China

Welche gesellschaftliche Funktion soll die Soziale Arbeit übernehmen?

Interview mit Professor Dr. Wei ZHANG

China macht auf verschiedenen Ebenen gerade eine rasante Entwicklung durch. Welches sind die aktuellen Herausforderungen mit Blick auf die Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und deren Familien in China? Professor Dr. Wei ZHANG, Professorin an der Sichuan Universität, gibt in diesem Interview einen Einblick in die Situation vor Ort und beschreibt die Rolle der Sozialen Arbeit in China.

02.03.2018 / Dorothea Wünsch

Dr. Wei ZHANG ist Professorin im Fachgebiet Soziale Arbeit an der Sichuan Universität und Gründerin des Zentrums für Soziale Arbeit „Hua Ren Social Work Development Center“, welches im Rahmen eines IJAB-Fachkräfteprogramms im Jahr 2014 besucht wurde.

Dorothea Wünsch: Frau Professor Dr. Zhang, China macht auf verschiedenen Ebenen gerade eine rasante Entwicklung durch. Welches sind die aktuellen Herausforderungen mit Blick auf die Lebenssituation und Gesundheitsversorgung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien in China?

Professor Dr. Wei ZHANG: China befindet sich in einer Transformationsphase. Einerseits ist in den vergangenen 30 Jahren das materielle Lebensniveau der Bevölkerung stark gestiegen, andererseits entstehen mit dem raschen Urbanisierungsprozess und dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel neue gesellschaftliche Phänomene und soziale Probleme. Zum Beispiel sind auf dem Lande immer mehr ältere Menschen und Kinder allein auf dem Dorf geblieben (wenn die Eltern zum Arbeiten in die Städte gehen), in den Städten gibt es Sicherheits-, Verkehrs- und Umweltprobleme sowie Kindererziehungsprobleme und die daraus resultierenden Probleme in der Familie. Der Konkurrenz- und der Arbeitsdruck der Eltern nehmen zu. Die meisten Eltern haben wenig Zeit und Möglichkeit, ihre Kinder zu begleiten und zu erziehen. Diese Aufgabe übernehmen meist die Großeltern. So leben heute in den Städten viele Familien mit drei Generationen unter einem Dach, aus praktischem Grund und zur gegenseitigen Unterstützung. Doch die Familienfunktion ist eine andere als früher in der dörflichen Struktur. Innerfamiliäre Konflikte sind vorprogrammiert. Die chinesischen Familien sind stark geprägt durch „Es dreht sich alles um das Kind“. Das Kind steht im Mittelpunkt des Familienlebens. So ist es innerfamiliär. Außerhalb der Familie, z.B. in der Schule, stehen die Kinder unter hohem Druck der Schulleistungen. Und nach der Schule, z.B. am Wochenende oder am Abend schicken die Eltern ihre Kinder zu allen möglichen Kursen, z.B. Ballett, Malen, Musik, Olympiade-Mathe, Karate, Englisch usw. Kinder haben kaum Zeit für das miteinander Spielen oder freizeitliche Aktivitäten. Der Leistungsdruck aus der Schule wird durch die Lehrkräfte an die Eltern weitergegeben. So wird von den Eltern verlangt, die Hausaufgaben ihrer Kinder zu kontrollieren und zu unterschreiben. All diese Faktoren stellen große Herausforderung an die Familienmitglieder. Der Druck und die Belastungen, mit denen das Individuum und die Familien alleine zurechtkommen müssen, haben stark zugenommen.

Dorothea Wünsch: Antworten auf diese Herausforderungen sind u.a. im China National Program for Child Development  (2011-2020)1 und im Middle and Long-term Youth Development Plan2 (2016-2025) zu finden. Dieser nimmt erstmalig explizit die Jugend im Alter von 14 bis 35 Jahren in den Blick. Was zeichnet diese Programme aus?

Professor Dr. Wei ZHANG: Die chinesische Regierung hat in den letzten Jahren einige wichtige politische Maßnahmen ergriffen, um den Herausforderungen zu begegnen. Bereits im Jahr 2006 wurde beschlossen, bis zum Jahr 2020 „eine sozialistische harmonische Gesellschaft“ aufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es z.B. erforderlich, „eine große Fachkräfte-Gruppe der Sozialarbeiter aufzubauen“. Im Jahr 2012 wurde weiterhin beschlossen, bis zum Jahr 2020 die Zahl der Sozialarbeiter-Fachkräfte auf bis zu 1.45 Millionen anzuheben. 2017 wurde vereinbart, dass Soziale Arbeit eine wichtige Rolle spielen bzw. mitwirken soll bei der Armutsbekämpfung sowie beim Schutz für Kinder, die auf dem Lande zurückgeblieben sind.

Das „China National Program for Child Development“ (2011-2020) legte konkrete Ziele in fünf Bereichen fest: Gesundheit, Schulbildung, soziale Versorgung und Dienstleistung, soziales Umfeld, gesetzlicher Schutz. Es wird regelmäßig überprüft, ob diese Ziele erreicht worden sind. Nach Daten des Nationalen Statistikamtes, die am 27.10.2017 veröffentlicht wurden, wurden manche Ziele bereits im Jahr 2016 erreicht.

Der “Middle and Long-term Youth Development Plan” (2016-2025) schreibt „Sozialarbeiter-Fachkräften für Jugendangelegenheiten“ sowie Institutionen der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle zu, um bei „gesetzlicher Erziehung, gesetzlicher Beratung, psychologischer Unterstützung und Verhaltenskorrektur“3 zu helfen. Ein Schwerpunkt ist daher die Ausbildung entsprechender Fachkräfte. Bis zum Jahr 2020 soll es davon 200.000 und bis zum Jahr 2025 bereits 300.000 geben. Sie sollen bei lokaler kommunaler sozialer Arbeit mitwirken, schwerpunktmäßig in den Bereichen „Entwicklung der Jugendlichen, gesetzlicher Schutz und Kriminalprävention“.

Dorothea Wünsch: Sie sind seit 2011 Professorin für Soziale Arbeit an der Sichuan Universität. Wodurch ist die Ausbildung für die Arbeit im sozialen Bereich in China im allgemeinen und an Ihrer Hochschule im speziellen charakterisiert?

Professor Dr. Wei ZHANG: Ende der 1980er Jahre begann der Aufbau der Lehre der Sozialen Arbeit in China. Heute gibt es in China über 300 Universitäten, die das Fach Soziale Arbeit eingerichtet haben und Sozialarbeiter/-innen ausbilden. Dies ist die positive Seite. Das negative daran ist: Die berufliche Entwicklung bzw. die Praxis der Sozialen Arbeit befindet sich immer noch in einer Anfangsphase. Dies führt dazu, dass die meisten Absolvent(inn)en der Sozialen Arbeit nicht in diesem Bereich tätig sind. Ein anderes Problem besteht darin, dass die Lehre amerikanisch orientiert ist. In den Anfängen, als es den Beruf des Sozialarbeiters in China noch gar nicht gab, wurde der Lehrstoff zum großen Teil aus englischer Literatur übersetzt. Nun sind über 30 Jahre vergangen und man merkt jetzt: allein Pragmatismus sowie die Therapeutisierung der Sozialen Arbeit, also das individuelle „Kopf-Reparieren“, reichen nicht aus, für die Lösung der komplexen sozialen Probleme Chinas. Welche gesellschaftliche Funktion soll die Soziale Arbeit übernehmen? Wie entstehen die sozialen Probleme? Was erwartet die Regierung von der Sozialen Arbeit? Wodurch unterscheidet sich die Soziale Arbeit in China von der Sozialen Arbeit in kapitalistischen Ländern? Die theoretische Klärung solch grundsätzlicher Fragen ist von besonderer Bedeutung. Ich bin deshalb selber seit einigen Jahren dabei, die universellen Theorien der Sozialen Arbeit aus deutschsprachigen Ländern nach China einzuführen. Gleichzeitig bin ich praktisch tätig und führe Forschungen durch, um die Verbindung des theoretischen Fundaments mit der chinesischen Praxis herauszufinden.

Dorothea Wünsch: Welche beruflichen Perspektiven ergeben sich für Absolvent(in)en aus dem Fachbereich der Sozialen Arbeit Ihrer Hochschule?

Professor Dr. Wei ZHANG: Weil in China zurzeit Arbeitsplätze der Sozialen Arbeit fehlen, sind die meisten Absolvent(inn)en nicht in diesem Bereich tätig. Trotzdem ist die Quote bei uns mit etwa 25-35% nicht schlecht. Die Tendenz ist steigend. Denn der Staat bemüht sich um mehr Stellen der Sozialen Arbeit in verschiedenen Behörden sowie um die Förderung sozialer Organisationen. Man sagt heute: „Der Frühling der Sozialen Arbeit in China ist gekommen“. Dabei gilt es auch die bereits im sozialen Bereich tätigen Personen zu qualifizieren. So sind einige Hochschulen von der Regierung beauftragt neben der regulären Ausbildung der Sozialen Arbeit, in so genannten Schulungszentren der Sozialen Arbeit Sozialarbeiter/-innen aus der Praxis zu schulen. Im Fokus dieser Schulungen stehen theoretische Ansätze und weniger Praxiserfahrungen.

Die berufliche Qualifizierung für die Arbeit im sozialen Bereich in China ist generell beliebt bei jungen Menschen. Doch wegen des niedrigen Einkommens und der instabilen Stellensituation wechseln viele Sozialarbeiter/-innen nach wenigen Jahren den Beruf. Also, in China ist Soziale Arbeit noch keine Profession, sie ist nur ein Job.

Dorothea Wünsch: Sie haben in den Jahren von 1995 bis 2011 in Deutschland gelebt und im Rahmen des Studiums der Sozialpädagogik, der Promotion an der Fakultät Sozialpädagogik/Erziehungswissenschaft sowie der anschließenden Lehrtätigkeit die Ansätze der Sozialen Arbeit in Deutschland in Theorie und Praxis kennengelernt. Welche Rolle spielen diese Ansätze in der Arbeit im sozialen Bereich in China? Gewinnen die Ansätze an Bedeutung?

Professor Dr. Wei ZHANG: Wie gesagt, die Ausbildung und die Praxis der Sozialen Arbeit in China sind sehr amerikanisch orientiert. Viele Lehrende kommen nicht aus dem Fach Soziale Arbeit und werden inzwischen in Hongkong geschult. Dies verstärkt ihre anglo-amerikanische Sichtweise. Die Ansätze der Sozialen Arbeit in Deutschland in Theorie und Praxis sind generell fremd für die Chinesen, auch für die Hongkonger, aus verschieden Gründen. Als Beispiel seien die universellen Theorien der Sozialen Arbeit sowie die Praxis und die Gesetzgebung der Kinder- und Jugendhilfe aus Deutschland genannt. Vom Staatsmodell her ist Deutschland sehr verschieden zu den USA. Die starke Staatlichkeit, die hohe Gesetzgebung, das Subsidiaritätsprinzip, die partnerschaftliche Zusammenarbeit öffentlicher und freier Träger, die Rolle des Jugendamts usw. All diese Faktoren sind für Deutschland charakteristische Eigenarten, die sich von denen des liberalen Wirtschaftsstaats USA unterscheiden. Seit meiner Rückkehr im Jahr 2011 stelle ich die kostbaren Ansätze der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis aus Deutschland in China vor. Die positiven Rückmeldungen auf meine Publikationen haben meinen Eindruck bestätigt: Die Chinesen sind auf der Suche nach Antworten auf viele Fragen, und die Ansätze aus Deutschland können viele Unklarheiten der gegenwärtigen Situation der Sozialen Arbeit in China erklären. Ich bin weiterhin dabei, die Ansätze aus Deutschland nach China einzuführen. Wenn Deutschland weiter mit China im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zusammenarbeitet, ist diese Grundlagen-Arbeit unbedingt notwendig.

Dorothea Wünsch: Sie haben im Jahr 2013 basierend auf Ihren Erfahrungen in der Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit in Deutschland die Organisation „Hua Ren Social Work Development Center“ gegründet. Was zeichnet die Arbeit von „Hua Ren Social Work Development Center“ aus?

Professor Dr. Wei ZHANG: Die Zielgruppe des „Hua Ren Social Work Development Center“ sind Kinder, Jugendliche und deren Familien oder Eltern. Wie oben beschrieben, dreht sich in der chinesischen Familie alles um das Kind, meist das Einzelkind (als Folge der vieljährigen Familienplanung). Was ist die Folge? Kurz gesagt: Kinderproblem führt zu Familienproblem und umgekehrt, Familienproblem führt zu Kinderproblem. Und dies betrifft auch die Erziehung und Bildung der Menschen allgemein. Die Chinesen haben keinerlei Vorstellung von „Bildung“ im weiteren Sinne, sondern nur „Erziehung“ im engeren Sinne. Dies schädigt nicht nur die kindliche Entwicklung, sondern auch das familiäre Umfeld, sogar das Leben des Erwachsenen. Und dies betrifft nicht nur die Unterschicht, sondern alle gesellschaftlichen Schichten.
 
„Hua Ren Social Work Development Center“ bietet drei Kategorien von sozialen Dienstleistungen an: Präventionsarbeit, Beratungsarbeit und Interventionsarbeit. Beratung ist der Schwerpunkt. Dabei gibt es Einzelberatung für die Familie sowie Gruppenarbeit. Sehr erfolgreich ist die Familiengruppe an jedem Dienstagabend. Diese Gruppe läuft schon seit 4 Jahren, einige Mütter haben sehr viel geändert, sie können jetzt nicht nur gut mit ihren Kindern umgehen, sondern sie haben auch gelernt, wie man ein glückliches Leben führt.

Die Angebote werden teilweise von der Stadtteilregierung finanziert, teilweise wird die Arbeit ehrenamtlich geleistet. Zwei Sozialarbeiter wurden angestellt, nach dem Besuch von Bundeskanzlerin Merkel. Heute leistet „Hua Ren Social Work Development Center“ hauptsächlich ehrenamtliche Arbeit.

Meine erste Motivation bei der Gründung von „Hua Ren Social Work Development Center“ war es, Studierenden einen Praxisort für fachliche Arbeit zu bieten. Denn nach meiner Rückkehr habe ich bemerkt: die Student(inn)en haben keine Möglichkeit, praktische Erfahrung zu sammeln. Soziale Organisationen gibt es in China immer mehr, aber nur wenige davon betreiben fachlich fundierte Soziale Arbeit. Entweder sie machen Soziale Arbeit des kommerziellen Zwecks wegen, oder sie haben keine Ahnung, was Soziale Arbeit ist. Das berufliche Verständnis Sozialer Arbeit in China ist chaotisch. Das „Hua Ren Social Work Development Center“ soll als Vorbild die fachliche Soziale Arbeit präsentieren, und gleichzeitig der Bevölkerung hochqualitative Dienstleistungen anbieten.

Dorothea Wünsch: Was wünschen Sie sich für Ihre zukünftige Arbeit?

Professor Dr. Wei ZHANG: Weiterhin die Ansätze aus Deutschland in Theorie und Praxis nach China einzuführen, weiterhin in der Praxis tätig zu sein und aktuelle Forschungen vor Ort durchzuführen, um Ausbildung, Theorie/Forschung und Praxis zusammenzubringen.

1 Anm. der Redaktion: Das „China National Program for Child Development“ ist unter Mitwirkung der All-China Women‘s Federation entstanden. Die All-Chinesische Frauenvereinigung wurde 1949 gegründet und agiert als die offizielle Organisation der Frauenbewegung in China und ist verantwortlich für die Verbreitung staatlicher Vorgaben bei Frauen und für den Schutz der Frauenrechte in der Regierung.

2 Anm. der Redaktion: Der „Middle and Long-term Youth Development Plan“ ist unter Mitwirkung des All-China Youth Federation entstanden. Dem 1949 gegründeten All-Chinesischen Jugendverband (ACYF) kommt in der Jugendarbeit Chi-nas eine zentrale Rolle zu. Zum einen ist der ACYF Dachverband der chinesischen Jugendorganisationen und für die Weiterentwicklung der Jugendverbandsarbeit in China verantwortlich. Zudem übernimmt der ACYF die Koordinierung von Regierungsaufgaben im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik, wie bspw. die Umsetzung von Jugendgesetzen, den internationalen Austausch sowie als Pilotaufgabe den Aufbau von Serviceeinrichtungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.

3 Anm. der Redeation: Die „Verhaltenskorrektur“ bezieht sich auf die soziale Arbeit für und mit delinquenten Jugendlichen.

Menschen sitzen an einem Tisch und essen.
Über die Zusammenarbeit mit China

In Zusammenarbeit mit dem All-Chinesischen Jugendverband, dem zentralen jugendpolitischen Akteur Chinas, setzt IJAB Fachkräfteprogramme im Auftrag des Bundesjugendministeriums um. Erfahren Sie mehr über diese Kooperation und wie Sie daran teilhaben können.

Ansprechpartnerinnen
Annika Gehring
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-101
Elke Metzner
Sachbearbeitung
Kompetenzstelle Sprache
Tel.: 0228 9506-106