Freitagabend war Ankommen angesagt - in der Jugendherberge Berlin-Ostkreuz, die ihre Gäste schon vorweihnachtlich mit Tannenbäumen und Kerzenlicht begrüßte, und natürlich auch in der bunten, jungen Gruppe, die hier aus vielen Ecken Europas zusammengekommen ist, um sich gemeinsam zum Thema Inklusion zu engagieren. Um das Ankommen und Einfinden in Raum und Gruppe (Wo ist hier eigentlich was? Was sind das für Leute?) zu erleichtern und ggf. vorhandene Ängste abzubauen (Hilfe - mein Englisch?!) startete das internationale Jugend BarCamp mit einer gutgelaunten Runde „Get-to-Know-Bingo“, gefolgt von einer Schnitzeljagd durch die Herberge. Am Ende wussten alle wo die Seminarräume Mainz, Berlin und Rheinland-Pfalz sind und wer z.B. schon an einer internationalen Jugendbegegnung teilgenommen hat. Aber die wichtigste Erkenntnis war wohl, dass in dieser Runde jede und jeder ohne Hemmungen seine Meinung mitteilen kann und ernst genommen wird. Alle werden genauso akzeptiert, wie sie sind.
Zum Start in die inhaltliche Arbeit wurde Samstagmorgen erst einmal eine gemeinsame Basis (Common Ground!) geschaffen und zwar indem - ganz einfach – die beiden wesentlichen Begriffe dieses Wochenendes INKLUSION + BARCAMP für alle nochmals gleichermaßen, egal ob Vorerfahrung oder nicht, erklärt wurden:
Was ist ein BarCamp?
Das BarCamp Format unterscheidet sich von klassischen Tagungen oder Konferenzen, denn die Teilnehmenden können selber ihre Erfahrungen und Ideen rund um das festgelegte Leitthema einbringen. Dabei wird nicht mehr zwischen Referierenden und Teilnehmenden unterschieden. Vielmehr können alle selber sogenannte Sessions anbieten mit denen sie die Themen setzen, die sie bearbeiten, diskutieren oder vorstellen wollen. Orientierung bei der Durchführung gaben in Berlin die BarCamp-Regeln, die den Teilnehmenden mit auf den Weg bei der Gestaltung ihrer Sessionvorschläge gegeben wurden:
- Sprecht über das BarCamp – via Blog, Twitter, Instagram....
- Es gibt keine Zuschauer/-innen, nur Teilnehmer/-innen – Zurücklehnen und Zuhören gibt es nicht, es geht um Diskussion und Austausch.
- Alle sind gleichberechtigt - jede/r kann Themen benennen und in die Diskussion einbringen. Jede Meinung ist gleichbedeutend.
- Mut zur Lücke - auch unausgereifte Ideen und Konzepte können eine Session wert sein.
- Geplant ungeplant - es gibt keine feste Agenda. Die Inhalte werden von den Teilnehmenden erstellt. Wenn dein Thema nicht dabei ist, schreib es auf.
Was bedeutet eigentlich Inklusion?
Elżbieta Kosek von der Kreisau-Initiative erklärte in ihrem interaktiven Input nicht nur, was Inklusion ist, sondern sorgte dafür, dass die jungen Leute sie gemeinsam erfahren und entdecken konnten. Dafür führte sie einen kurzen Theater-Workshop durch, der auf der Methode des Theaters der Unterdrückten des Brasilianers Augusto Boal basiert. Auch hier gilt: Keine/r schaut zu, alle machen mit.
Nach einer gemeinsamen Einführungsübung, überlegten die Jugendlichen in Kleingruppen, was Inklusion für sie bedeutet. Die Ergebnisse wurden anschließend szenisch dargestellt und mit einem aussagekräftigen Titel versehen. Das Publikum sammelte anschließend in Stichworten was sie in dem dargestellten Bild erkennen und hatten auch Gelegenheit sich selbst in das Bild zu integrieren. So trug ein Bild den Titel „Unity in Diversity“ und wurde von der Gruppe mit folgenden Worten beschrieben: Diversität, Liebe, Unterstützung, Verbindung, aufeinander vertrauen und aneinander glauben, Helfen, Akzeptanz, aber auch Ungleichheit, Exklusion, Ignoranz, Schüchtern sein und Traurigkeit. Bei einer anderen Gruppe fielen die Begriffe Freiheit, Kraft, Glück, Spaß, Loyalität, Frieden und das Gefühl, dass alle teilhaben können. Einigkeit, die hier im Kreis dargestellt wurde, sorge dafür, dass man sich stark fühle. Hier wies Elżbieta Kosek darauf hin, dass der dargestellte große Kreis zwar Geschlossenheit und Stärke symbolisiere, es aber für Außenstehende schwierig mache, der Gruppe beizutreten: Bei einem Kreis gäbe es schließlich keinen Eingang! Deshalb sei es wichtig, einen Kreis immer offen zu halten.
Um Inklusion nicht nur emotional zu erfassen, sondern auch das Konzept dahinter zu verstehen, ergänzte Elżbieta Kosek ihren Input mit einer Erklärung verschiedener Modelle, wie in unterschiedlichen Gesellschaften und Zeiten mit dem Thema umgegangen wurde: So nehmen bei der Exklusion Menschen mit Beeinträchtigung nicht am gesellschaftlichen Leben teil, sondern werden eher versteckt. Bei der Separation, die in den 60er Jahren an Bedeutung zunahm, heißt es zwar „Erziehung für alle“, aber bitte in unterschiedlichen Systemen (Sonderschulen), bei der Integration, präsent seit den 1970/80er Jahren, öffnet sich das Mainstream-System zwar Menschen mit Beeinträchtigungen und lädt zu Teilnahme ein. Allerdings ändert sich das System selbst hierbei nicht und Benachteiligte sind gefordert, sich selbst dem System anzupassen. Bei der Inklusion hingegen, ändert sich das System selbst: Die Diversität der Menschen bestimmt nun die Norm. Herangehens- und Denkweisen müssen sich hierfür nachhaltig ändern, denn die größten Barrieren bestehen in den Köpfen der Menschen. Inklusion geht davon aus, dass Menschen nicht behindert sind, sondern behindert werden.
Der Film Building Bridges: Thassos 2019 gedreht bei einer inklusiven Jugendbegegnung der Kreisau-Initiative in Griechenland, zeigte am Ende für alle eindrucksvoll den Mehrwert internationaler, inklusiver Arbeit.
Start der freien Sessions
Das war es dann auch mit Input von außen – nun übernahmen die Jugendlichen selbst das Ruder und bestimmten die Themen der freien Sessions, die in Runden von jeweils 60 Minuten, bis in den Abend liefen:
- Wir sind alle großartig! Selbstbewusstes Auftreten: Selbstvertrauen, Unterstützung, Empowerment.
- Wie kann man formale Bildungs- und Karrieremöglichkeiten für alle gleich gestalten (unabhängig von Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion, körperlicher Verfassung etc.)? Stichworte: Inklusion und Gesellschaft/Inklusion und Arbeit
- Wie sieht es mit Inklusion in den verschiedenen Ländern aus? Wie können wir gegen Ausgrenzung vorgehen? Wie organisiert man inklusive Projekte?
- Leute aus anderen Kulturen kennenlernen! Wie funktioniert Netzwerken via Instagram und Facebook! Wie schaffen wir mehr Zugänglichkeit (weniger Barrieren)?
- Ein Austauschjahr in den USA
- Inklusion im Sport
- Musik als Kommunikationswerkzeug / Einbeziehung von Menschen mit geistigen Behinderungen ins Musizieren / kreativer Selbstausdruck durch Kunst
- Vielfalt ist Reichtum - Inklusion von Menschen mit unsichtbaren Behinderungen/Beeinträchtigungen
- Prävention von Mobbing
Spannend waren zum einen die Entwicklung und Dynamik der Themen innerhalb der Gruppen. Zum anderen die Offenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, insbesondere ihre Bereitschaft andere an ihren teils sehr persönlichen und nicht immer positiven Erfahrungen teilhaben zu lassen.
So stellte sich Florian, gehörlos, in einer Gruppe ganz offen den Fragen der anderen. Nach einer kurzen Pause hagelte es Fragen wie: Warum kannst du nicht hören? Gibt es unterschiedliche Gebärdensprachen? Wie ist es, wenn Gehörlose Kinder haben – hören sie überhaupt das Schreien des Babys? Wie viel Inhalt kann ein Lippenleser bei einem Satz eigentlich ablesen? Wie kann man taub an einer Uni studieren? Gibt es Gesetze, die bestimmte Berufe für Gehörlose verbieten? Und natürlich: Wie sagt man „Ich liebe dich!“ in Gebärdensprache?