung und Verurteilung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny ist es wieder ruhig geworden. Bleibt das so?

Alexandra Polivanova: Ja, es scheint ruhig. Eine Menge Leute sind verhaftet worden, andere sind ins Ausland gegangen. Wenn ich auf die Liste meiner Facebook-Freund*innen schau, dann wird mir bewusst, wie viele von ihnen im Gefängnis sitzen oder weggegangen sind. Aber die Dinge können sich auch ändern. Im September haben wir Duma-Wahlen. Eine Menge Kandidaten sind von der Wahl ausgeschlossen worden oder konnten sich nicht registrieren, weil sie mit Nawalny zusammengearbeitet haben. Nach den letzten Duma-Wahlen hat es Massenproteste wegen der Wahlfälschungen gegeben und auch die Ereignisse in Belarus haben gezeigt, wie wütend Menschen werden können, wenn Wahlen manipuliert werden.

„Moralische Unterstützung ist wichtig“

ijab.de: Welche Unterstützung braucht die russische Zivilgesellschaft von der deutschen Zivilgesellschaft in dieser Situation?

Alexandra Polivanova: Moralische Unterstützung ist für mich wichtig. Ich überprüfe ständig meine Werte und wenn ich einen Artikel lese, in dem meine Werte geteilt werden, dann weiß ich, dass nicht ich es bin, die verrückt ist, sondern die Welt um mich herum. Die Menschen können auch demonstrieren. Als Putin letztens in Genf war, um Biden zu treffen, habe ich mich gefreut, wie viele Straßenproteste es gegeben hat. Sie können für die Freilassung von Nawalny demonstrieren, aber es gibt auch noch weitere politische Gefangene – im Augenblick sind es etwa 300. Es geht dabei nicht so sehr um Putin, denn dem sind die Beziehungen zu anderen Ländern egal. Er erzählt eine Menge Unsinn über unsere Nachbarn und fürchtet sich nicht vor den Konsequenzen. Es geht darum, dass wir weiterhin gesehen werden und nicht einfach in einem schwarzen Loch verschwinden. Jeder gewaltfreie Druck, jede Unterstützung einer Graswurzelinitiative sind wichtig.

ijab.de: Memorial ist international vor allem wegen eurer Aufarbeitung des stalinistischen Terrors bekannt geworden. Nun hören wir immer wieder von Stalindenkmälern, die neu errichtet werden. Ist eure Arbeit heute wichtiger denn je?

Alexandra Polivanova: Bei diesen Denkmälern geht es nicht um den historischen Stalin. Es geht um ein Symbol der absoluten Macht und einen starken Staat, in dem ein einzelner Mensch nichts zählt. Wir haben uns mit den Mechanismen der Macht zu beschäftigen, wenn sie unbegrenzt ist. Deshalb untersuchen wir die Geschichte und tragen Beweise zusammen. Wir haben sie darauf zu untersuchen, welche Werte wir in der Gesellschaft brauchen. Im übrigen gibt es jetzt auch ein neues Gesetz, dass auf die Geschichtsschreibung zielt. Wer heute schreibt, das Deutschland und die Sowjetunion beide Polen überfallen haben und damit den 2. Weltkrieg ausgelöst haben, kann dafür verurteilt werden. Nur der Sieg im Krieg soll zählen.

ijab.de: Möchtest du noch etwas sagen, dass dir wichtig ist?

Alexandra Polivanova: Ich denke an meinen Sohn, der Teenager ist, und andere junge Menschen. Putin ist jetzt so lange Präsident, dass sie sich an keinen anderen Präsidenten erinnern können. Viele sind auch nie gereist. Weil Reisen für uns schwierig ist, müssen wir Online-Methoden finden, damit junge Menschen erleben können, dass es da draußen noch eine andere Welt gibt und damit sie ihren Horizont erweitern können. Das ist mir wichtig.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.