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Zerstörte Autos in der ukrainischen Stadt Irpin
Demokratie und Menschenrechte

„Russland zerstört alles“

Jugendorganisationen fordern mehr Gehör für junge Menschen

Natalia Shevchuk ist Vorsitzende des Nationalen Jugendrats der Ukraine. Ivan Paramonov ist Aktivist der Jugend-NGO Shtuka, die sich für den Erhalt der kulturellen Ökosysteme in den Regionen Donezk und Luhansk einsetzt. Russlands Angriffskrieg hat ihr Leben grundlegend verändert. Natalia setzt sich international dafür ein, dass junge Menschen aus der Ukraine gehört werden. Ivan liefert humanitäre Hilfsgüter in die befreiten und umkämpften Gebiete.

20.03.2023 / Christian Herrmann

ijab.de: Ivan, du hast in der Region Donezk gelebt und gearbeitet. Was hat sich dort seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 verändert?

Ivan Paramonov: Es hat sich natürlich alles verändert, auch für mich. Jede Form von Aktivismus, wie wir sie früher kannten, ist zum Erliegen gekommen. Stattdessen liefern wir jetzt humanitäre Hilfsgüter in die befreiten Gebiete und in Gebiete in der Nähe der Front.

ijab.de: Wie leben die Menschen unter der Besatzung?

Ivan Paramonov: Das ist schwer zu sagen. Ich habe im Augenblick keine Kontakte.

ijab.de: Was bedeutet das für deine Zukunft, deine Perspektiven?

Ivan Paramonov: Es gibt keine Perspektiven, solange der Krieg andauert und wir aktive Feindseligkeiten haben. Wir leben in einem Zustand totaler Unsicherheit, wir können nichts planen – allenfalls von Tag zu Tag.

Wer hört jungen Menschen zu?

ijab.de: Wie können sich junge Menschen in dieser Situation Gehör verschaffen? Wer hört ihnen überhaupt zu?

Ivan Paramonov: Die örtlichen Behörden und unsere internationalen Partner sollten uns zuhören. Wir müssen die Kommunikation mit den örtlichen Behörden neu aufbauen. Das Kriegsrecht führt dazu, dass keine zivilen Behörden zur Verfügung stehen, sondern nur militärische. Diese beinhalten keine demokratischen Ansätze, sie geben direkte Befehle, so wie es das Militär tut. Der Krieg ist kein Ort für Demokratie. Eigentlich hört uns niemand zu, alle sind damit beschäftigt, das Land zu verteidigen.

Natalia Shevchuk: Die Lebensverhältnisse in den befreiten und umkämpften Gebieten sind katastrophal, es geht um die Befriedigung der täglichen Grundbedürfnisse. Wir müssen jetzt darauf achten, dass die Menschen sich dort nicht von den Behörden alleingelassen fühlen, denn sonst tut sich ein neues Einfallstor für die russische Propaganda auf. Was die internationale Dimension angeht: Der Krieg und seine Folgen werden in der Jugendpolitik nicht viel diskutiert. Für die meisten Menschen scheint er weit weg zu sein und am anderen Ende des Kontinents kann man den gewohnten Alltag leben, ohne viel über den Krieg gegen die Ukraine reden zu müssen. Wir müssen aber darüber sprechen und dabei ist es wichtig, dass nicht ohne ukrainische Stimmen geredet wird. Was die Kommunikation vor Ort angeht: Dass wir mit den lokalen Behörden sprechen, ist ein Ergebnis der Dezentralisierung, die über Jahre vorangetrieben worden ist. Aber unter dem Kriegsrecht ist Partizipation nicht möglich, alles ist zerstört. Jugendbeteiligung oder das Eintreten für sie ist fast unmöglich, es wird zusätzliche Zeit benötigen, sie wieder aufzubauen.

Ivan Paramonov: Das mit der Zerstörung ist in manchen Regionen wörtlich zu nehmen. Sie werden nach dem Krieg von Grund auf neu aufgebaut werden müssen.

Natalia Shevchuk: Als ich neulich an einer Präsentation für unsere internationalen Partner zum Thema „Jugend, Frieden und Sicherheit“ arbeitete, ging mir durch den Kopf, dass wir mehr Fotos hätten machen sollen, zum Beispiel von unseren Jugendeinrichtungen oder unserem Skater-Park. Dann könnten wir nach dem Krieg eine Vorher-Nachher-Serie machen. Von dem Skater-Park ist zum Beispiel nichts mehr übrig. Für junge Menschen ist es deprimierend, wenn sie nicht wissen, ob sie jemals in ihrem Leben die Chance haben werden, in ihre zerstörten Häuser zurückzukehren, und wenn sie erkennen, dass alles, in das sie ihre Zeit und ihre Gefühle investiert haben, zerstört ist. Oft sind sie völlig auf sich allein gestellt.

Ihr könnt mit der Politik sprechen, ihr seid die Wähler!

ijab.de: Wie geht es für euch weiter? Ivan, musst du zum Beispiel mit einer Einberufung zum Militär rechnen?

Ivan Paramonov: Viele meiner Freunde wurden eingezogen und dienen jetzt beim Militär. Für die meisten ist das okay. Ich mache weiter meinen Job, irgendwie muss ich ja weitermachen. Ich fühle mich ruhig dabei.

Natalia Shevchuk: Ich habe auch Freunde beim Militär. Sie wurden aufgeteilt und dienen in unterschiedlichen Einheiten. Das ist für sie nicht leicht und ich bin stolz auf die Menschen, die das Land verteidigen. Meine Arbeit kann ich nicht mit ihrer vergleichen. Ich schaue oft auf meine Facebook-Timeline. Dort sind so viele Porträts von Menschen – Zivilist*innen und Soldat*innen –, die von den Russen getötet wurden. Das erschüttert mich.

ijab.de: Welche Unterstützung könnt ihr von außen gebrauchen?

Ivan Paramonov: Ihr könnt die Ukraine unterstützen, indem ihr öffentlich sagt, dass der Krieg nicht vorbei ist und dass wir alle zusammen geliefert sind, falls die Ukraine ihn verliert. Ihr könnt mit der Politik darüber sprechen, denn ihr seid ihre Wähler. Das weltweite Sicherheitssystem ist bedroht und das muss verstanden werden. Russland hat es zerstört, Russland zerstört alles. Das müssen die Menschen wissen.

Natalia Shevchuk: Das stimmt. Ich war während der Wahlen in Berlin und habe gemerkt, dass die Wähler des Themas langsam überdrüssig werden. Sie fragen sich, warum sie die Ukraine weiter unterstützen sollen. Wir brauchen aber frühzeitige und pünktliche Nachschublieferungen für unsere Armee. Wenn Russland diesen Krieg gewinnen sollte, dann weil zu viel Zeit für den Nachschub verloren wurde. Außerdem brauchen wir Sicherheit für die Geflüchteten aus der Ukraine. Die Anschläge auf Flüchtlingswohnheime sind eine Gefahr. Zudem brauchen wir wirksame und überzeugende Gespräche, zum Beispiel mit Saudi-Arabien, China oder dem Iran. Ich habe auch eine Bitte an die Youth7- und Youth20-Delegierten, die ein offizielles Kommuniqué an die politische Führung ihrer Länder richten werden: Fallt nicht auf pro-russische Narrative herein und versucht immer, die Perspektive der jungen Menschen in der Ukraine einzubeziehen!

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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