Ein Bagger räumt Schutt beiseite Ein Bagger räumt Schutt beiseite
Türkei

Die Jugendarbeit geht im Zelt weiter

Die Türkei nach dem Erdbeben

Am 6. Februar 2023 bebte in der Türkei und in Syrien die Erde. Zehntausende Menschen kamen ums Leben, ganze Städte wurden zerstört. Im Epizentrum des Bebens liegt die Stadt Kahramanmaraş. Das dortige Jugendzentrum ist Austauschpartner des Jugendhauses Nordstraße in Bonn. Die Redaktion von ijab.de hat Jugendhaus-Mitarbeiterin Saliha Biçer gefragt, wie es den türkischen Partner*innen geht und welche Hilfe nötig ist.

31.05.2023 / Christian Herrmann

ijab.de: Frau Biçer, Ihr Jugendhaus Nordstraße und zuletzt auch das Jugendzentrum Drandorf in Bonn machen Jugendaustausch mit einer Partnereinrichtung in Kahramanmaraş im Südosten der Türkei. Erzählen Sie uns ein bisschen darüber.

Saliha Biçer: Wir haben seit 1998 kontinuierlich den Austausch mit der Stadt Mersin gemacht. Nach zwanzig Jahren Austausch mit Mersin wollten wir mit einer anderen Stadt den Austausch fortführen. 2017 sind wir auf einer Partnerbörse von IJAB auf das Jugendzentrum in Kahramanmaraş aufmerksam geworden. 2018 sind wir zum ersten Mal mit 14 Jugendlichen und zwei Betreuer*innen dorthin gefahren. Danach ist uns Corona in die Quere gekommen und der Gegenbesuch fand erst 2022 statt.

ijab.de: Was für Jugendliche in ihrem Jugendzentrum interessieren sich für den Austausch mit der Türkei?

Saliha Biçer: Unsere Teilnehmer*innen sind zwischen 14 und 17 Jahre alt. Wir haben viele Nationalitäten im Jugendzentrum und das spiegelt sich auch bei den Teilnehmer*innen wieder. Auch für die türkischstämmigen Jugendlichen sind diese Austausche spannend. Außer ihrem direkten familiären Umfeld und den damit verbundenen Urlaubsreisen oder Verwandtschaftsbesuchen wissen sie meist nicht besonders viel über die moderne Türkei. Es ist für alle Teilnehmer*innen interessant zu sehen, was ein Jugendzentrum in unserer Partnerstadt anbietet oder wie der Schulunterricht funktioniert. Und natürlich ist es interessant, wie der Alltag von Jugendlichen in der Türkei aussieht. Auch die Stadt Kahramanmaraş und die Umgebung fanden die Jugendlichen sehr interessant, da die Stadt nicht so touristisch wie Antalya ist.

Mitarbeiter*innen und Jugendliche sind ums Leben gekommen

ijab.de: Anfang Februar hat ein schweres Erdbeben die Türkei und Syrien heimgesucht. Wie sind die Auswirkungen auf eure Partner?

Saliha Biçer: In diesem Jahr konnte der geplante Austausch in Kahramanmaraş nicht stattfinden. Unsere Partner haben jetzt wichtigeres zu tun, denn Kahramanmaraş lag im Epizentrum des Erdbebens. 60 bis 65% der Stadt sind zerstört. Die Hälfte der Mitarbeiter*innen im Jugendzentrum ist ums Leben gekommen und auch viele Jugendliche. Viele Menschen leben in Zeltlagern oder in Containern. Natürlich versuchen die Regierung und viele Hilfsorganisationen zu helfen. Aber das Beben hat 11 Provinzen getroffen, der schiere Umfang der Zerstörung macht die Hilfe schwierig. Oft ist auch die Infrastruktur zerstört worden, die Straßen waren nicht befahrbar. Das verzögert die Hilfe.

ijab.de: Steht ihr mit euren Partnern regelmäßig in Kontakt und welche Möglichkeiten habt ihr, zu helfen?

Saliha Biçer: Ja, ich stehe regelmäßig in Kontakt. Unsere Partner haben uns um Lebensmittel während des Fastenmonats Ramadan und für das Fastenbrechen gebeten. Dafür haben wir Geld gesammelt und über einen Mittelsmann in der Türkei diese Lebensmittel kaufen und liefern lassen. So haben die Menschen warme Mahlzeiten bekommen, das war am Anfang wichtig.

ijab.de: Wie ist jetzt die Situation, ein paar Monate nach dem Beben?

Saliha Biçer: Erst vor zwei Tagen habe ich mit einem unserer Partner gesprochen. Die Menschen versuchen so etwas wie Normalität einkehren zu lassen. Das ist nicht einfach, denn viele leben weiterhin in Zelten. Im Winter war es kalt – mit tiefen Minusgraden – jetzt im Sommer erwarten wir, dass es zu heiß werden wird. Viele Überlebende sind in andere, nicht so stark betroffene Provinzen gegangen und leben dort zum Beispiel in Senioren- oder Kinderheimen. Von ihnen sind inzwischen etwa 50% zurückgekommen. Unser Partner sagt, „wir versuchen positiv zu denken“. Die Jugendarbeit geht jetzt im Zelt weiter, unsere Kolleg*innen versuchen dort Angebote zu machen.

Der Jugendaustausch muss gut vorbereitet sein

ijab.de: Ist unter diesen Bedingungen überhaupt in absehbarer Zeit ein Austausch vorstellbar?

Saliha Biçer: Wir haben überlegt, ob wir im Sommer oder Herbst eine größere Gruppe von Jugendlichen hierher holen. Aber dafür ist es noch zu früh. Beide Seiten müssen sehr gut darauf vorbereitet sein und die Finanzierung muss auch gesichert sein.

ijab.de: Vorbereitung ist sicher ein ganz wichtiger Punkt. Es sind ja nicht nur materielle, sondern auch seelische Schäden entstanden.

Saliha Biçer: Ja, und es ist nicht immer vorhersehbar, wie traumatisierte Jugendliche reagieren. Ich erinnere mich an das schwere Erdbeben von 1999. Etwa zwei bis drei Jahre später hatten wir eine türkische Jugendgruppe hier. Auf dem Programm hatten wir das Haus der Geschichte. Normalerweise finden das alle spannend. Aber die türkische Gruppe ist dort wieder rausgerannt, weil der Bunker sie an die Erlebnisse, vor allem die Geräusche, während des Erdbebens erinnerte. Man muss also von beiden Seiten her wirklich sehr gut vorbereitet sein.

ijab.de: Was kann man von hier aus tun?

Saliha Biçer: Wir haben am Anfang warme Kleidung, Decken und Zelte gesammelt und nach Kahramanmaraş geschickt. Was mir wichtig ist: Wir müssen mit unseren Partnern in direktem Kontakt bleiben. Die Partner können am ehesten sagen, was benötigt wird. Das zweite ist: anrufen! Für die Partner ist es wichtig, zu wissen, dass wir an sie denken, dass sie nicht vergessen sind, dass wir ihnen Mitgefühl entgegenbringen und dass wir für Hilfe bereitstehen. Und natürlich dürfen wir die Idee, eine große Gruppe von Jugendlichen hierher zu holen und die gesamte Finanzierung zu ermöglichen, nicht aus den Augen verlieren. Wer uns dabei unterstützen möchte, kann sich gerne über das Jugendzentrum Nordstraße an mich wenden.

Kontakt

Jugendhaus Nordstraße, Saliha Biçer
https://www.bonn.de/themen-entdecken/familie-partnerschaft/jugendhaus-nordstrasse.php

Vier Menschen sprechen miteinander.
Über den Austausch mit der Türkei

IJAB führt mit der Türkei Fachprogramme und Partnerbörsen durch. Außerdem bieten wir interessierten Trägern Information und Beratung zum Austausch mit der Türkei an.

Ansprechpersonen
Christiane Reinholz-Asolli
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-112
Timo Herdejost
Sachbearbeitung
Tel.: 0228 9506-130