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Istanbul
Türkei

Von Ehrenamt und Herzenssache

Deutsch-türkischer Fachtag zu freiwilligem Engagement

Ehrenamt, freiwilliges Engagement junger Menschen und non-formale Bildung in der Türkei und Deutschland sind Gegenstand eines deutsch-türkischen Fachtags. Der erste Teil der dreiteiligen Veranstaltung fand am 8. Oktober online statt und nahm die unterschiedlichen Definitionen in beiden Ländern in den Blick.

12.10.2021 / Christian Herrmann

Sprache gibt manchmal zu denken. Die türkische Entsprechung der Wörter Ehrenamt und Freiwilligenarbeit heißt gönüllülük und lässt sich mit Herzenssache übersetzen. Haben wir es also mit dem deutschen Amtsschimmel und türkischem Herzblut zu tun? Natürlich nicht, denn eine deutsche Freiwillige geht ihren Aufgaben mit genauso viel Begeisterung nach, wie ihr türkisches Gegenüber. Die Wörter verweisen aber auf unterschiedliche gesellschaftliche und historische Entwicklungen, die begriffsprägend waren. Wolfgang Hinz-Rommel vom Diakonischen Werk Württemberg und Erkan Şamiloğlu vom türkischen Ministerium für Jugend und Sport skizzierten in ihren Beiträgen die Hintergründe.

Unterschiedliche Geschichte

In beiden Ländern gibt es seit dem Mittelalter, bzw. den Tagen des Osmanischen Reichs, Stiftungen als frühe Form freiwilligen Engagements. Dann aber trennen sich die Wege. In Deutschland sind es im 19. Jahrhundert ein aufbegehrendes Bürgertum und die Arbeiterbewegung, die karitative Einrichtungen schaffen und über das Ehrenamt ein Mitspracherecht und gesellschaftliche Beteiligung erreichen. In der Türkei entsteht Vergleichbares erst nach dem Ende des Osmanischen Reichs und der Gründung der Republik – zunächst misstrauisch beäugt, denn der Staat wollte den Einfluss der Religion aus der Gesellschaft verdrängen. Ehrenamt und freiwilliges Engagement sind in Deutschland aufgrund dieser unterschiedlichen Entwicklung stärker institutionalisiert und gesetzlich geregelt. Was das in der Praxis bedeutet, schilderten Christoph Engler und Hanno Fietz vom Bundesjugendministerium in ihren Beiträgen. Gesetzlich geregelte Freiwilligendienste, ein Taschengeld für Freiwillige oder eine Aufwandsentschädigung für Ehrenamtler – also ein Anreizsystem – gibt es in der Türkei in dieser Form nicht. Dennoch sind die Dinge seit der Umgestaltung des türkischen Jugendministeriums 2013 in Bewegung. Freiwilliges Engagement junger Menschen wird seither offensiv beworben und 2019 fand das Jahr des Ehrenamts statt.

Die deutsche Institutionalisierung und die türkische Herzenssache – beide üben auf die jeweils andere Seite Anziehungskraft aus. Mehr Anreize für Freiwillige wünschte sich zum Beispiel Hakan Ekinci vom Verein Sivil Yaşam Derneği. Er hofft, dass so Freiwilligenarbeit bekannter wird und sich mehr junge Menschen beteiligen. Die deutschen Teilnehmer*innen waren hingegen begeistert von den Beiträgen von Sümeyra Yıldırım und Feyza Kılınç, die unentgeltlich in einem Jugendzentrum bzw. für eine NGO arbeiten. Ihre Begeisterungsfähigkeit und Fröhlichkeit wirkten ansteckend.

Zusammenhalt in der Gesellschaft

Was in beiden Ländern verstanden worden ist: Ehrenamt und Freiwilligenarbeit sind ein wichtiger Beitrag für den Zusammenhalt in der Gesellschaft und für das Aufwachsen junger Menschen. “Bei uns gibt es viele Menschen, die wahrscheinlich gar nicht wissen, dass sie sich freiwillig engagieren”, sagte Buse Demircan vom türkischen Jugendministerium während der Veranstaltung. Und dennoch: Die Türkei ist ein Land im Wandel. Seit Jahren erlebt das Land eine Urbanisierung der Gesellschaft. Die Großstädte wachsen, Istanbul ist eine Megalopolis von 16 Millionen Einwohnern geworden. Das verändert das soziale Gefüge in Stadt und Land. Freiwillige Nachbarschaftshilfe ist keine selbstverständliche Ressource mehr. Dazu kommt: Die Türkei ist ein junges Land. Junge Menschen übernehmen freiwillig Verantwortung im Gesundheitsbereich, bei der Feuerwehr, in der Erdbebenhilfe oder in der Jugendarbeit – und das soll nach Möglichkeit ausgebaut werden. Das möchte man auch in Deutschland – wenn auch unter anderen Vorzeichen, denn hier gehört eine alternde Gesellschaft zu den Herausforderungen.

Es geht weiter

Fünf Stunden Online-Gespräche über Zoom sind eine lange Zeit und dennoch reichten sie gerade, um den Ist-Zustand in beiden Ländern unter die Lupe zu nehmen. “Wir sind schnell geneigt, die Defizite eines Veranstaltungsformats zu sehen”, sagte IJAB-Referentin Christiane Reinholz-Asolli, die gemeinsam mit Hans Steimle von der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit durch den Fachtag führte zum Abschluss, “aber es ist Dank der Technik natürlich ganz wunderbar, dass wir unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt miteinander reden können”. Gelegenheit, das Gespräch fortzusetzen und zu vertiefen wird es am 27. Oktober und 25. November geben. Dann wird es um die Themen Qualifizierung, Bildung, Anerkennung und Zertifizierung sowie um Beteiligung, Inklusion, neue Zielgruppen und Digitalisierung gehen. Die Anmeldung zu beiden Folgeveranstaltungen ist weiterhin möglich.

INT 4.0 – Namensnennung CC BY 4.0
Dieses Werk ist lizenziert unter einer INT 4.0 – Namensnennung CC BY 4.0 Lizenz.
Vier Menschen sprechen miteinander.
Über den Austausch mit der Türkei

IJAB führt mit der Türkei Fachprogramme und Partnerbörsen durch. Außerdem bieten wir interessierten Trägern Information und Beratung zum Austausch mit der Türkei an.

Ansprechpersonen
Christiane Reinholz-Asolli
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-112
Timo Herdejost
Sachbearbeitung
Tel.: 0228 9506-130