Jeremy Borovitz Jeremy Borovitz
Jeremy Borovitz
Demokratie und Menschenrechte

Wir brauchen eine Herdenimmunität gegen Antisemitismus

Ein Gespräch mit Jeremy Borovitz

Antisemitische Straftaten und Stereotype nehmen seit Jahren konstant zu. Die Corona-Pandemie hat die Verbreitung judenfeindlicher Verschwörungstheorien verstärkt. IJAB hat mit dem Berliner Rabbi Jeremy Borovitz über den Zustand der deutschen Gesellschaft und die Herausforderungen für die außerschulische Bildung gesprochen.

15.04.2021 / Christian Herrmann

ijab.de: Jeremy, was bringt einen Rabbi aus New Jersey nach Berlin?

Jeremy Borovitz: Vor fünf Jahren sind meine Frau – sie ist auch Rabbinerin – und ich zum ersten Mal in Berlin gewesen. Ich hatte ein Stipendium und wir wollten ein paar Monate in Europa reisen – unter anderem nach Berlin. Hier gibt es ein vielfältiges und interessantes jüdisches Leben. Wir haben uns in die Stadt verliebt und wollten mehr machen. Wir haben dann einen zweiten Sommer hier verbracht und uns gefragt, was wir hier unterstützen und Neues beitragen können. Vor zwei Jahren haben wir dann die Gelegenheit wahrgenommen, für Hillel – eine große jüdische Studentenorganisation – hier in Berlin mit jüdischen Studenten zu arbeiten. Base Berlin ist ein Leuchtturmprojekt von Hillel Deutschland. Wir vermitteln religiöse Bildung und spirituelle Erfahrung, beschäftigen uns aber auch mit allen möglichen anderen Themen. Soziale Gerechtigkeit ist eines davon.

ijab.de: Ein Jahr nach eurer Ankunft habt ihr euch in der Synagoge in Halle befunden, genau zu dem Zeitpunkt, als ein Attentäter versuchte, alle darin befindlichen Menschen zu töten. Was hast du gedacht, nachdem du den ersten Schock überwunden hattest? Hast du deine Entscheidung bereut, nach Deutschland zu kommen? Hast du gedacht, „es ist alles umsonst, man kann als Jude nicht in Deutschland leben“?

Jeremy Borovitz: Nein, meine Reaktion war genau umgekehrt. Ich dachte, wir müssen bleiben. Wir müssen diese schreckliche Situation in etwas Gutes wenden. Antisemitismus gibt es leider überall auf der Welt. In seinem Hass unterscheidet sich der Schütze von Halle nicht von den Schützen in Pittsburgh oder Paris. Es hilft mir nicht, wenn ich den Ort wechsle. Also, was können wir dagegensetzen?

Halle war kein Anschlag auf „uns alle“

ijab.de: Du hast dich öffentlich sehr kritisch zum Umgang von Politik und Medien mit dem Anschlag von Halle geäußert. Kannst du nochmal erklären, was deine Kritik war?

Jeremy Borovitz: Ich war tatsächlich mit mehreren Dingen sehr unzufrieden. Eine Standardreaktion von Politik und Medien war, dass das ein Anschlag „auf uns alle“ war. Das war er nicht. Es war ein Anschlag auf Juden, Muslime und Migranten. Auf diejenigen, die ständig von „uns alle“ sprachen, ist nicht geschossen worden. Unzufrieden war ich auch mit der Polizei am Tatort. Sie hat uns wie Verdächtige und nicht wie Überlebende eines Anschlags behandelt. Zur Ehrenrettung der Polizei muss ich sagen, dass wir inzwischen einen Dialog darüber haben, was sie in solchen Situationen besser machen können. Und das Echo des Gerichtsverfahrens gegen den Attentäter fand ich auch ziemlich schwierig. Einige haben das Verfahren für die Darstellung ihrer eigenen politischen Agenda genutzt. Die Überlebenden waren ihnen dabei egal.

ijab.de: Ist es falsch, wenn die Politik betont, dass ein antisemitischer Anschlag nicht nur das Problem von Jüdinnen und Juden ist, sondern ein Problem der Gesellschaft insgesamt?

Jeremy Borovitz: Die Situation nach dem Anschlag sagt eine Menge über die deutsche Gesellschaft. Wir haben sehr viel Solidarität erfahren. Hier in Berlin haben sich Menschen vor den Synagogen versammelt und haben damit signalisiert, hier kommt ihr nicht durch, wir schützen die Synagoge und die Menschen in ihr. Diese Solidarität ist wichtig. Dem steht die These des „Anschlags auf uns alle“ entgegen. Mit ihr wird ein Opferstatus reklamiert, den es nicht gibt. Von der Politik erwarte ich Handlungen – auch dann, wenn die Kameras der Medien ausgeschaltet sind.

ijab.de: Was kann Bildung – schulische und außerschulische – dazu beitragen, um eine Gesellschaft gegen Antisemitismus zu immunisieren?

Jeremy Borovitz: „Immunisierung“ gefällt mir gut – vor allem, weil wir ja so viel über Immunisierung in den letzten Monaten gelernt haben. Wir brauchen wohl eine Art Herdenimmunität gegen Rassismus und Antisemitismus. Irgendeinen Anteil rassistischer und antisemitischer Personen wird es immer geben. Aber Leute, wie der Schütze von Halle, interessieren mich dabei eigentlich nicht. Es muss um die Mehrheit in der Gesellschaft gehen. Bildung muss Menschen dazu befähigen, es als Schande zu empfinden, wenn andere angepöbelt oder angegriffen werden. Es muss sie dazu befähigen, dagegen aufzustehen. Das ist schwierig, das braucht Mut. Aber man muss Rassist*innen und Antisemit*innen klarmachen, dass ihr Hass von der Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt wird. Dazu kann Bildung einen Beitrag leisten.

Erfahrungen als Freiwilliger

ijab.de: Du hast selbst mit jungen Menschen gearbeitet – schulisch und außerschulisch. Was sind deine Erfahrungen?

Jeremy Borovitz: Ich war als junger Mann dreieinhalb Jahre als Freiwilliger in der Ukraine. Einen großen Teil der Zeit war ich als American Peace Corps Volunteer in einem Dorf im Oblast Tscherkassy in der Zentralukraine. Vormittags habe ich an der Schule Englisch unterrichtet, nachmittags und abends habe ich als Youth Development Volunteer Beteiligungs- und Freizeitangebote gemacht. Ich habe zum Beispiel gefragt, was die Jugendlichen in ihrem Dorf verbessern möchten. Daraus entstand ein Projekt, in dem wir Abfalleimer gebaut und aufgehängt haben. Weil es im Dorf kaum Freizeitangebote gibt, haben wir Konzerte organisiert. Das Dorf war vor dem Krieg ein typisches Schtetl, also ein Ort, in dem viele Juden lebten. Gemeinsam haben wir zur jüdischen Geschichte geforscht und dazu, wie das Leben früher dort war. In der Schule haben sie wenig Gelegenheit etwas zu erfahren und Juden leben dort nicht mehr.

Dann habe ich für das Joint Distribution Committee – eine jüdische Hilfsorganisation – ein Videoprojekt mit jungen Leuten entwickelt. Drei solcher Videoprojekte konnten wir erfolgreich abschließen – eines davon in Bereschany im Oblast Ternopil. Ich habe dort gemeinsam mit jungen Menschen aus dem örtlichen Waisenhaus an einem Video zur jüdischen Geschichte des Ortes gearbeitet. Die meisten Schüler*innen im Internat des Waisenhauses sind nicht eigentlich Waisen, sie kommen aus kaputten Familien, in denen die Eltern zum Beispiel trinken. Auch für Bereschany gilt: Es gibt wenig Anlässe, etwas über das frühere jüdische Leben zu erfahren. Wir haben das Video dann, als es fertig war, öffentlich gezeigt. Das war eine wichtige Anerkennung und vielleicht bleibt den Jugendlichen, die das Video gemacht haben, und den Zuschauer*innen dies im Gedächtnis haften: In unserem Ort fehlt etwas. Man kann sich Berezhany: My City, My Pride immer noch bei YouTube ansehen.

ijab.de: Was von deinen ukrainischen Erfahrungen könnte man auf Deutschland übertragen?

Jeremy Borovitz: Der lokale Fokus ist wichtig. Wer hat früher hier gelebt? Oh, Rosa hat hier gelebt. Was ist aus ihr geworden? Man sollte aber auch die Gegenwart im Blick behalten. Lerne aus der Vergangenheit und transferiere das Gelernte in die Gegenwart und in die Zukunft. Außerdem muss man aus den bisherigen nationalen Narrativen und Identitäten raus. In Deutschland ist man zu oft Deutscher oder nicht. Man müsste die Frage diskutieren, was es im 21. Jahrhundert bedeutet, deutsch zu sein.

ijab.de: Und was bedeutet es?

Jeremy Borovitz: Das müssen die Deutschen selbst herausfinden. Ich kann dazu nur sagen, dass neue Antworten gebraucht werden.

Neue Mythen hinterfragen

ijab.de: Laut einer repräsentativen Studie des US-amerikanischen Markt- und Meinungsforschungsinstituts ComRes aus dem Jahr 2018 haben 40% der jungen Deutschen zwischen 18 und 34 Jahren nie etwas von Auschwitz gehört. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass in der Schule nicht über den Holocaust und über Auschwitz geredet wurde. Versagt ein Bildungssystem, in dem bei 40% der jungen Menschen nichts davon hängen bleibt?

Jeremy Borovitz: Ich kenne einige wirklich gut gemachte Bildungsprojekte, vor allem solche, in denen nicht nur über Juden geredet wird, sondern auch mit ihnen. Deutschland ist da nicht so schlecht aufgestellt. Dennoch ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, wie wir lernen. In der nonformalen Bildung lernen wir zum Beispiel von Peers. So lerne auch ich. Ich lerne viel von meinem guten Freund Max, mit dem ich letztens über unsere Familien und die damit verbundenen unterschiedlichen Erfahrungen sprach. Das ist etwas sehr Persönliches. Max sagte mir, er habe Angst, was er auf dem Dachboden seiner Eltern finden wird, wenn sie einmal nicht mehr da sind. Angst vor der Vergangenheit der Familie kann eine sehr produktive Emotion sein und man kann sie ins Positive wenden. Wenn man das ehrlich angeht, entstehen auch keine neuen Mythen. 70% der Deutschen glauben zum Beispiel, dass ihre Vorfahren keine Nazis waren, 18% glauben, dass sie Juden geholfen haben. Das ist natürlich Unsinn. Für solche Bildungsprozesse, die viel mit Emotionen und der eigenen Familiengeschichte zu tun haben, bringt die nonformale Bildung gute Voraussetzungen mit. Man merkt dann, dass die Geschichte nicht weit weg ist und das wirft die Frage auf, wie wir mit ihr umgehen wollen.

ijab.de: Wie sollten wir mit ihr umgehen?

Jeremy Borovitz: Wir tragen keine Schuld an der Vergangenheit, aber wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft.

Jeremy Borovitz ist Leiter für jüdische Bildung bei Base Berlin/Hillel Deutschland. Mehr Informationen über seine Arbeit finden Sie unter www.basehillel.de.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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