Bereits im Vorbereitungsseminar traten erste spannende Unterschiede zwischen den beiden Ländern zu Tage, die uns während des Studienprogramms weiter beschäftigen sollten. Armut wird in Japan sehr schambehaftet wahrgenommen und ist daher nicht so sichtbar, wie beispielsweise in Deutschland. Das soziale Hilfesystem in Japan erscheint nicht so ausgebaut zu sein, wie es hierzulande der Fall ist. Abgefedert werden fehlende, institutionalisierte Hilfsangebote durch ehrenamtliche Organisationen und Arbeiter*innen. Aber auch hier tut sich ein wichtiger Unterschied zu Deutschland auf. Denn während das Ehrenamt in Deutschland gesellschaftlich ein sehr hohes Ansehen genießt und sehr weit verbreitet ist, ist das in Japan nicht unbedingt der Fall. Trotz dieser schwierigen Ausgangsbedingungen gibt es eine Vielzahl von ehrenamtlichen, sozialen Trägern quer über die ganze Insel verteilt, mit vielen motivierten und besonders engagierten, im sozialen Bereich Tätigen. Ihr Engagement ist gar nicht hoch genug zu werten, wie wir von der deutschen Delegation im Laufe des Studienprogramms noch feststellen sollten. Ein weiterer Grund für die Unterschiede im Bereich der sozialen Arbeit liegt darin, dass die Schule in Japn weit mehr Zeir und Raum einnimmt und viele der unterstützenden Hilfsangebote von bzw. im Rahmen der Schule abgedeckt werden. Der Unterricht zieht sich bis in den späten Nachmittag hinein und diverse Unterstützungs- wie auch Sportangebote zählen meist in den Geltungsbereich der japanischen Schulen. Eklatante Unterschiede waren auch im Umgang mit der Corona-Pandemie zu erkennen. Vor allem beim Thema Digitalisierung zeigte es sich, wie unkompliziert in Japan Maßnahmen der Regierung umgesetzt werden konnten, um die digitale Kluft zu beseitigen. So wurden Endgeräte in Form von Laptops oder auch Tablets in den Schulen an jede*n Schüler*in kostenfrei und unkompliziert ausgehändigt. Im Gegenzug wurden die hohen Hürden der deutschen Bürokratie für die Beschaffung der Endgeräte und die unterschiedlichen Maßnahmen der einzelnen Bundesländer von den japanischen Kolleg*innen verwundert aufgenommen. An japanischen Mittelschulen beträgt der Anteil der genutzten Endgeräte über 96%. Eine Zahl, die im Vergleich mit Deutschland wie Science-Fiction anmutet.
Zwei Praxisbeispiele aus Japan
Bei den einzelnen Sitzungen waren sowohl von deutscher wie auch von japanischer Seite Gastreferenten dabei, die von ihrer praktischen Arbeit berichteten. Sehr spannend waren hierbei die Referate von der „Social Media-Association (SMA)“ und der „Gruppe für Internet- und Spielabhängigkeit ‚Field of Sharing Hearts‘ (FiSH)“.
Bei der Social Media Association handelt es sich um einen Verbund von Student*innen, die Kindern und jungen Menschen, die an Internet- und Spielsucht leiden, in analoger Form helfen wollen. Anders als in Deutschland, wo der Schwerpunkt meist auf suchttherapeutischen Ansätzen beruht, finden sich bei der SMA engagierte junge Studierende, welche die betroffenen Jugendlichen zu sog. „Offline-Camps“ einladen. Das Handy und technische Geräte werden hierbei zu Beginn der Veranstaltungen eingesammelt, und es werden Freizeitaktivitäten durchgeführt, welche die sozialen Fertigkeiten der Teilnehmer*innen schulen und verbessern sollen. Durch die Entwicklung eines Gemeinschaftlichkeitsgefühls, durch das Erleben von spaßigen Aktivitäten und durch gemeinsame Diskussionsrunden, in denen das eigene Nutzungsverhalten reflektiert wird, sollen den jungen Menschen Alternativen aufgezeigt werden zu der intensiven Online-Nutzung. Prof. Takeuchi, Soziologe und Medienwissenschaftler der dieses Projekt begleitet und betreut, berichtete hierbei davon, dass es einer besonderen „Informationsethik-Erziehung“ bedarf, um die vielen, durch die Digitalisierung entstandenen Probleme anzugehen. Er zeigte in einer spannenden Präsentation auf, dass in Japan zu beobachten sei, dass die Schulgewalt vor allem bei der Altersklasse der sechs bis zwölfjährigen überproportional zugenommen hätte seit 2014. Ein Grund wurde darin vermutet, dass durch die intensivere Online-Nutzung auch mehr Kontakte im virtuellen Raum entstünden, die zu einer vermehrten Anzahl an digitalen Konflikten führe, welche dann in der Schule ausgetragen werden. Eine Beobachtung, die eine eingehendere Betrachtung auch auf deutschen Schulen interessant erscheinen lässt. Cyber-Mobbing, Online-Begegnungen mit fremden Menschen und ausufernde Internetnutzung sind die Phänomene, die in den letzten 7 Jahren enorm zugenommen haben und deren Bewältigung eines Konzeptes bedarf, in der sowohl die Jugendlichen wie auch die Eltern mit an Bord genommen werden sollten. Aufklärung, Selbstreflexion und das Anbieten von gemeinsamen Aktivitäten sind hierbei die essentiellen Grundpfeiler einer solchen „Informationsethik-Erziehung“.
Das Projekt FiSH hat einen ähnlichen aber doch unterschiedlichen Ansatz. Auch hier soll Online-Süchtigen geholfen werden. Es sind jedoch keine Student*innen die Hilfe leisten, sondern ehrenamtliche Ex-Süchtige, die ihren Erfahrungsschatz einbringen wollen um aktuell Betroffenen zu helfen. Es handelt sich hierbei um eine Selbsthilfe Gruppe, in der den Teilnehmer*innen selbst überlassen wird, ob sie an den virtuellen Sitzungen anonym teilnehmen wollen oder sich auch zeigen. Auch hier spielen gemeinsame Gespräche und Erfahrungsaustausch eine wichtige Rolle, um sein eigenes Verhalten zu analysieren und mithilfe der Erfahrungswerte der Ex-Betroffenen gemeinsame Lösungen aus der übersteigerten Internetnutzung zu erarbeiten. Themenfelder die hier erörtert werden sind zum Beispiel: Was tun, wenn man selber nicht mit dem Spielen aufhören zu kann? Was suchen wir im Internet / im Spiel? Wie kann man mit Teilnahmslosigkeit und Einsamkeit umgehen? Erkennen wir die emotional erlebten Unterschiede zwischen realen und virtuellen Beziehungen? Was könnte man tun, wenn das eigene Kind spielsüchtig wird?
Die wichtigsten Ressourcen bei der Arbeit hier sind die Erfahrungen der Ehrenamtlichen, bei denen Worte und Taten von Menschen in ihrer Umgebung ihnen damals geholfen haben.
Impulse und Kontakte im Gepäck
Auch wenn die Social Media Arbeit bei Gangway nur als unterstützendes Element eingesetzt wird, so spielt sich doch ein nicht unwesentlicher Teil der von Jugendlichen verbrachten Zeit in den virtuellen Räumen ab. Auch kann man bei einigen dieser jungen Menschen die Tendenz beobachten, sehr bis zu viel Zeit am Handy zu verbringen. Hierbei hat sich das Studienprogramm als extrem inspirierend erwiesen, den eigenen Arbeitsfokus auf die sozialen Medien weiter zu schärfen und auch Beratungsangebote in virtueller Form in Deutschland weiter auszubauen. Prinzipiell waren sämtliche Sitzungen von einem großen, gegenseitigen Interesse an der Arbeit im Kinder- und Jugendbereich geprägt, weshalb auch nach Beendigung des digitalen Austausches der Kontakt weiter gepflegt wird. Und wer weiß, vielleicht werden ja auch eines Tages Berliner Jugendliche an einem der „Offline-Camps“ in Japan teilnehmen. Und japanische Jugendliche durch Berlin schlendern um – auf informationsethische Art und Weise – Bilder vom Brandenburger Tor auf Instagram hochzuladen. Welch eine schöne Vorstellung.