Lotte Vermeire und Franziska Koschei Lotte Vermeire und Franziska Koschei
Lotte Vermeire und Franziska Koschei
Digitale Internationale Jugendarbeit

Was bleibt von der Experimentierfreude?

Digitalisierung verändert die Jugendarbeit

Die Corona-Pandemie hat die digitale Jugendarbeit enorm vorangebracht. Das erregt auch das Interesse der Wissenschaft. Franziska Koschei hat gemeinsam mit dem JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis den digitalen Wandel in der Internationalen Jugendarbeit in Kooperation mit IJAB unter die Lupe genommen. Lotte Vermeire von der Vrije Universiteit Brussel hat sich die Veränderungen in der Jugendarbeit in Flandern angeschaut. Die Schlussfolgerungen weisen viele Parallelen auf. Die Redaktion von ijab.de hat mit beiden gesprochen.

29.06.2023 / Christian Herrmann

ijab.de: Lotte, du hast digitale Jugendarbeit in Flandern während des Lockdowns beobachtet und analysiert. Deine Untersuchung wurde von der flämischen Abteilung für Kultur, Jugend und Medien und JINT – Nationale Agentur für Erasmus+ Jugend und Europäisches Solidaritätskorps in Auftrag gegeben. Zu welchen Ergebnissen bist du gekommen?

Lotte Vermeire: Die meisten Jugendarbeiter*innen hatten zu Beginn der Pandemie keine Erfahrung mit digitaler Jugendarbeit und mussten sich per „try and error“ heranarbeiten. Im Austausch mit jungen Menschen mussten sie herausfinden, was für ihre Zielgruppe interessant ist. Online-Formate haben ein unerwartet großes Potenzial für die Beratung. Für traumatisierte Jugendliche sinkt die Schwelle, mit jemandem zu sprechen und Unterstützung zu bekommen, weil die Online-Beratung anonym sein kann.

ijab.de: Franziska, erkennst du einiges von dem wieder, was das JFF im internationalen Kontext beobachten konnte?

Franziska Koschei: Auf jeden Fall. „Try and error“ war auch unsere Beobachtung. Vor allem am Anfang eigneten sich die Teamer*innen ihre Expertise durch praktisches Ausprobieren an. Wir konnten aber auch herausfinden, dass weniger technische Vorerfahrungen eine Rolle spielen, wenn es darum geht digitale Projekte durchzuführen. Wichtiger sind Offenheit sowie eine positive Grundhaltung gegenüber digitalen Technologien. Fähigkeiten im Umgang mit Online-Tools im Arbeitskontext werden dann eben in der pädagogischen Arbeit aufgebaut. Auch der niederschwellige Zugang, den Lotte anspricht, entspricht unseren Beobachtungen. Das betrifft zum Beispiel junge Menschen, die sich nicht ohne weiteres an einen Jugendaustausch herantrauen würden, weil es ihnen schwer fällt, auf andere zuzugehen oder sie nicht gerne reisen.

Offen gegenüber digitalen Formaten

ijab.de: Nach den vielen Experimenten während der Pandemie hat sich meiner Beobachtung nach auch eine gewisse Müdigkeit eingestellt. Was wird von der Experimentierfreude bleiben? Wie nachhaltig ist sie?

Lotte Vermeire: Während der Pandemie haben alle den Hebel umgelegt und sind zu digitalen Formaten gewechselt. Sie hatten in dieser Zeit kaum andere Möglichkeiten und die Frage ist tatsächlich, ob das so bleiben wird. Ich kann das nicht vorhersagen, aber ich kann wiedergeben, was uns Jugendarbeiter*innen gesagt haben. Viele von ihnen stehen dem Potenzial der digitalen Formate positiv gegenüber. Für junge Menschen ist das oft keine Frage, sie unterscheiden nicht zwischen online und offline. Das Handy ist für sie ein ganz selbstverständliches Kommunikationsinstrument, das sie mit anderen Menschen verbindet und soziale Isolation verhindert. Auch von der Politik gibt es Signale digitale Jugendarbeit zu verankern. Die Nachhaltigkeit, nach der du fragst, wird Zeit brauchen. So muss beispielsweise dem Aufbau von Kapazitäten und einer Infrastruktur, die den Kauf oder das Ausleihen von Hard- und Software ermöglicht, mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, insbesondere um die digitale Ausgrenzung benachteiligter Jugendlicher zu vermeiden. Das Thema ist jedenfalls auf allen Ebenen angekommen – europäisch, national und regional.

Franziska Koschei: Wir werden auch die Unterstützung der Wissenschaft brauchen. Es erscheint sinnvoll aktuelle Prozesse wissenschaftlich zu begleiten und Erfahrungen, die in digitalen Projekten gemacht werden, zu strukturieren. So entsteht eine wissenschaftliche Grundlage, auf der Strategien und Projekte weiterentwickelt werden können. Wir brauchen also mehr Studien, die dabei helfen, das Beste aus beiden Welten – online und offline – zusammenzubringen.

ijab.de: In euren Studien habt ihr die Bedeutung digitaler Jugendarbeit für die Partizipation junger Menschen hervorgehoben. Könnt ihr etwas dazu sagen?

Franziska Koschei: Wir haben gesehen, dass junge Menschen durch digitale Tools an der Organsation und Gestaltung von Angeboten mitwirken konnten. Auch wurden die Wünsche an Online-Tools der Teilnehmenden in manchen Projekten berücksichtigt. Theoretisch ergeben sich aber noch weitere Partizipationsmöglichkeiten. Zum Beispiel, wenn junge Menschen durch die gewünschten Tools auch konkrete Aufgaben übernehmen. So könnten sie ihre Kompetenzen auch aktiv Einbringen. Zugleich kommt es aber nicht nur auf Tools an, sondern auf die Interessen junger Menschen – da sollte man ihnen gut zuhören.

Lotte Vermeire: Die Beziehung zwischen jungen Menschen und Jugendarbeiter*innen ist nicht hierarchisch. Junge Menschen teilen ihr Wissen gerne und Jugendarbeiter*innen können zuhören. Dies ist für junge Menschen sehr motivierend und die Ergebnisse sind manchmal erstaunlich. Discord, als Tool für den digitalen Austausch, trat bisher meist im Zusammenhang mit Spielsucht in der pädagogischen Debatte in Erscheinung. Tatsächlich ist es eine Gaming Plattform, die sich aber auch für vieles andere nutzen lässt. Es wird nun auch in der Jugendarbeit eingesetzt, und junge Menschen müssen sich nicht mehr als Parias oder Süchtige fühlen, wenn sie Discord nutzen, da der negative Beigeschmack, der damit verbunden ist, aufgehoben ist. Beteiligung funktioniert besser, wenn sie bottom-up verstanden wird. Kommunizieren kann man über viele Geräte und Plattformen, auch über eine Play Station, und wir sollten den Vorschlägen junger Menschen gut zuhören. Das kann auch Auswirkungen im politischen Raum haben, wenn wir über E-Partizipation nachdenken.

Es geht noch mehr – aber wie?

ijab.de: In euren Forschungsergebnissen sagt ihr, dass die Nutzung digitaler Tools noch nicht ausgereizt ist. Was ist nötig, damit das geschieht?

Franziska Koschei: Wir brauchen einen stärkeren Wissens- und Erfahrungsaustausch. Momentan passiert sehr viel, wenn es um die Digitalisierung von Angeboten geht, sei es im non-formalen oder im formalen Kontext. Ich sehe das allein schon in meiner Arbeit. Beim JFF beschäftigen wir uns ja nicht nur mit digitaler Internationaler Jugendarbeit. Wir schauen uns auch digitale Bildung in der Grundschule an oder arbeiten zum Thema „Digital Streetwork“. Wir erleben dort jede Menge unterschiedlicher Methoden, aber auch Gemeinsamkeiten. Wir müssten das alles mal zusammenführen und schauen, was davon übertragbar ist.

Lotte Vermeire: Da kann ich voll mitgehen. Wir müssen die Fähigkeiten der Trägerorganisationen von Jugendarbeit ausbauen. Das ist eine Aufgabe der Organisationen selbst, aber sie brauchen auch die Unterstützung der Regierungen. Eine Good-Practice-Plattform könnte eine solche Unterstützungsmaßnahme sein. Jugendarbeiter*innen haben gute Soft Skills, aber in der digitalen Welt trauen sie sich oft nicht viel zu. Daran müssen wir arbeiten. Und wir müssen immer wieder deutlich machen, dass digitale Jugendarbeit ein Mehrwert für die Gesellschaft ist und dass wir nicht erwarten, dass Jugendarbeiter digitale Experten sind. Und: Die Jugendarbeit, wie wir sie kennen, soll ja nicht abgeschafft werden – sie soll den Bedürfnissen der Zielgruppen angepasst werden. Non-formale Bildung und ihre Weiterentwicklung bleibt eine Schlüsselaufgabe.

ijab.de: Verlassen wir mal den nationalen Rahmen. Was bedeutet das, wenn wir das Thema digitale Jugendarbeit international denken – etwa in Bezug auf Internationale Jugendarbeit. Und inwiefern kann Europa Anstöße geben?

Lotte Vermeire: Digitale Jugendarbeit kann zu jedem Arbeitsfeld von Jugendarbeit etwas beitragen – auch zum internationalen Jugendaustausch. Die Bedürfnisse sind oft dieselben. Die EU gibt Empfehlungen, aber es mangelt an Anleitung, Unterstützung und Strukturen. Es bleibt also oft bei den nationalen Strukturen.

Franziska Koschei: Das stimmt. Gut wären auch mehr Hinweise für die praktische Arbeit, je konkreter, desto besser. Eine Orientierung können die „Europäischen Leitlinien für digitale Jugendarbeit“ geben, die sich auf den Bericht der EU-Expert*innengruppe zu „Digitalisierung und Jugend(arbeit)“ stützen. In jedem Fall könnte Europa dazu beitragen, dass wir voneinander lernen.

Eine der zentralen Studien von Lotte Vermeire zur Digitalen Jugendarbeit ist hier verfügbar: https://journals.oslomet.no/index.php/seminar/article/view/4701/4355 (Englisch)

Das Projekt „IJA.digital“ wurde von IJAB in Kooperation mit JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis durchgeführt, gefördert von Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Deutsch-Französisches Jugendwerk (DFJW), Deutsch-Polnisches Jugendwerk (DPJW), ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch, Tandem - Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch sowie Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch und unterstützt durch JUGEND für Europa, Deutsch-Griechisches Jugendwerk (DGJW) sowie Deutsch-Türkische Jugendbrücke.

Der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts “Internationale Jugendarbeit.digital“ kann hier heruntergeladen werden:

Der Abschlussbericht zum Download
Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts „IJA.digital - Internationale Jugendarbeit.digital“
Digitale Projekte in der Internationalen Jugendarbeit
Final report of the scientific monitoring of the project "IYW.digital - International Youth Work.digital"
Digital Projects in International Youth Work
Niedlicher AI-Roboter mit Laptop
Digitale Internationale Jugendarbeit

Der Aufgabenbereich Digitales bei IJAB befasst sich mit Fragen der digitalen Entwicklung in der Internationalen Jugendarbeit und setzt Projekte zur Information, Vernetzung, Qualifizierung und Beratung um – national und international.

Mann legt Stift auf einem Buch ab
Über Forschung

IJAB leistet einen Beitrag dazu, aktuelle Entwicklungen und Forschungsergebnisse aus dem Arbeitsfeld Internationale Jugendarbeit sichtbar zu machen.

Ansprechpartnerinnen
Ulrike Werner
Referentin
Qualifizierung und Weiterentwicklung der Internationalen Jugendarbeit
Tel.: 0228 9506-230
Natali Petala-Weber
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit / EKCYP
Tel.: 0228 9506-201