Leonid Drabkin Leonid Drabkin
Leonid Drabkin
Demokratie und Menschenrechte

Menschenrechte haben keine Grenzen

Ein Gespräch mit Leonid Drabkin zur Situation in Russland

Nach der Verhaftung von Alexej Nawalny kam es in Russland zu Massendemonstrationen. Junge Menschen, die mit vielem im Land unzufrieden sind, machten einen großen Teil der Demonstrant*innen aus. OVD-Info unterstützt Menschen, die aus politischen Gründen verhaftet und vor Gericht gestellt werden. IJAB hat mit dem Geschäftsführer der Organisation, Leonid Drabkin, über die Situation junger Menschen gesprochen.

19.04.2021 / Christian Herrmann

ijab.de: Leonid, was ist OVD-Info? Was macht ihr?

Leonid Drabkin: Nach den Protesten gegen die Wahlen 2011 gab es zahlreiche Verhaftungen und in vielen Fällen wusste niemand, wohin die Menschen verschwunden waren und was mit ihnen geschah – noch nicht einmal die nächsten Verwandten. Wurden sie misshandelt, wurden sie angeklagt? Unsere Gründer, Grigory Okhotin und Daniil Beilinson, haben damals in sozialen Netzwerken einen Aufruf veröffentlicht und gefragt, „wer weiß etwas?“. Seitdem ist unser Motto „Information schützt“, denn nur, wenn Verhaftungen und Gerichtsverfahren öffentlich werden, können wir den Betroffenen helfen und öffentlichen Druck ausüben.
Inzwischen sind wir 60 Hauptamtliche und hunderte Freiwillige. Wir helfen den Menschen, die von politischer Verfolgung betroffen sind. Wir haben eine Telefonhotline und einen Telegram-Kanal, über die wir immer erreichbar sind. Wir bieten Rechtsberatung an oder unterstützen Menschen, die Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen möchten. Allein in diesem Jahr haben wir bisher 1.500 Fälle bearbeitet. Wir treten öffentlich für Bürger- und Menschenrechte ein und führen Kampagnen durch. Eine davon richtet sich gegen die Praxis, Polizeichwachen zu schließen und keine Information über das, was darin geschieht, nach außen dringen zu lassen. Das ist rechtlich möglich, wenn eine vorgebliche Gefahr besteht. Wir haben 150.000 Unterschriften dagegen gesammelt und glauben, dass unser Rechtssystem dringend Änderungen benötigt.
Wir finanzieren uns fast ausschließlich über Spenden. Im ersten Quartal 2021 waren das über 1,5 Millionen Dollar. Die meisten Spenden sind kleine Beträge, aber zusammengenommen ergeben sie eine große Summe.

ijab.de: Junge Menschen waren während der Proteste im Januar und Februar besonders aktiv bei den Protesten gegen die Verhaftung von Alexej Nawalny und entsprechend stark waren sie von der Repression betroffen. Wie geht es der russischen Jugend?

Leonid Drabkin: Alle Meinungsumfragen sagen uns, dass junge Menschen oppositioneller und kritischer gegenüber der Regierung eingestellt sind, als die Älteren – das trifft sogar auf die unter 18-jährigen zu. Entsprechend nervös reagiert der Staat, beispielsweise gegen Medien von Studierenden, in denen zu Demonstrationen aufgerufen wurde.
Viele von ihnen schauen kein Fernsehen mehr, denn sie wissen, dass sie dort nur staatliche Propaganda zu sehen bekommen. Stattdessen informieren sie sich auf Youtube, denn dort bekommen sie ein vielfältigeres Bild.
Natürlich gibt es auch junge Menschen, die unpolitisch sind oder Distanz zur Politik halten und sich eher um ihr berufliches Fortkommen kümmern. Ein Problem ist die Beteiligung junger Menschen bei Wahlen. Bei den Protesten kann man zwar viele junge Gesichter sehen, aber am Wahltag bleiben sie zuhause. Der Regierung gelingt es hingegen gut, die Älteren zu mobilisieren, von denen sie davon ausgehen kann, dass sie mehrheitlich für Putin stimmen werden.

ijab.de: In Belarus haben viele junge Leute das Land verlassen, weil die Situation zu gefährlich für sie geworden ist. Droht Russland eine ähnliche Abwanderungsbewegung?

Leonid Drabkin: Nein, die Situation hier ist nicht so gefährlich, wie in Belarus und gerade eine Megalopolis wie Moskau bietet eine Menge Chancen für junge Menschen. Ich selbst habe meine Masterarbeit in Großbritannien geschrieben, aber ich bin zurückgekommen.

ijab.de: Was waren die wesentlichen Forderungen während der Proteste am Anfang des Jahre?

Leonid Drabkin: Die wesentliche Forderung war natürlich Freiheit für Nawalny. Viele Menschen finden, dass das was ihm passiert ist, einfach nicht geschehen darf. Aber das ist natürlich auch ein Auslöser für eine viel größere Unzufriedenheit mit der Politik und dem gegenwärtigen Zustand.

ijab.de: Sind die Proteste und die auf sie folgende Repression ein Zeichen für schrumpfende Spielräume der Zivilgesellschaft oder ein Anzeichen für ihr Erstarken?

Leonid Drabkin: Wir stehen hier unter sehr starkem Druck und es gibt neue Gesetze, die sich gegen NGOs richten. Aber umso stärker die Repression ist, umso stärker ist auch der Widerstand. OVD-Info ist ein Beispiel dafür. Im Januar waren wir noch 40 Hauptamtliche, jetzt sind wir 60. Es gibt mehr und mehr zivilgesellschaftliche Initiativen, aber es wird ihnen auch immer schwerer gemacht. Aktivisten und Journalisten werden verfolgt. Ich hoffe, dass sich mehr Menschen der zivilgesellschaftlichen Bewegung anschließen. Ob sie erfolgreich sind, werden wir in ein paar Monaten wissen oder vielleicht auch erst in ein paar Jahren. Im Augenblick ist nichts entschieden.

ijab.de: Kann internationaler Jugendaustausch etwas dazu beitragen, die Zivilgesellschaft zu stärken?

Leonid Drabkin: Jugendaustausch ist ein wichtiger Erfahrungsraum für junge Menschen. Sie können sehen, was in anderen Ländern als normal gilt und wie die Dinge sein sollten. Das gilt für Good Practice, die man mitnehmen und von der mal lernen kann, es gilt genauso für die Probleme, die andere Länder haben. Auch davon kann man lernen. Unser Problem ist, dass wir es nicht geschafft haben, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stabile, demokratische Institutionen aufzubauen. Anfang der 90er-Jahre gab es die Gelegenheit dazu, aber die Chance ist verpasst worden. Und deshalb ist es so wichtig zu erleben, wie andere Gesellschaften funktionieren. Natürlich hoffen wir auch auf die Solidarität unserer internationalen Partner und dass deren Medien nicht zum Schicksal von Gefangenen schweigen.

ijab.de: Was könnten im Gegenzug junge Menschen aus Deutschland in Russland lernen und wie politisch darf oder muss Jugendaustausch unter den gegenwärtigen Bedingungen sein?

Leonid Drabkin: Zunächst mal: Wir sind keine politische Organisation. Jeder, der aus politischen Gründen verhaftet wird, bekommt von uns Unterstützung und es ist uns völlig egal, ob er für oder gegen Putin ist. Länder sollten sich auch nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischen. Aber Menschen- und Bürgerrechte haben keine Grenzen und gelten weltweit. Man kann also nicht einfach über sie hinwegsehen.
Junge Menschen aus Deutschland können eine Menge in Russland lernen. Wir haben hier viele Grassroot-Organisationen und -Initiativen. Sie erhalten keine Förderung, verfügen nur über geringe Ressourcen, sind aber auch frei, sich ihre Regeln selbst zu geben. Wir sind auch ziemlich innovativ. Wir können sogar online protestieren. Bei Yandex, der russischen Alternative zu Google, gibt es im Karten-Tool die Möglichkeit, zu markieren, wo man sich gerade aufhält. Auf diese Weise versammelten Aktivisten innerhalb kürzester Zeit tausende Menschen auf dem Roten Platz, als reale Demonstrationen wegen der Pandemie verboten wurden.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.