Mehrjährige Erfahrungen im Bereich internationaler sowie interkultureller Jugendarbeit lag bei dem Offenbacher Team bereits vor, u. a. auch in Kooperation mit Arbeit und Leben Hessen. Ein Projekt in den USA, und hier gezielt im indigenen Amerika, war allerdings für alle Neuland. Die Reisen 2000 und 2002 sowie die ehrenamtliche Menschenrechtsarbeit boten jedoch ausreichend Vorerfahrungen und Wissen zu Lebenslagen, Lebensperspektiven und Interessen junger Bewohner*innen der Pine Ridge Reservation, an die konzeptionell angeknüpft werden konnte. Außerdem fand seit 2002 auch ein reger Austausch zwischen Sozialarbeiter*innen und Lehrkräften der Pine Ridge Reservation und dem Offenbacher Team statt. Die Pine Ridge Reservation** ist jenes Gebiet, das den Oglala-Lakota Ende des 19. Jahrhunderts durch die US-Regierung in South Dakota zugewiesen wurde. Sie gilt als eines der ärmsten Counties der USA. Für junge Menschen bedeutet dies u. a. Aufwachsen mit Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, rassistischen Diskriminierungen und existentieller Unterversorgung. Hinzu kommt, dass die Pine Ridge Reservation in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur einer jener Orte war, an denen sich Native Americans gegen die anhaltende Repression und Diskriminierung mit spektakulären Aktionen erhoben. Die Pine Ridge Reservation war zugleich Ort bürgerkriegsähnlicher Zustände aufgrund der Schreckensherrschaft eines korrupten Stammespräsidenten der Oglala, der mit Hilfe staatlicher Institutionen seine eigene Bevölkerung terrorisierte.***
Addiert man die traumatischen Folgen jahrhundertelanger Kolonialisierungs-, Genozid- und Ethnozidgeschichte**** hinzu, dürfte es kaum verwundern, dass sich dies alles psychisch bei vielen (jungen) Indigenen in Formen (auto-)destruktiver Gewalt manifestiert. Gleichzeitig gibt es aber auch ein enormes Potenzial an Kreativität, künstlerischem Geschick und sportlichem Engagement: Gleich ob Rock- oder Hip-Hop-Musik, Tanz, Malerei, Medienproduktionen oder Skulpturen, ob beim Reiten, Basketball oder in der Leichtathletik – Sport und Kultur waren und sind für viele junge Natives wichtige Ausdrucksmittel ihrer Stärke und ihres Ungebrochenseins. Dementsprechend lag also nichts näher, als das Programm der geplanten Jugendbegegnungen entsprechend zu gestalten, wohlwissend, dass Musik, Medien und Sport auch zu den top Freizeitpräferenzen der in Deutschland lebenden Jugendlichen zählen.
Zum Projektaufbau und -ablauf
Beim Projektaufbau wurden unterschiedliche methodische Elemente einer erlebnisorientierten Jugendarbeit berücksichtigt: internationale Jugendarbeit, Jugendkulturarbeit, politische Bildung, Sport Erlebnispädagogik, Medienpädagogik und Gruppenarbeit.***** Aus diesen Elementen entstand ein spannender Mix aus Workshops, Projektbesuchen, Vorträgen, Sport, Diskussionen und Exkursionen, wobei jede Tour unter einem eigenen Themenschwerpunkt stattfand (z. B. Save Mother Earth, Native Lives Matter). Die ca. 28 teilnehmenden Jugendlichen absolvierten in den zweiwöchigen Begegnungsaktionen täglich einen bis zu 16 Stunden langen Aktionsparcours. In den unverplanten Phasen des Zusammenseins tauschten sich die jungen Teilnehmer*innen über alles Mögliche aus: Mode und Musik, Zukunftsträume, Sport und Filme, Freundschaft, das Leben in den jeweiligen Heimatländern.
Eine nachhaltige Wirkung der Begegnungen – auf beiden Seiten
Die teils sehr emotionalen Erfahrungen während der Begegnungen sensibilisierten vor allem die deutschen Projektteilnehmer*innen, sich längerfristig mit den Lebensrealitäten indigener Bevölkerungen auseinanderzusetzen. Viele Teilnehmer*innen brachten ihre Erfahrungen und ihr Wissen in schulischen Projekten und Abschlussprüfungen oder auch als spätere Diplomarbeitsthemen an der Hochschule ein. Einzelne Teilnehmende begannen, sich in der Menschenrechtsarbeit zu engagieren, andere hielten die Kontakte viele Jahre über Social Media aufrecht und studierten später sogar in den USA. Bei den jungen Lakota gab es ähnliche Beobachtungen. Einige kamen später zu Besuch nach Deutschland, nahmen dort an gemeinsamen Projekten teil und besuchten auch ihre deutschen Freund*innen. Andere nahmen gleich über mehrere Jahre an den Begegnungen in den USA teil und engagierten sich später in dortigen Jugendzentren als ehrenamtliche Musikteamer*innen.
Anforderungen an die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit
Sicherlich war das Gesamtkonzept der Projekte und dessen Vielfältigkeit mitentscheidend für den erfolgreichen Verlauf. Doch bedurfte es weiterer Gelingensbedingungen: Die Projekte waren inhaltlich und bezogen auf die Begegnungen langfristig und intensiv vorbereitet. Die Offenbacher Teamer*innen verfügten nicht nur über umfassende Kenntnisse zur amerikanischen Geschichte und Geografie sowie zur Geschichte des indigenen Amerikas, sondern waren gleichzeitig in der Lage, Rock-, Hip-Hop- und Medienworkshops anzuleiten. Darüber hinaus verfügten sie aufgrund ihrer Menschenrechtsarbeit über ein breites Kontaktnetz zu Personen und Projekten in die Native American Reservations, was ihnen einen entsprechenden Vertrauensbonus einbrachte. Ausgesprochene interkulturelle Kompetenz im Hinblick auf die indigene Bevölkerung der USA ist entscheidend für eine gelingende Zusammenarbeit. Nach über 500-jähriger Kolonialisierungsgeschichte sind Native Americans gegenüber allen Formen gewollter oder auch ungewollter Vereinnahmung und Fremdbestimmung durch andere verständlicherweise sehr sensibel.
Entscheidend war bei der Planung von Projekten auch die Möglichkeit, zeitnah vor den eigentlichen Projekten Fachkräftebegegnungen vor Ort durchzuführen. In deren Rahmen lernten sich indigene und deutsche Jugendarbeiter*innen nicht nur besser kennen, sondern es konnten auch Rahmenbedingungen für die Jugendbegegnungen gemeinsam erarbeitet werden. Eine weitere Voraussetzung ist die finanzielle Unterstützung durch Bundesprogramme oder Sonderprogramme. Ohne diese Zuschüsse wären die Fachaustausche sowie Jugendbegegnungen nicht möglich gewesen. Bislang gab es in den USA kein Programm, das analog dem Kinder- und Jugendplan des Bundes solche Projekte für amerikanische Jugendliche fördert. Die Reisen unserer indigenen Gäste nach Deutschland hingegen konnten vor allem aufgrund der finanziellen Unterstützung namhafter Künstler*innen ermöglicht werden.
* U. a. Ten Years After, Canned Heat, Louisiana Red, Robin Trower, Kraan, Animals, Wild Romance, Crazy World of Arthur Brown, Chris Farlowe, Man, u. v. a. m.
** Näher hierzu im Kapitel „Reservationblues“ in M. Koch/M. Schiffmann: Ein Leben für die Freiheit – Leonard Peltier und der indianische Widerstand.
*** Auch hierzu im unter 7 genannten Buch das Kapitel „Pine Ridge Reservation“ sowie den Film „Halbblut (Thunderheart)“, 1992, directed by Michael Apted.
**** Hierzu zählen auch die Zwangsinternierung hunderttausender indigener Kinder in den USA und Kanada in Internatsschulen oder deren Zwangsadoptionen bzw. Unterbringung in Pflegeeinrichtungen/-familien.
***** Zum Konzept „Erlebnisorientierte Jugend(kultur- und –bildungs)arbeit" s. a. M. Koch: Wenn die Fachdiskurse miteinander tanzen. Erlebnisorientierte Jugendkulturarbeit als emanzipatorischer Beitrag zu Persönlichkeitsentwicklung, in: Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung e. V. (Hrsg.): Kulturarbeit und Armut, Remscheid 2000.