Türkische Flagge: Weißer Halbmond und fünfzackiger Stern auf rotem Hintergrund Türkische Flagge: Weißer Halbmond und fünfzackiger Stern auf rotem Hintergrund
Demokratie und Menschenrechte

„Junge Menschen brauchen Luft zum Atmen“

Interview mit Laden Yurttagüler

Junge Menschen engagieren sich gegen den Klimawandel oder für Menschenrechte. Sie wollen mitreden und selbst entscheiden können. Die Türkei, die ein Partnerland von IJAB ist, stellt dabei keine Ausnahme dar. Wie ist das in einem Land möglich, das von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, den Auswirkungen der Corona-Pandemie und schwindenden Spielräumen für die Zivilgesellschaft betroffen ist? IJAB hat darüber mit der Jugendforscherin Laden Yurttagüler gesprochen.

25.08.2021 / Christian Herrmann

IJAB: Fangen wir mit einer Frage an, die leicht zu stellen, aber wahrscheinlich nicht leicht zu beantworten ist: Wie geht es der türkischen Jugend?

Laden Yurttagüler: Es gibt ja nicht eine Art junger Menschen, sie sind keine homogene Masse. Ob es ihnen gut geht oder nicht und ob sie in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, hängt von vielen Faktoren ab: soziale Zugehörigkeit, Religion und wirtschaftliche Situation. Was letzteres betrifft, geht es vielen schlecht. Außerdem haben sie wenig Möglichkeiten, ihre Meinung einzubringen. Bei Entscheidungen auf nationaler Ebene sind sie nicht repräsentiert. Im nonformalen Sektor sieht es besser aus. Dort engagieren sich junge Menschen zum Beispiel für Menschenrechte, für Geschlechtergerechtigkeit oder gegen die Klimaerwärmung. Dennoch wollen einige NGOs sie vor allem als „gute Mitspieler“, aber nicht unbedingt als Entscheidungsträger*innen sehen. Am aktivsten sind sie in den zivilen Initiativen, wo sie sich selbst Regeln geben können und selbst entscheiden können. Es heißt oft, die türkische Jugend sei gegenüber politischen Themen apathisch. Meiner Beobachtung nach stimmt das nicht. Es kommt eher darauf an, dass sie selbst Entscheidungsprozesse steuern können. Natürlich erleben wir gerade einen Rückschlag bei der Demokratieentwicklung. Man darf also nicht erwarten, dass junge Menschen vor der Tür stehen und sagen „hey, hier bin ich, ich will mitmachen!“. Aber im Freundeskreis, mit ihren Peers, sind sie durchaus aktiv in zivilgesellschaftlichen Initiativen und sozialen Medien.

IJAB: Wie ist politische Bildung in der Türkei eigentlich aufgestellt? In Deutschland ist sie ja auf formaler und nonformaler Ebene institutionalisiert – nicht zuletzt eine Hinterlassenschaft der Westalliierten zur Entnazifizierung. Wo lernen junge Menschen in der Türkei, wie eine Demokratie funktioniert oder was Menschenrechte sind?

Laden Yurttagüler: Im Jahr 2000 wurde das Schulfach „Staatsbürgerschaft und Menschenrechte“ eingeführt. 2004 wurde es durch das Bildungsministerium wieder abgeschafft und die Lehrinhalte auf andere Schulfächer umverteilt. Ich glaube, dass die Schule keinen großen Beitrag zur Demokratiebildung leistet. Was Demokratie betrifft, fangen junge Menschen nach der Schule an zu lernen – in nonformalen Settings. Ein gutes Beispiel sind die Studentenclubs an den Universitäten. Universität klingt nach formaler Bildung, aber tatsächlich sind junge Menschen dort unter sich und lernen von ihren Peers. Außerdem kommen sie dort mit den Möglichkeiten von Mobilität in Berührung, besonders mit dem Europäischen Solidaritätskorps. Das erweitert ihre Kompetenzen hinsichtlich zivilgesellschaftlicher Initiativen beträchtlich.

IJAB: Viele unserer internationalen Partner berichten von schrumpfenden Spielräumen für die Zivilgesellschaft. Wie ist die Situation in der Türkei?

Laden Yurttagüler: Die schrumpfenden Spielräume betreffen nicht nur die Jugend-NGOs, sie betreffen die gesamte Zivilgesellschaft. Das liegt einerseits an rechtlichen Einschränkungen, andererseits an vermehrten Prüfungen der Buchführung oder anderer Maßnahmen, die den Verwaltungsaufwand von NGOs erhöhen. Das ist für viele Aktivist*innen frustrierend. Wir haben es mit einer Mischung aus Verunsicherung, wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit und sozialem Druck zu tun.

Das alles ist kein ausschließlich türkisches Problem, es ist ein internationaler Trend. Ähnliche Mechanismen beobachte ich auch in Europa, zum Beispiel in Polen und Ungarn. Andererseits ist auch ein Wachstum der Zivilgesellschaft zu beobachten. Das betrifft vor allem die humanitäre Hilfe für Imigrant*innen und Geflüchtete. Allerdings ist auch nicht immer ganz klar, welche NGO wirklich eine NGO ist, oder ob es sich um eine staatliche gelenkte und finanzierte Organisation handelt, die sich den Anstrich von Unabhängigkeit gibt.

IJAB: Also gewissermaßen Fake-NGOs? Das ist interessant, denn es gibt ja auch Stimmen, die das Konzept der Zivilgesellschaft – als etwas, das Mitspracherecht für sich in Anspruch nimmt – in Zweifel ziehen, weil es das Ergebnis von Wahlen delegitimiere. Außerdem gibt es ja auch eine ganze Reihe von rassistischen Organisationen, die für sich in Anspruch nehmen, Zivilgesellschaft und Repräsentanten einer schweigenden Mehrheit zu sein. Wo endet die Zivilgesellschaft?

Laden Yurttagüler: Das ist eine schwierige Frage und ich habe keine abschließende Antwort darauf. Für mich ist Zivilgesellschaft zunächst etwas, das im öffentlichen Raum agiert und für eine bessere Gesellschaft eintritt. Was eine bessere Gesellschaft ist, das ist natürlich höchst subjektiv. Mein Beispiel ist in solchen Diskussionen immer der Ku-Klux-Klan. Auch der agiert im öffentlichen Raum, die Mitgliedschaft ist freiwillig und ehrenamtlich und seine Mitglieder sind davon überzeugt, für eine bessere Gesellschaft einzustehen – auch wenn sie ein Haufen Rassist*innen sind. Für mich ist die rote Linie Gewalt – Gewaltanwendung verunmöglicht den Dialog und Gewalt oder Gewaltandrohung sind keine Meinungsäußerungen.

IJAB: Du hast vorhin Erasmus+ und das Europäische Solidaritätskorps angesprochen. Wie wichtig sind internationale Erfahrungen für die Demokratiebildung junger Menschen?

Laden Yurttagüler: Sie sind enorm wichtig, ich kann das nicht hoch genug bewerten. Mobilität ist ein ganz wichtiges Werkzeug und das aus unterschiedlichen Gründen. Ein Grund ist, dass Begegnungen auf Augenhöhe stattfinden. Es ermöglicht, dass sich junge Menschen mit anderen jungen Menschen auseinandersetzen, mit ihrer Kultur und mit ihrem Alltag. Das ermöglicht das Erlernen demokratischer Prozesse und selbstbestimmter Entscheidungsprozesse mit Peers. Der zweite Punkt lautet Unabhängigkeit. Junge Menschen in der Türkei sind stark abhängig von ihren Familien – sozial wie wirtschaftlich. 25% der jungen Frauen haben uns in einer Umfrage gesagt, dass sie ihre Eltern um Erlaubnis bitten müssen, wenn sie sich mit ihren Freundinnen und Freunden treffen wollen. Wir haben junge Menschen gefragt, wie lange sie ohne die Unterstützung ihrer Familien überleben können. 70% sagten, dass das „bis zu einem Monat“ oder „etwa einen Monat“ möglich wäre. Internationale Begegnungen geben jungen Menschen Unabhängigkeit – selbst, wenn das nur eine Woche lang der Fall ist, ist es eine ganz wichtige Erfahrung. Junge Menschen brauchen Luft zum Atmen.

Laden Yurttagüler unterrichtet und forscht an der Bilgi Universität in Istanbul. Ihre Schwerpunkte sind Jugend, Zivilgesellschaft, Partizipation, soziale Inklusion und Genderstudien. Kontakt: Laden.yurttaguler(at)bilgi.edu.tr

Dieser Beitrag erschien im IJAB journal 1/2021.

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