Eine Frau spricht mit einem Jungen. Eine Frau spricht mit einem Jungen.
Annegret Warth
Türkei

„Nach der Pandemie wird die Welt anders sein“

Perspektiven des deutsch-türkischen Jugendaustauschs

Annegret Warth ist Bildungsmanagerin in der Stuttgarter Stadtverwaltung und bringt formale und non-formale Bildung an einen Tisch. Ihre große Leidenschaft gehört dem deutsch-türkischen Jugendaustausch. Um den ist es gerade schlecht bestellt, denn die Corona-Pandemie und der Wertverfall der türkischen Lira setzen ihm zu. IJAB hat mit Annegret Warth über die Perspektiven des Austauschs und die Situation junger Menschen in der Türkei gesprochen.

21.12.2020 / Christian Herrmann

ijab.de: Annegret, wo kommt deine große Leidenschaft für die Türkei her?

Annegret Warth: Ich bin 2007 mit einem Erasmus-Stipendium in der Türkei gewesen. Da ich aus der verbandlichen Jugendarbeit komme, habe ich mich gefragt, wie Jugendarbeit in der Türkei aussieht. In einem Uniseminar habe ich darauf erste Antworten gefunden. Über ein Praktikum habe ich dann meinen Aufenthalt verlängert und habe meine Diplomarbeit über die Situation Jugendlicher und junger Erwachsener in der Türkei geschrieben. In diesem Jahr habe ich meine Promotion über die Jugend in der Türkei abgegeben. Ein wichtiges Thema ist für mich, wie Europa die Jugendarbeit in der Türkei über den Jugendaustausch stärkt und wie Jugendarbeit in der Türkei über europäische Mittel hinaus gestärkt werden kann. Ich nehme dabei eine wissenschaftliche, aber auch institutionelle Perspektive ein und frage mich, wie bessere Voraussetzungen für Jugendarbeit in der Türkei vor Ort geschaffen werden können.

Im Rahmen eines Mercator-IPC-Stipendiums habe ich mich auch mit der kommunalen Jugendpolitik beschäftigt. Wie kann Jugendarbeit in der Türkei durch Kommunen gestärkt werden und wie können internationale Kontakte dabei helfen?

ijab.de: Du beschäftigst dich also mit der Situation junger Menschen in der Türkei. Wie geht es denen?

Annegret Warth: Seit den 80er-Jahren gibt es große Veränderungen im Aufwachsen der jungen Menschen in der Türkei. In dieser Zeit begann ein enormer Bildungsaufbau. Bis dahin waren Menschen, die mehr als eine Grundschule besucht haben, eine kleine Minderheit. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Türkei haben heute ganz andere Bildungs- und Lebensverläufe als ihre Eltern oder Großeltern. Die Eltern können ihnen wenig Vorerfahrungen mitgeben. Dadurch müssen sie sich neu positionieren und gewissermaßen neue Identitäten und Traditionen aufbauen. Die Globalisierung und die mit ihr verbundenen Jugendkulturen und globalen Identitäten bieten ihnen dafür Möglichkeiten. Doch diesen Praktiken Jugendlicher Identitätsbildung fehlt es bislang an gesellschaftlicher Anerkennung in der Türkei. Junge Menschen hören oft, „ihr müsst euch anpassen“. Es fehlen Räume, die sie selbst gestalten können. Jugendliche müssen sich diese Räume selbst herstellen. Dabei sind sie mitunter sehr kreativ.

ijab.de: Inwiefern wirkt sich die Coronakrise auf diese Lebenswirklichkeit aus?

Annegret Warth: Durch die Ausgangssperren gibt es eine Art Verhäuslichung, denn man kann tatsächlich nur für wenige Stunden vor die Tür. Durch den Online-Unterricht an Schulen und Universitäten werden junge Menschen auch wieder verstärkt zu Bildungssubjekten. Sie werden mehr auf ihren Nahraum beschränkt als zuvor. Auswege bietet nur die digitale Welt, dort können sie noch Räume selbstbestimmt gestalten.

ijab.de: Du hast den Jugendaustausch mit der Türkei angesprochen. Der leidet nicht nur unter der Corona-Pandemie, sondern auch unter dem Wertverfall der türkischen Lira. Reisen sind zu einem Luxusgut geworden. Wie siehst du die Perspektiven?

Annegret Warth: Ich sehe die Auswirkungen auf institutioneller Ebene. Viele Jugendorganisationen in der Türkei bestreiten ihre Ausgaben über die Mittel, die sie mit dem Jugendaustausch erwirtschaften. Sie bezahlen buchstäblich ihre Miete davon. Einige Organisationen werden wegen des Wegfalls dieser Einnahmen nicht überleben. Andrerseits: Organisationen in der Türkei sind krisenerprobt. Sie sind flexibler und werden hoffentlich andere, kreative Lösungen finden. Wir brauchen jetzt eine neue Bestandsaufnahme der Gesellschaft für die Zeit nach der Pandemie. Corona verändert uns alle. Nach der Krise werden die Menschen anders sein, die Institutionen, die Welt wird anders sein. Wir werden uns neu orientieren müssen und überlegen, wie wir die Jugendarbeit in dieser neuen Welt stärken und weiterentwickeln können. Die Bedeutung des Jugendaustauschs ist dabei enorm, denn er schafft für junge Menschen Räume, in denen sie sich ausprobieren und Neues entdecken können. Eltern in der Türkei lassen ihre Kinder nicht unbedingt gerne alleine reisen. Aber beim Jugendaustausch sehen sie, dass es eine Organisation gibt, die sich kümmert. Dieser institutionelle Rahmen ist gerade für junge Frauen wichtig.

ijab.de: Wir reden hier natürlich auch über den deutsch-türkischen Jugendaustausch. Ist der Blick Richtung Europa für junge Menschen aus der Türkei überhaupt noch attraktiv? Wenn man der türkischen Politik zuhört, möchte man meinen, das Land orientiert sich gerade in eine ganz andere Richtung.

Annegret Warth: Man muss zwischen türkischer Politik und türkischer Bevölkerung unterscheiden. Die Globalisierung öffnet viele Türen, Trends können aus den USA oder aus Korea kommen. Jugendliche Identitätsbildung ist nicht auf den Nationalstaat begrenzt. Ich erinnere mich an ein Interview im türkischen Fernsehen, das in der Öffentlichkeit und auch bei meinen Freundinnen und Freunden für ziemlichen Wirbel gesorgt hat. Das muss 2019 gewesen sein. Eine junge Frau wurde gefragt, was sie sich für die Zukunft wünscht. Sie sagte, sie wolle Medizin studieren, Ärztin werden und dann nach Deutschland auswandern. Das wurde natürlich kontrovers diskutiert, ist aber auch bezeichnend für die Situation.

ijab.de: Plagt dich das Fernweh? Wann wirst du wieder in die Türkei reisen?

Annegret Warth: Es ist gerade eine schlechte Zeit für Reisen und niemand weiß, wann es besser wird. Natürlich bleibe ich mit meinen Freundinnen und Freunden in der Türkei über soziale Medien verbunden und wir sprechen oft miteinander. Außerdem beschäftige ich mich damit, wie ich die Bande zwischen meiner Heimatstadt Stuttgart und der Türkei enger knüpfen kann. Diese Verbindung zwischen kommunal und international – zum Beispiel durch Städtepartnerschaften – interessiert mich sehr. Mal sehen, was ich daraus machen kann.

Vier Menschen sprechen miteinander.
Über den Austausch mit der Türkei

IJAB führt mit der Türkei Fachprogramme und Partnerbörsen durch. Außerdem bieten wir interessierten Trägern Information und Beratung zum Austausch mit der Türkei an.

Ansprechpersonen
Christiane Reinholz-Asolli
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-112
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Sachbearbeitung
Tel.: 0228 9506-130