Zwei Männer bekommen ein Brot überreicht. Zwei Männer bekommen ein Brot überreicht.
Der frühere Bundespräsident Roman Herzog und sein tschechischer Amtskollege Václav Havel beim Jugendtreffen in Polička 1996
Demokratie und Menschenrechte

Auf in den Osten!

Über eine Reise, die bis heute andauert

Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es eine kurze Osteuropa-Euphorie. Viele Menschen waren neugierig auf unsere östlichen Nachbarn. Dann flaute das Interesse wieder ab – mit fatalen Folgen, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt. Unser Autor, Daniel Kraft von der Bundeszentrale für politische Bildung, zeichnet die Entwicklung nach, setzt sich mit den Gründen für das westliche Desinteresse auseinander und gibt praktische Tipps für den Austausch mit osteuropäischen Ländern.

28.06.2023 / Daniel Kraft, Bundeszentrale für politische Bildung

Es ist der 15. April 1990 und der Bus der Jugendgruppe verschwindet langsam aus meinem Sichtfeld. Ich stehe in Špindlerův Mlýn – früher Spindlermühle – im damals noch tschechoslowakischen Riesengebirge und eine Reise durch unser Nachbarland beginnt, die bis heute andauert. Der „Deal“, den ich damals mit dem Jugendbildungsreferenten meiner Heimatstadt geschlossen hatte: Ihr nehmt mich auf der Hinfahrt der Jugendgruppe mit, beim Gegenbesuch nehme ich einen Gastschüler bei mir zu Hause auf. Was aus diesem Jugendaustausch entstand: eine jahrelange Freundschaft und eine bisher 35 Jahre anhaltende Beschäftigung mit Mittel- und Osteuropa. Denn schon die erste Reise und dann die späteren Begegnungen waren geprägt von der intensiven politisch-historischen Auseinandersetzung mit dem Land, seiner Sprache und Kultur.

Das ist nicht nur eine individuelle Geschichte, nein, es ist die Geschichte von Teilen einer Generation, der Generation „Nach-Wende“, in Ost und West. Für einige waren die Jahre nach 1989 gekennzeichnet vom Austausch, der Begegnung, den großen Jugendtreffen in Polička und Auerbach, die die deutsch-tschechische Erklärung gewissermaßen mit jungem Blick vorwegnahmen, vom Aufbau des Deutsch-Polnischen Jugendwerks, von TANDEM, der Koordinierungsstelle für den deutsch-tschechischen Jugendaustausch, der Gründung des deutsch-tschechischem Jugendforums, der Teilnahme an Programmen wie dem „Lektorenprogramm“ der Robert Bosch Stiftung und vielem mehr. Aufbruchstimmung pur, Ost-Euphorie!

Was dann folgte war ein langer Kater. Denn langsam, ganz langsam rückten Mittel- und Osteuropa wieder dorthin, wo es lange für viele (insbesondere West-)Deutsche eh schon immer lag: in weite Ferne. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wurde deutlich: Das genaue Hinschauen wurde seit Jahren verlernt. Eine ehrliche Bilanz fällt bitter aus. Auf dem Auge der Mittel- und Osteuropabeschäftigung sind wir seit 1989 langsam aber sicher erblindet. Eine der zentralen Regionen für das Wohl und Wehe Deutschlands und der EU – seit dem brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die komplette Ukraine wird das auch dem Letzten klar – wurde zum weißen Fleck.

Einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller und Intellektuelle, Juri Andruchowytsch, formulierte es in einem Gespräch am 21. Februar 2022 mit der Bundeszentrale für politische Bildung einmal so: „Die mediale Aufmerksamkeit der Welt erlangt die Ukraine leider nur im Moment der größten Bedrohung, in den schwierigsten Momenten der Geschichte“. Und dann? „Wenn die Situation vorbei ist, verschwindet sie.“ Er hatte lange das Gefühl, dass seine Appelle verhallen, die Welt nicht wahrgenommen habe, dass es eine tiefe „Russland-Krise“ sei, die nicht nur die Ukraine bedroht. Eine Bilanz, die wenn auch mit einigen durchaus gewichtigen Ausnahmen, auch für die den Bereich des Austauschs gilt, ganz sicher aber für die wissenschaftliche und mediale Beschäftigung der (west-)deutschen Öffentlichkeit mit dem östlichen Europa. Mittelosteuropa wurde für den ein oder anderen zum „Durchfahrtsland“ ins große Russland. Manchmal schien es fast so, als sei Russland der Nachbar und aus falscher Rücksichtnahme wurde alles dazwischen vergessen.

Proč? Warum?

Aber warum interessieren wir uns für Barcelona, Mailand oder Paris, nicht aber für Pardubice, Sighetu Marmației und Košice? Über die Frage, wie es zu dieser „Abwendung“ kam, lässt sich lange spekulieren. Sicher spielt hier zunächst einmal eine Rolle, dass wir uns durch den Glauben an „Wandel durch Handel“ mental aus der Osteuropabeschäftigung zurückziehen konnten. Wir haben es der Wirtschaft überlassen, uns zu erklären, wie man mit Osteuropa umzugehen habe: Der Handel wird es richten, das billige Gas muss fließen. Mit ihm käme, so die jahrzehntelang vor allem in der Bundesrepublik gehegte Vorstellung, die liberale Demokratie und der Wohlstand. Ein Fehlglaube, wie wir heute wissen. Spätestens seit dem immer deutlicher werdenden Expansionsdrang Russlands wurde diese Strategie toxisch. Die US-amerikanische Osteuropakennerin Anne Applebaum beschreibt diese fatale Fehlinterpretation mit deutlichen Worten. Aus ihrer Sicht ist das über Jahrzehnte verfolgte Konzept komplett gescheitert, der Glaube an die Rationalität autoritärer Regime falsch. Diese Länder sähen den Westen als „eine Art Feind“. Eine solche Betrachtung hat auch unmittelbare Konsequenzen für die Planung und Realisierung von Jugendbegegnungen mit Diktaturen.

Ein zweiter Grund ist banaler, spielt jedoch ebenfalls eine nicht unwichtige Rolle: Mittel- und Osteuropa wird als beschwerlicher wahrgenommen. Die östlichen Transformationsländer – sieht man von den touristischen Hochburgen und urbanen Zentren ab – sind deutlich sperriger als eine Individualreise in den europäischen Westen oder Süden. Auch im Schüler- und Jugendaustausch können wir ein Lied davon singen. Sei es kulinarisch, sei es die Qualität der Unterbringung, der Standard des Transports oder für manche schlicht die Angst vor der Sprachbarriere: Immer noch erlebt man die ein oder andere Überraschung. Das schmeckt vielen nicht. So manche Erfahrungen, oder auch nur Berichte über solche, verstärkten vor allem in Westdeutschland über Jahrzehnte kultivierte negative Stereotype vom „Osten“ – auch wenn viele von ihnen längst überholt sind. An vielen Orten spricht man ganz selbstverständlich Englisch, die Hotels sind großartig und, wie es der Osteuropahistoriker Jan Claas Behrends mir jüngst beschrieb: „Kyjiw ist gefühlt veganer als Berlin.“

Ein dritter Grund ist eher tiefenpsychologisch. Viele Deutsche und ihre Vorfahren haben bezüglich der Länder östlich der Oder/Neiße-Grenze traumatische Erinnerungen. Die Region ist unsere offene Wunde. Deutsche waren dort Täter der Shoah und des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges. Der Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, Krieg, Zwangsarbeit und Vertreibung haben ein jahrhundertelanges, oftmals fruchtbares Miteinander von verschiedenen Nationalitäten zerstört. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder hat die Region einmal als „Bloodlands“ beschrieben, gelegen auf dem Gebiet des heutigen Polen, der baltischen Staaten, Belarus, der Ukraine und Teilen Russlands. Bis heute bleibt eine intergenerativ vererbte Scham über diese Gräuel. Doch Deutsche waren dort nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Rund zehn Millionen deutschsprachige Bürgerinnen und Bürger lebten vor dem Zweiten Weltkrieg östlich der Oder-Neiße-Linie und wurden nach dessen Ende vertrieben oder zwangsdeportiert. Auch bei den Kindern der Vertriebenen, der in den 1960er-Jahren geborenen „Boomer-Generation“, dominierte, sieht man von einer Phase des „Sehnsuchtstourismus“ nach den vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt verhandelten Ostverträgen ab, das Verdrängen der (Familien-)Geschichte. Ob Nachfahren von Opfern oder Tätern: Große Teile der deutschen Bevölkerung zieht es nicht zurück in die „Bloodlands“. Aus Scham oder um die traumatischen Erlebnisse der eigenen Geschichte nicht zu reaktivieren. Beides trug dazu bei, den Osten Europas aus dem Blick zu verlieren. Er wurde gewissermaßen abgespalten.

Hinschauen, zuhören – dranbleiben

Die oben aufgeführten Beispiele machen deutlich, wohin es führt, wenn man sich mit einer so zentralen Region nicht ausführlich beschäftigt. Wir als deutsche Gesellschaft, in den Schulen und in außerschulischen Lerneinrichtungen, müssen wieder genauer hinschauen; auf die Ukraine, auf den Krieg, auf Osteuropa. Und, wir denken an Juri Andruchowytschs Worte, wir müssen es systematisch und beständig tun – auch wenn es nicht (mehr) brennt!

Und jetzt komme ich zurück zum Eingangsbild, vom Beginn meiner Leidenschaft für das östliche Europa und ihren Anfang im Jugendaustausch mit Tschechien. Dem Jugendaustausch, der politisch-bildnerisch verstandenen Begegnungsarbeit, kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Denn wir müssen wieder mehr in die Nachbarregionen schauen, Begegnungen und Austausch verstärken, Netzwerke ausweiten. Vorbilder gibt es. Man denke an das bereits oben erwähnte deutsch-tschechische Jugendtreffen 1996 in Polička, bei dem junge Menschen zeigten, dass Kooperation und Austausch möglich sind. Das Treffen gilt als Durchbruch in den festgefahrenen Beziehungen der Nachbarländer und war ein zentraler Baustein in der Beschleunigung des Prozesses, der später zur deutsch-tschechischen Verständigung führte.

Nichts hilft besser gegen Populisten mit ihren vermeintlich einfachen Antworten als das eigene Erleben und die in der Begegnung entstehende Empathie für den Anderen. Nirgends lernt man besser, was Ambiguitätstoleranz, also das Aushalten von Mehrdeutigkeit, bedeutet. Das sind Grundprinzipien der politischen Bildung seit dem Beutelsbacher Konsens von 1976 und es sind auch die Grundprinzipien jedes Schüler- und Jugendaustausches aber auch jeder Studienreise und pädagogisch begleiteten Begegnung. Ein so verstandener Jugendaustausch mit Mittel- und Osteuropa ist ein Beitrag zu Friedens- und Demokratieförderung und politische Bildung „at its best“!

Deshalb, warum nicht 2024 ein mitteleuropäisches Jugendtreffen mit deutschen, baltischen, ukrainischen, polnischen, tschechischen und weiteren Teilnehmenden etwa in Danzig angehen, um eine Perspektive zu entwickeln, wie es in Mitteleuropa weitergehen könnte? Und: Wenn 1996 die Präsidenten Tschechiens und Deutschlands, Václav Havel und Roman Herzog, in den kleinen böhmischen Ort Polička reisten, warum treffen sich nicht 2024 der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Danzig? Einen Versuch wäre es wert!

Hilfen für die Praxis – Einige Anregungen für die „Osteuropäisierung“ der eigenen Sichtweise

Hinschauen, zuhören – dranbleiben: Wie kann das in den Alltag überführt werden? In die Schulen, die außerschulische Jugendarbeit und Jugendbegegnung, in Castrop-Rauxel oder Wuppertal? Wie kann ich konkret mehr Osteuropa „wagen“? Und wie Themen, die Mittel- und Osteuropa bewegen, stärker in unsere Gesellschaft transportieren?

Hier einige sehr persönliche „Regeln“ für die schulische und außerschulische politische Bildungsarbeit über und mit Mittel- und Osteuropa. Verbunden mit der Aufforderung: Die Region ist sehr nah, dort leben unsere Nachbarn. Und: Informationen und (Bildungs-)Materialien liegen vor, es gibt zahlreiche Veranstaltungen – nutzt sie!

Frage dich stets, ob nicht auch ein östliches Ziel passt für eine Klassenfahrt, Bildungs- oder Studienreise?

Warum immer Rom oder Paris, warum nicht einmal Warschau, Tallinn, Bukarest, oder Prag? Und wenn Prag, warum dann nicht Prag mit Begegnung? Diese bietet beispielsweise der gemeinnützige Verein „Pragkontakt“. Er unterstützt und begleitet deutschsprachige Schulklassen, Jugend- und Erwachsenengruppen bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Klassenfahrten, Studien-, Bildungs- und Begegnungsreisen in die tschechische Hauptstadt und ihre Umgebung. Ziel ist, ihnen die Möglichkeit zu geben, tiefergehendes Wissen über Prag und die Tschechische Republik zu erlangen. Dabei ist dem Verein gerade der Austausch mit tschechischen Gruppen besonders wichtig: http://www.pragkontakt.de/

Mein Tipp für die weitere Lektüre: Begleitmaterialien für den Aufenthalt in Prag, hier insbesondere das Thema „Prag und das Jahr 1968“ (kostenloser Download)

Reise (auch privat) in den Osten!

Reisen bildet, das ist mehr als eine Floskel. Und Mittel-, Südost- und Osteuropa sind immer eine Reise wert. Also einfach einmal Barcelona, Mailand, Paris links liegen lassen und auf nach Pardubice, Sighetu Marmației und Košice. Und, so mein persönlicher Tipp, am besten mit dem Zug. Wer einmal am frühen Morgen mit einem slowakischen Zug auf die Hohe Tatra zufuhr, sich im Schlafabteil eines rumänischen Nachtzugs ein Rennen mit einem nebenherfahrenden Pferdefuhrwerk lieferte, oder gar dampfend und stampfend mit der „CFF Vișeu de Sus“, der Wassertalbahn – die letzte regulär für die Forstwirtschaft betriebene Dampflok Rumäniens – in die Karpaten einfuhr, wird verstehen, was ich meine.

Wem das noch zu „heiß“ ist, dem empfehle ich eine Reise in den Osten an Smartphone oder Laptop: „Go East“ heißen drei virtuellen Reihen der bpb, entstanden unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie. Via Livestream führten sie von Hamburg nach Budapest und weiter nach Czernowitz, gefolgt von einer Reise durch die Ukraine ab Czernowitz über Kiew bis Charkiw. Nachzuschauen unter: https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/digitale-studienreisen/

Mein Tipp für die weitere Lektüre: Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen. (Piper-Verlag, 2021, 256 Seiten). In seinem Buch begibt er sich der Schriftsteller Rudiš im Takt der Schienen durch Europa: von Berlin aus bis zum Gotthardtunnel und von Sizilien bis nach Lappland, im Nachtzug durch Polen und die Ukraine sowie im Speisewagen von Hamburg nach Prag.

Besuche Veranstaltungen zu Mittel- und Osteuropa!

Lesungen, Filme, Theateraufführungen. Fast überall in Deutschland finden diese vor – ich sage es leicht frustriert – oftmals eher wenigen Besucherinnen und Besuchern statt. Dabei bietet gerade die kulturelle Vermittlung enorme Möglichkeiten. Als Beispiel sei eine Aufführung beim Festival „Politik im Freien Theater“ in Frankfurt am Main im Oktober 2022 genannt: In der „Sinfonie des Fortschritts“ der moldauischen Regisseurin Nicoleta Esinencu erlebte das Publikum ein Sprachkonzert, das die westeuropäische Selbstgewissheit, eine demokratische und fortschrittliche Gesellschaft zu sein, auf bissig-humorvolle Weise demontiert. Die Performerinnen und Performer, ausgestattet mit Bohrmaschinen, Straßenbauarbeiter-Klamotten, einem Mischpult und Mikrofonen, erzählen – konsequenterweise in moldauisch-rumänischer und russischer Sprache – die Geschichten von Saison- und Wanderarbeitern.

Mein Tipp für die weitere Lektüre: Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer: kostenloses PDF

Lerne ein paar Brocken einer slawischen Sprache!

„Wie viele Sprachen du sprichst, sooft mal bist du Mensch.“ Goethes berühmtes Zitat trifft auch auf die Sprachen unserer östlichen Nachbarn zu – und kaum ein Deutscher und eine Deutsche spricht sie, während viele Menschen dort wie selbstverständlich Deutsch beherrschen. Klar, es sind ungewöhnliche Sprachen, nicht nur die slawischen, auch Georgisch oder Ungarisch. Doch will man die Länder und Kulturen besser verstehen, ist Sprache der Schlüssel. Im bilateralen Jugendaustausch zwischen Deutschenland und Tschechien und Polen wurden zahlreiche Techniken der Sprachanimation entwickelt, eine Methode, mit der man auch Schülerinnen und Schülern Freude an der Sprache der Nachbar vermitteln kann. Eine gute Anlaufstelle ist z.B. das Deutsch-polnische Jugendwerk (DPJW): https://www.dpjwonline.org/sprachanimation.

Tipp für die weitere Lektüre: „Drei Друзі z boiska“ – Deutsch-polnisch-ukrainischer Sprachführer für Sport- und andere Begegnungen, herausgegeben vom DPJW: https://dpjw.org/kategorie-publikacji/sprache/ und die App „Do kapsy“ (Tschechisch), herausgegeben von TANDEM (im App-Store zu finden)

Versuche, Bilder jenseits von Klischees zu nutzen!

Viele Bilder von „dem Osten“ sind noch immer stark von Stereotypen geprägt. Klischeehafte Darstellung der Menschen und ihrer Kultur dominieren noch immer die Medien. Auch diese verhärten „unser“ Bild und die Sicht auf die Region. In dem Projekt „Das gesamte Bild – persönliche Ansichten aus der Ukraine“ bat die bpb Intellektuelle aus der Ukraine nach Kriegsbeginn, von ihrer Situation mit einem kurzen Text und einem selbst gemachten Bild zu berichten. Herausgekommen ist eine ungewöhnliche Fotoserie, die sich für den Einsatz im Unterricht eignet. Die Bilder und Texte schildern Eindrücke, die in der täglichen Kriegsberichterstattung oft nicht vorkommen. So vermitteln sie eindrucksvoll, was Kriegsfotografie und -berichterstattung oft übersieht, zeigen Details des Grauens und äußern persönliche Gedanken zu den aktuellen Entwicklungen. Mit dabei ist auch der Kyjiwer Filmemacher und Schriftsteller Oleksij Radynskyj, seine These: „Putin spricht einer Nation das Recht auf ihre Existenz ab.“ Weitere Mitwirkendende sind unter anderen die Lyrikerin Luba Jakymchuk, der Schriftsteller und Psychiater Borys Chersonskyj sowie die Kunstkritikerin Kateryna Iakovlenko. Online unter: www.bpb.de/das-gesamte-bild

Mein Tipp für die weitere Lektüre: Krieg gegen die Ukraine – Ausgabe 22 des bpb:magazins vom Oktober 2022, u.a. auch mit der Bilderstrecke „Das gesamte Bild“, kostenloser Download unter: www.bpb.de/magazin

Recherchiere stets, wie viel Mittel- und Osteuropa in unserer Gesellschaft „steckt“!

Einer meiner Lehrer, er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am oben erwähnten und inzwischen geschlossenen BIOst, äußerte mir gegenüber einmal die These: Am Anfang einer jeder großen Theorie und Entdeckung stand ein Tscheche. Sicher war das mit einem Augenzwinkern und nicht ganz ernst gemeint, doch der Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen. Er führte Johann Amos Comenius, den Begründer der modernen Didaktik, Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, und Karel Čapek den Erfinder des Wortes „Roboter“ und einige mehr an. So eine kleine Übung verändert viel im Denken – und man kann sie mit nahezu jedem (östlichen) Nachbarland durchspielen.

Und noch viel greifbarer für Schülerinnen und Schüler – weil vielleicht eigene Erfahrungen, oder die der Eltern und Großeltern mit einbezogen werden – kann man dies mit dem intellektuellen und kulturellen „Erbe“ der (Spät-)Aussiedler „durchspielen“. Man denke nur an die beiden letzten deutschen Literaturnobelpreisträger (Günter Grass und Herta Müller), beide im östlichen Europa geboren, an den deutschen Fußballweltmeister Lukas Podolski (geboren in Gliwice, Polen), oder eine der kommerziell erfolgreichsten Sängerinnen Deutschlands, Helene Fischer (geboren in Krasnojarsk, Sowjetunion). Auf einmal, wie wenn sich der Nebel an einem Herbsttag lüftet, wird alles ganz klar. Unser Denken, Handeln, Sein ist so eng miteinander verwobenen, dass man sich die Augen reibt und fragt: Warum habe ich das vorher nicht gesehen?!

Mein Tipp für die weitere Lektüre: Informationen zur politischen Bildung: (Spät-)Aussiedler in der Migrationsgesellschaft, als Download oder kostenlos bestellbar bei der bpb: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/298302/spaet-aussiedler-in-der-migrationsgesellschaft/

Über den Autor

Daniel Kraft studierte in Freiburg im Breisgau und Brno/Brünn (Tschechische Republik) Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik und war bis 2005 Studienhausleiter des Brücke-Most-Zentrums der Brücke/Most-Stiftung zur Förderung der deutsch-tschechischen Verständigung und Zusammenarbeit in Dresden und Prag. Seit 2005 ist er Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und seit 2009 als Leiter der Stabsstelle Kommunikation und Pressesprecher der bpb verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, das Marketing, die interne Kommunikation sowie das Fundraising.

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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