zwei Frauen packen Lebensmittel in Papiertüten zwei Frauen packen Lebensmittel in Papiertüten
Türkei

Wie die Dinge ineinandergreifen

Dritter Teil des deutsch-türkischen Fachtags zum Ehrenamt

Beteiligung, Inklusion und die Gewinnung neuer Zielgruppen standen im Mittelpunkt des dritten und letzten Moduls der deutsch-türkischen Veranstaltungsreihe zu Ehrenamt und freiwilligem Engagement junger Menschen. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf der Arbeit mit jungen Geflüchteten.

29.11.2021 / Christian Herrmann

Mersin ist eine Hafenstadt an der südlichen Mittelmeerküste der Türkei, unweit der Grenze zu Syrien. Bis zum Ausbruch des Krieges im Nachbarland hatte Mersin etwa eine Million Einwohner. Innerhalb kurzer Zeit kamen 300.000 Geflüchtete hinzu. Ab 2016 beobachtete Tillie Kluthe, wie sie selbst sagt „Pendlerin zwischen Berlin und Mersin“, Unmut in der einheimischen Bevölkerung. „Syrer zurück nach Syrien“ war noch eine der freundlichen Formulierungen, die sie zu hören bekam. Tillie Kluthe und ihre Freundinnen und Freunde vom Verein AB Eğitim, Kültür ve İnsan Hakları Çalışmaları Derneği (Verein für Bildungs-, Kultur- und Menschenrechtsstudien) wollten etwas tun. Ausgestattet mit multikulturellen Erfahrungen und Methoden aus Erasmus+ initiierten sie ein Kulturfestival – ohne Budget. Lokale Behörden stellten einen geeigneten Ort, Bühne und Lautsprecheranlage zur Verfügung, türkische und syrische Straßenkünstler wurden angesprochen, Geschäftsleute spendeten Material und Lebensmittel. Die Resonanz war groß und erst durch die Corona-Pandemie musste das wiederkehrende Event pausieren.

Großes Engagement vor Ort

Ob ein solches Engagement für die türkische Gesellschaft typisch oder atypisch ist, war einer der Diskussionspunkte des deutsch-türkischen Fachtags. Asuman Göksel, Professorin an der Middle East Technical University in Istanbul hat alle Studien und Statistiken unter die Lupe genommen, die darüber Auskunft geben können. Das Fazit ihrer Studie von 2019 fällt ernüchternd aus. Nur eine Minderheit engagiere sich freiwillig oder im Ehrenamt, sagte sie. Diejenigen, die sich engagieren, seien vorwiegend männlich, überdurchschnittlich gebildet und leben in den Städten. Zudem fehle ein rechtlicher Rahmen. Zwar hätten sich gleich mehrere Ministerien und Behörden des Themas Freiwilligkeit angenommen, dennoch sei die Landkarte der türkischen Zivilgesellschaft eher zerklüftet und ungeregelt.

Christiane Reinholz-Asolli, Referentin bei IJAB, vermutet, dass viel Engagement keinen Eingang in die Statistiken findet. Tillie Kluthe stimmt ihr zu: „In die Statistik geht wahrscheinlich nur unser kleiner Verein ein, aber die vielen Menschen, die uns bei der Organisation unserer Frühlingsfestivals unterstützt haben – als Helfer, Spender oder unentgeltlich auftretende Künstler – erscheinen nirgendwo. Ein Indiz für Christiane Reinholz-Asollis These könnte der Lehrer Tahsin Özkan von einer Berufsschule in Adana sein. Auch in Adana haben sich viele Geflüchtete aus Syrien niedergelassen. Oft gehen Kinder und Jugendliche nicht zur Schule, ergreifen keinen Beruf, haben wenig Kontakt zu ihrem türkischen Umfeld und sprechen die Landessprache nur unzureichend. In besonderer Weise betrifft das die Mädchen, berichtet Tahsin Özkan. Schulleitung und Regionalregierung haben ihn und mehrere seiner Kolleginnen für die Nachmittage freigestellt. Gemeinsam gehen sie von Haus zu Haus und leisten bei syrischen Familien Überzeugungsarbeit dafür, ihre Töchter zur Schule zu schicken und sie einen Beruf erlernen zu lassen. Sein Engagement geht oft über seine eigentliche Arbeitszeit hinaus, aber er ist erfolgreich und das macht ihn glücklich. Zwei Mädchen aus der IT-Klasse hat er mitgebracht. Etwas schüchtern, aber zugleich auch neugierig, grüßen sie in die Kamera. Neugierig muss man wohl sein, wenn man neue Wege geht.

Unterstützung durch nationale und internationale Institutionen

Tahzin Özkans Arbeit für die berufliche Integration junger Geflüchteter wird vom türkischen Bildungsministerium unterstützt. Es hat ein Programm aufgelegt, das in Schlüsselregionen entlang der südlichen Mittelmeerküste und in den urbanen Ballungszentren, also dort, wo sich besonders viele Geflüchtete niedergelassen haben, für Berufsausbildung wirbt. Dafür muss man Zugänge ermöglichen, berichtete Osman Yalçin vom Ministerium für Bildung. Das fängt bei der Bewusstseinsbildung und Überzeugungsarbeit in den Familien an, ist aber auch ganz handfest. Schülerinnen und Schüler erhalten Unterstützung bei Kleidung und Verpflegung. In der Coronakrise wurden Tablets zur Verfügung gestellt, damit der Kontakt nicht abreißt und Lernen weiter möglich ist. Osman Yalcin ist aber nicht nur das gemeinsame Lernen junger Geflüchteter und ihrer türkischen Counterparts wichtig. Er setzt auch auf gemeinsame Freizeit. Sport, Kunst, Musik und sogar gemeinsame Reisen sind Teil des Programms.

Unterstützung bei der Entwicklung solcher Programme erfährt das türkische Bildungsministerium auch von der deutschen GIZ. Thilo Möller von der GIZ Türkei stellte das Projekt SRHC Austauschprojekt zur Integration syrischer Flüchtlinge in aufnehmende Gemeinden vor. Das Projekt förderte die Studie von Asuman Göksel zum Ist-Zustand der türkischen Zivilgesellschaft und ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen, treibt aber hauptsächlich die Vernetzung und den Wissensaustausch voran. Das betrifft die Vernetzung von staatlichen Institutionen und Zivilgesellschaft auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Es gab aber auch Study-Visits in Deutschland, um dort nach Good-Practice-Beispielen zu schauen.

Ungenutzte Potenziale

Im türkischen Ministerium für Jugend und Sport ist man sich des ungenutzten Potenzials, das in freiwilligem Engagement und Ehrenamt liegt, bewusst. Erkan Şamiloğlu vom Ministerium für Jugend und Sport sagte: „Wenn wir in der Gruppe der 15- bis 29-Jährigen fragen, wer sich freiwillig engagiert, dann kommen wir auf 5 bis 10%. Fragen wir aber, wer sich engagieren möchte, dann wollen das 78% tun.“ Den Grund für diese Diskrepanz sieht er in zu wenig Information darüber, wo und wie sich junge Menschen informieren können. Das türkische Jugenministerium hat daher unter gencgonulluler.gov.tr eine Plattform aufgesetzt, die junge Menschen, die sich engagieren möchten mit Vereinen und Einrichtungen in Verbindung bringt, die hierzu Angebote machen.

Für Hans Steimle von der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit, Mitorganisator der Veranstaltung, war das ein typisches Beispiel, wie staatliche Institutionen freiwilliges Engagement und Ehrenamt unterstützen können. „Wir sehen hier, wie die Dinge ineinandergreifen“, sagt er in seinem Resümee der Veranstaltung, „das große Engagement vor Ort, die Unterstützung durch Institutionen vor Ort und auf nationaler Ebene und auch die internationalen Verbindungen“.

Vier Menschen sprechen miteinander.
Über den Austausch mit der Türkei

IJAB führt mit der Türkei Fachprogramme und Partnerbörsen durch. Außerdem bieten wir interessierten Trägern Information und Beratung zum Austausch mit der Türkei an.

Ansprechpersonen
Christiane Reinholz-Asolli
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-112
Portrait Timo Herdejost
Timo Herdejost
Sachbearbeitung
Tel.: 0228 9506-130