Eine Gruppe von Menschen posiert vor der Kamera. Eine Gruppe von Menschen posiert vor der Kamera.
Türkei

„Wir sind gar nicht so weit auseinander“

Fachkräfteaustausch zwischen Nürnberg und Gaziantep

Millionen von Menschen sind vor dem Krieg in Syrien ins Nachbarland Türkei geflohen. Viele von ihnen werden bleiben. Das wirft die Frage auf, wie sie ein selbstverständlicher Teil der türkischen Gesellschaft werden können. Deutsche und türkische Fachkräfte haben sich in der Grenzstadt Gaziantep ein Bild davon gemacht. Şükran Yalçın vom türkischen Ministerium für Jugend und Sport und Hans Steimle von der BAG Evangelische Jugendsozialarbeit berichten IJAB darüber in einem Interview.

15.12.2021 / Christian Herrmann

ijab.de: Şükran, Hans, ihr habt gemeinsam ein deutsch-türkisches Fachprogramm in Gaziantep und Nürnberg zum Thema Integration bzw. Inklusion durchgeführt. Könnt ihr ein paar Worte zum Hintergrund sagen?

Şükran Yalçın: Das Fachprogramm ist im deutsch-türkischen Fachausschuss entstanden, den es seit 1994 gibt. Dort werden gemeinsame Aktivitäten im Jugendbereich vereinbart. Im November waren wir in Nürnberg und bis vor ein paar Tagen in Gaziantep. 8 Personen aus Deutschland und 9 aus der Türkei haben teilgenommen. Aufgrund der unterschiedlichen Strukturen unterschied sich die Zusammensetzung der Delegationen. Auf der türkischen Seite waren zum Beispiel das Jugend- und das Bildungsministerium beteiligt und auch unser noch relativ junges Migrationsamt. Auf der deutschen Seite waren es vor allem NGOs.

Hans Steimle: Die Planung für das Fachprogramm begann schon im Dezember 2019. Ursprünglich sollte es im Frühjahr 2020 stattfinden, aber die Corona-Pandemie hat das unmöglich gemacht. Wir haben es dann auf den Herbst 2020 verschoben und waren sehr traurig, dass wir auch diesen Termin absagen mussten. Umso glücklicher sind wir jetzt, dass das Fachprogramm stattfinden konnte. Im Nachhinein hat sich gezeigt, dass die lange Planungsphase viel zum Gelingen beigetragen hat.

ijab.de: Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Gaziantep nah an der syrischen Grenze liegt. Ich nehme an, die Themen Flucht und Migration haben bei eurem Fachprogramm eine große Rolle gespielt.

Şükran Yalçın: Ja, genau deswegen haben wir die Stadt ausgesucht. Die Geflüchteten sind tatsächlich sehr präsent. Auf der Straße hört man überall Arabisch. In der Liste der türkischen Städte, in denen sich Geflüchtete niedergelassen haben, steht Gaziantep auf Platz 2, direkt hinter Istanbul. Wir wollten Projekte besuchen, die sich mit der Situation von Geflüchteten beschäftigen und mit den Menschen vor Ort ins Gespräch kommen.

ijab.de: Wie viele syrische Geflüchtete leben denn in Gaziantep?

Hans Steimle: Die Zahl, die ich vom BAMF bekommen habe, sagt 459.000. Das ist für eine Stadt von ursprünglich 2 Millionen eine ganze Menge. In Istanbul sind es 533.000. Ich habe bei dieser Reise gelernt, dass Gaziantep Teil eines gemeinsamen Kulturraums mit Syrien ist, das macht es für Geflüchtete einfacher, sich dort niederzulassen. Es sind etwa 50 Kilometer bis zur Grenze und auf der anderen Seite sind es nochmal 50 Kilometer bis Aleppo. Das ist ungefähr die Entfernung zwischen Stuttgart und Ulm. Ich lebe auf halbem Weg zwischen beiden Städten, würde also gewissermaßen auf der Grenze wohnen.

Die Geflüchteten werden bleiben

ijab.de: Wie gehen die Menschen in Gaziantep mit der großen Zahl von Geflüchteten um? In Deutschland haben wir ja 2015 und 2016 viel Hilfsbereitschaft erlebt, aber auch rassistische Übergriffe.

Hans Steimle: Ich habe die Stadt als sehr offen und vielfältig erlebt. Aber man hat uns natürlich auch von den Schwierigkeiten berichtet. Das betrifft zum Beispiel Wohnraum für alle, Schule, Ausbildung und Arbeit. Und natürlich taucht dann auch die Frage auf, „schaffen wir das?“ In der Türkei besteht die Situation mit den syrischen Geflüchteten ja schon seit 2011, lange bevor das in Deutschland zum Thema wurde. Zunächst hat man das als humanitären Notfall betrachtet, hat die Menschen in Zeltstädten untergebracht und mit dem Nötigsten versorgt. Jetzt ist oft von Integration die Rede – man geht also offenbar davon aus, dass viele bleiben werden.

Şükran Yalçın: Ja, allerdings benutzen wir den Begriff Integration nicht gerne, denn wir verbinden damit Assimilation. Wir wollen aber niemand assimilieren. Wir benutzen stattdessen den Begriff „soziale Anpassung“.

ijab.de: Gibt es signifikante Unterschiede in der Arbeit mit Geflüchteten zwischen Deutschland und der Türkei?

Şükran Yalçın: Die Situation in der Türkei verändert sich seit ein paar Jahren. Wir haben uns früher als Transitland wahrgenommen. Als ab 2011 die syrischen Geflüchteten kamen, sind wir davon ausgegangen, dass sie entweder in ihr Heimatland zurückkehren oder in andere Länder weiterziehen würden. Wir haben sie als vorübergehende Gäste betrachtet, haben sie in Flüchtlingslagern untergebracht und uns um Essen und Hygiene gekümmert. Langsam hat sich dann der Gedanke durchgesetzt, dass viele dauerhaft bleiben werden. Das warf dann die Fragen nach Bildung und Spracherwerb auf. Wie können wir es schaffen, dass sie sich an die türkische Gesellschaft anpassen? Das ist herausfordernd, denn viele haben keine gute Bildung und viele Mädchen werden mit 14 Jahren verheiratet – unter anderem deshalb werden sie oft nicht zur Schule geschickt. Wir versuchen in den Familien Überzeugungsarbeit zu leisten und schicken Lehrerinnen und Lehrer vorbei.

Inzwischen kooperieren das Jugendministerium, das Bildungsministerium und das Migrationsamt, um die Situation zu verbessern. Weil wir ein zentralistischer Staat sind, sind es hauptsächlich staatliche Institutionen, die aktiv sind. In Nürnberg habe ich gesehen, dass mehr NGOs beteiligt sind.

Hans Steimle: Als 2015 viele Geflüchtete über die Balkanroute zu uns kamen, haben sich zahlreiche Menschen engagiert, um zu helfen, aber es gab auch Stimmen die vor Überforderung warnten oder mit rassistischen Argumenten jede Zuwanderung ablehnten. Mit unserem ausdifferenzierten System sind wir aber ganz gut aufgestellt. Das betrifft Unterkünfte, Spracherwerb und berufliche Bildung – wobei für uns klar ist, dass Bildung immer Vorrang vor Arbeit hat. Eins darf man allerdings nicht vergessen: 2015 sind knapp 1 Million Menschen zu uns gekommen, die Türkei hat 5,5 bis 6 Millionen Geflüchtete aufgenommen – und das bei einer annähernd gleich großen Bevölkerung. Der Staat hat auf diese Situation reagiert und ähnliche Strukturen geschaffen, wie wir sie hier aus Deutschland kennen. Mit Unterstützung der GIZ gibt es jetzt auch aufsuchende Arbeit, um junge Menschen dazu zu bewegen, zur Schule zu gehen.

Der Staat und NGOs können nicht alles machen

ijab.de: Şükran, Sie haben das Thema NGOs angesprochen. Der deutsch-türkische Fachtag hat sich ja im Herbst sehr ausführlich mit den Themen Ehrenamt und freiwilliges Engagement beschäftigt. Welche Rolle spielt das bei der Arbeit mit Geflüchteten?

Şükran Yalçın: Wir haben bei unserem Besuch in Nürnberg eine sehr interessante Präsentation zu diesem Thema gesehen. In Deutschland spielen Freiwillige und Ehrenamtler offenbar eine große Rolle. Aber auch bei uns gibt es das. Wir haben in Gaziantep zum Beispiel einen 22-jährigen Syrer kennen gelernt, der unentgeltlich übersetzt. Eine große Rolle spielen die staatlichen Jugendzentren, in denen es viele Freiwillige gibt. Und wir spüren auch, dass sich viele Syrer engagieren möchten. Sie wollen etwas machen, um ihre Situation zu verbessern. Aus diesem Grund haben wir auch eine NGO besucht.

Hans Steimle: Das würde ich gerne ergänzen. Wir haben in Deutschland ein hoch professionelles System mit Hauptamtlichen, die die Zivilgesellschaft unterstützen. In der Türkei fußt die „soziale Anpassung“ zunächst auf einem staatlichen System, aber es nähert sich Deutschland an. Das hat auch damit zu tun, dass der Staat nicht alles leisten kann. NGOs übrigens auch nicht. Die Dinge funktionieren nur, wenn alle ihre Aufgaben erledigen und da sind dann natürlich auch Freiwillige und Ehrenamtler dabei. Ein Beispiel ist das Jugendzentrum in Gaziantep. Das ist an 7 Tagen in der Woche 24 Stunden rund um die Uhr geöffnet. Das geht überhaupt nur mit Freiwilligen. Da sind die Türkei und Deutschland gar nicht so weit auseinander.

ijab.de: Vielen Dank! Möchte vielleicht noch jemand etwas ergänzen?

Hans Steimle: Ja, für mich ist ganz wichtig, wie die Informationen in einem Austausch in Aktivität umgesetzt werden. Ein Beispiel: In Nürnberg haben wir das Konzept "house of resources", die vom BAMF gefördert werden, kennengelernt. Diese "houses of resources" setzen Impulse für die Weiterentwicklung der Arbeit von Migrantenvereinen. So etwas will man nun in der Türkei auch fördern. Und: durch die Besuche ist ein kleines Netzwerk entstanden, das über den einmaligen Austausch hinaus Bestand hat und nachhaltig ist. Inzwischen ist schon der Wunsch aufgekommen, sich gemeinsam mit dem Thema Diversität zu beschäftigen. Wir kommunizieren hauptsächlich über WhatsApp. Die türkische Version hat sogar ein tolles Übersetzungstool. Man tippt etwas auf Türkisch ein und es kommt bei uns auf Deutsch an. In Gegenrichtung gibt es das noch nicht, da warten wir noch drauf.

INT 4.0 – Namensnennung CC BY 4.0
Dieses Werk ist lizenziert unter einer INT 4.0 – Namensnennung CC BY 4.0 Lizenz.
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