eine Frau mit weiß-rotem Gesichtsschutz und roter Sonnenbrille eine Frau mit weiß-rotem Gesichtsschutz und roter Sonnenbrille
Solidaritätskundgebung mit Belarus in Köln
Demokratie und Menschenrechte

„Ich möchte in Frieden meine Straße hinuntergehen können“

Belarus: Was wollen junge Menschen?

Wie hunderttausende andere, hat sich die 25-jährige Grafikerin Katsiaryna Kliots den Protesten gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl in Belarus angeschlossen. Das ist angesichts der Polizeibrutalität riskant. Aber Katsiaryna möchte in einem demokratischen und unabhängigen Land leben. IJAB hat mit ihr über ihre Erfahrungen und Hoffnungen gesprochen.

31.08.2020 / Christian Herrmann

ijab.de: Katja, seit dem 9. August erschüttern Proteste gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl Belarus. Du hast daran teilgenommen. Bitte beschreibe deine Erfahrungen!

Katsiaryna Kliots: Am Wahltag, dem 9. August, war ich Wahlbeobachterin. Ich habe mich dazu entschlossen, weil ich nie daran geglaubt habe, dass die Wahlen fair und frei ablaufen würden. Ich bin dann schließlich auch von der Polizei aus dem Wahllokal gedrängt worden. Unabhängige Beobachter waren nicht zugelassen, also haben wir das selbst gemacht. Es gab Gerüchte, dass die Wählerlisten manipuliert seien, dass russische Staatsbürger oder sogar Tote auf ihnen gelistet seien. Es gab viele solche Gerüchte. Der Wahlsonntag war stressig, die Polizei kontrollierte ständig die Papiere der Leute in der Warteschlange vor dem Wahllokal, forderte sie auf zu gehen und stritt sich mit ihnen rum. Als Wahlbeobachter haben wir die Wählerinnen und Wähler gezählt und wir haben auch gezählt, wie viele von ihnen weiße Armbänder, das Erkennungszeichen der Opposition, trugen. Wir wissen also, dass die Wahlergebnisse gefälscht sind. Aber die Fälschung war ohnehin so schlecht gemacht, einige Wahllokale meldeten 110 % Wahlbeteiligung. Tatsächlich sind viele Menschen wählen gegangen, die das vorher nie getan haben.

Die ganze Entwicklung kam für mich nicht überraschend. Sie begann nicht am 9. August, schon im Juni hatte es Demonstrationen gegeben – nicht nur in Minsk sondern im ganzen Land, auch in den Kleinstädten.

ijab.de: Hast du während der Demonstrationen nie Angst gehabt, dass dir etwas geschehen könnte?

Katsiaryna Kliots: Ja, natürlich hatte ich das. Wenn du 10 Meter vor der Polizei stehst, dann denkst du daran, wozu sie fähig sind. Ich hatte Angst verhaftet zu werden, ich hatte Angst geschlagen zu werden. Von denjenigen, die in den Untersuchungsgefängnissen eingesperrt waren, haben wir schreckliche Berichte über Verletzungen, Erniedrigungen und Vergewaltigungen gehört.

Der Abend des 9. August war besonders schlimm, weil das Internet abgeschaltet war. Wir wussten also nicht, was los war, konnten keine Nachrichten empfangen. Einige haben es über Proxy-Server versucht, aber die ganze Kommunikation lief nur über SMS. Mit 200 Leuten habe ich vor dem Wahllokal gestanden und auf das Ergebnis gewartet, aber man hat uns kein Ergebnis mitgeteilt. Die Polizei hat uns dann mit Hinweis auf die Corona-Ansteckungsgefahr aufgefordert, zu gehen. Wir wussten, wohin wir gehen wollten. Weil wir mit dem Abschalten des Internets gerechnet hatten, waren schon vorher Orte im Stadtzentrum für Demonstrationen vereinbart worden. Vor dem Museum des Großen Vaterländischen Krieges gibt es einen großen, offenen Platz. Als ich ankam, war schon jede Menge Polizei da. Einige Demonstranten waren bereits verhaftet worden. Ich hörte die Explosionen der Granaten, die die Polizei abschoss. Autos blockierten die Straßen, um zu verhindern, dass noch mehr Polizei ins Stadtzentrum gebracht würde. Irgendwer lief in einen nahegelegenen Park und wir rannten alle hinterher. Per SMS habe ich dann erfahren, dass es den ersten Toten gegeben hatte. Ein Mann war überfahren worden, als ein Polizei-LKW in eine Menschenmenge fuhr.

Niemand hatte damit gerechnet, dass die Polizei schießen würde, nun war klar, dass sie es tat. Viele haben versucht, sich zu verstecken und die Leute öffneten ihre Häuser und Wohnungen für die Demonstranten. Die ganze Situation war völlig unwirklich. Von überall her hörte man Explosionen und Autohupen. Die Polizei evakuierte die U-Bahn-Stationen. Ich erinnere mich an die Gesichter der Polizisten und den Hass in ihnen. Ich verstehe diese Menschen nicht.

ijab.de: Wie wird es jetzt weitergehen? Worauf hoffst du?

Katsiaryna Kliots: Ich werde nicht von hier weggehen, selbst wenn die Polizei jetzt schon in die Wohnungen kommt, um Menschen zu verhaften. Belarus wird Belarus bleiben und nicht ein Teil von Russland werden. Die Proteste dauern jetzt schon 20 Tage an und sie werden weitergehen. Wie lange, das kann ich nicht sagen. In den letzten Tagen gab es neue Verhaftungen und aus dem Fernseher tönt die russische Propaganda. Ich höre da nicht hin, aber einige Leute tun es wohl.

ijab.de: Die Konflikte in der Ukraine 2013/2014 haben mir junge Ukrainerinnen und Ukrainer auch als Generationenkonflikt beschrieben. Auf der einen Seite diejenigen, die Nostalgie für die untergegangene Sowjetunion empfinden und auf der anderen Seite die jungen Leute, die in einem unabhängigen Land aufgewachsen sind. Gibt es in Belarus etwas ähnliches?

Katsiaryna Kliots: Ich habe in Polen studiert und ich habe auch etwas Deutsch gelernt. Ich kann mir vorstellen, für eine Weile in Europa zu leben. Aber die meisten Leute wollen weder Teil der EU, noch Teil von Russland sein – vielleicht wollen das 5 %. Die älteren Leute schauen sicher mehr Fernsehen, als die jüngeren. Aber auch die Generation meiner Eltern ist unruhig in Bezug auf Russland. Putin wartet auf die Gelegenheit, sich uns einzuverleiben. Auch die Alten wollen Veränderungen, unterstützen sie und gehen zu Demonstrationen. Meine Oma ist sehr besorgt und nimmt Beruhigungsmittel. Die meisten Nachbarn im Haus glauben dem Staatsfernsehen nicht mehr. Nein, einen Generationenkonflikt sehe ich nicht.

ijab.de: Was wünschst du dir für dich persönlich?

Katsiaryna Kliots: Ich hoffe, dass wir ein demokratisches Land werden, dass auch das Parlament etwas zu sagen hat und der Präsident nicht so viele Befugnisse hat. Vielleicht könnten wir so etwas wie die Schweiz werden – neutral und mit guten Beziehungen zu den Nachbarn. Was ich nicht möchte, ist dass wir hier einen Bürgerkrieg bekommen. Die Gewalt muss aufhören, 200 Vergewaltigungen in den Gefängnissen sind schon schlimm genug.

Ich möchte hier arbeiten. Ich möchte in Frieden meine Straße hinuntergehen und mich dabei in Sicherheit fühlen können.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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