Prof. Dr. Wei Zhang Prof. Dr. Wei Zhang
Prof. Dr. Wei Zhang
China

China: Coronakrise wirkt sich auch in der Familie aus

Beratungsbedarf von Familien und Schulen ist hoch

Chinas Lesart der Coronapandemie ist in den letzten Wochen zum Politikum geworden. Die politische Führung des Landes sieht die Stärken des chinesischen Systems bestätigt. Doch wie erleben die Menschen die Krise? Wir haben mit Prof. Dr. Wei Zhang vom Fachbereich Soziale Arbeit der Sichuan Universität gesprochen. Im Jahr 2013 gründete sie die soziale Organisation „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“, die u.a. für Familien ein Beratungsangebot bei Erziehungsfragen bereitstellt. Prof. Zhang gibt Einblicke in die Situation vor Ort und hält zugleich ein Plädoyer für die Bedeutung Sozialer Arbeit.

05.05.2020 / Dorothea Wünsch

ijab.de: Wie stellt sich die aktuelle Situation in Chengdu in der Provinz Sichuan dar?

Prof. Dr. Wei Zhang: Bis zum 22. April 2020 gab es in der Provinz Sichuan insgesamt 561 offiziell registrierte Fälle von Corona-Infektionen, von denen 557 Fälle bereits geheilt und aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Ein Fall befindet sich noch in der Behandlung und drei Todesfälle sind zu verzeichnen. 99 Personen sind zurzeit unter medizinischer Beobachtung (Angabe-Quelle: Health Commission of Sichuan Province).

Seit Ende Februar / Anfang März sind die meisten Menschen wieder am Arbeiten – viele machen jedoch „Heimarbeit“. Man trägt außerdem immer noch eine Gesichtsmaske, wenn man aus dem Haus geht.
 
In Chengdu gehen die Schüler/-innen bereits schrittweise wieder zurück in die Schule: Die Obere Mittelschule und Mittelschule haben am 13. April bzw. 20. April, die Grundschule (Klasse 5 und 6) ab dem 27. April wieder angefangen. Für die Grundschulen (Klasse 1 bis 4), die Kindergärten sowie die Hochschulen ist als Starttermin der 6. Mai 2020 geplant. Für die Schulen wurden sehr strenge Schutzmaßnahmen getroffen – zum Beispiel machen die Schüler(innen) versetzt Pause, sie essen getrennt in der Mensa usw...

ijab.de: Sind die Angebote für die Studierenden der Sozialen Arbeit an der Sichuan Universität schon wieder angelaufen? Sind die Studierenden in Freiwilligentätigkeiten zur Bekämpfung von Corona eingebunden bzw. eingebunden gewesen?

Prof. Dr. Wei Zhang: Wann die Studierenden in ihre Hochschulen zurückkehren, ist je nach Provinz unterschiedlich geplant. Bis heute ist an der Sichuan Universität, an der ich arbeite, das definitive Datum noch nicht bekannt gegeben worden. Aber das Semester hat planmäßig Ende Februar begonnen. Es werden für alle (Bachelor- und Master-) Studierenden Online-Kurse angeboten. Ich biete an der Sichuan Universität drei Online-Seminare für die Bachelor- und Master-Studenten der Sozialen Arbeit an: Einzelhilfe, Sozialarbeiterische Beratung, Psychosoziale Beratung. Da die Kurse online ablaufen, habe ich viele Beratungsfälle aus der Praxis des „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ (welches ich 2013 gegründet habe) eingebracht, um es interessanter zu machen.

Zur Bekämpfung des Corona-Virus haben landesweit viele Lehrenden und Studierenden mitgewirkt: an der Sichuan Universität sind wir als Lehrende bspw. aufgerufen worden, für Wuhan zu spenden. Ich persönlich habe 100 Yuan gespendet. Ein Teil der Studierenden hat auch in Freiwilligentätigkeiten zur Bekämpfung des Corona-Virus beigetragen: z.B. bei der Kontrolle der Körpertemperatur, bei der Verteilung von medizinischen Schutzmaterialien, bei Hilfen für alleinlebende ältere Menschen. Derartige Freiwilligentätigkeiten werden meistens auf der Basisebene, d.h. von den Straßenkomitees bzw. Communities organisiert, wo die Bürger freiwillig mitwirken können. Ein Teil der Lehrenden hat ebenfalls durch Freiwilligentätigkeiten zur Bekämpfung des Corona-Virus beigetragen: z.B. mit Online-Beratungen für die Krankenschwestern und Ärzte, die unter Stress stehen, oder für Bürger(innen), deren Familienangehörige am Corona-Virus gestorben sind.

Meiner Meinung nach ist bei der Bekämpfung des Corona-Virus die Stärke des chinesischen Staatsmodels, also einem Zentralverwaltungsstaat, ganz sichtbar geworden: Alle Maßnahmen sind schnell, exakt und effizient von oben nach unten verordnet und durchgeführt worden. In Zeiten der Krise ist ebenfalls der Unterschied von zwei Wörtern deutlich geworden: in China steht das Wort „Gemeinschaft“ über dem Wort „Individuum“.

ijab.de: Sie haben 2013 die soziale Organisation „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ gegründet, u.a. um für Familien ein Beratungsangebot bei Erziehungsfragen zu schaffen. Wie stellt sich aktuell die Arbeit dar? Können schon wieder Beratungen für Familien stattfinden? Haben Sie ggf. alternative Beratungsformen – wie bspw. per Telefon bzw. Internet – entwickelt?

Prof. Dr. Wei Zhang: Ende Januar und Anfang Februar, als die Corona-Welle ausbrach, war aufgrund des chinesischen Frühlingsfestes gerade Ferienzeit. Seitdem sind alle Chinesen zu Hause geblieben. Das „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ konnte ab diesem Zeitpunkt keine Beratungen mehr in der Einrichtung anbieten. Es gab einige Wochen Pausenzeit. Doch etwa Ende Februar fragten die Klient(inn)en sehr dringend danach, ob „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ Online-Beratung anbieten könnte. Der Grund dafür: Die Eltern waren bereits seit über einem Monat mit ihren Kindern zu Hause. Die Kinder sollten Online-Kurse für die Schule machen. Die Lehrkräfe sollten Online-Kurse für zu Hause anbieten, aber die Schulen hatten komplizierte Anforderungen. Sowohl Eltern wie auch Lehrer/-innen waren überfordert. So wurden Konflikte in den Familien durch die Situation verstärkt. Daher hat „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ Ende Februar mit der Online-Beratung begonnen.

Die Teilnehmenden sind nach wie vor Eltern und Grundschul- und Mittelschullehrer/-innen. Die Online-Beratung wirkt zwar nicht wie eine Präsenz-Beratung, doch sie stellt eine sehr wichtige Unterstützung für die Eltern und Lehrkräfte dar. Durch die Vermittlung von Bildungskonzepten und durch Kompetenzaufbau hat das „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ den Klient(inn)en bei der Lebensbewältigung geholfen. Für viele Eltern und Lehrkräfte hat sich sehr viel verändert, ebenso für ihre Familien und die Kinder.

ijab.de: War und ist in diesen besonderen Zeiten ein erhöhter Beratungsbedarf von Familien zu erkennen? Falls ja, zu welchen Themen und wie kann „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ diesen Bedürfnissen begegnen?

Prof. Dr. Wei Zhang: Auf den ersten Blick scheint der Beratungsbedarf in diesen besonderen Zeiten höher zu sein. Doch die Beratungsbedürfnisse sind dieselben wie früher. Die „Probleme“, welche die Klient(inn)en zur Beratung mitbringen, sind nach wie vor die alten „Probleme“. Das Hauptproblem ist also weiterhin: das Leistungsorientierte Schulsystem, die daraus resultierenden Kinderentwicklungs- und Kindererziehungsprobleme sowie die damit verbundenen Ängste und Beziehungsprobleme zwischen den Generationen und Familienangehörigen. Der einzige Unterschied ist: Sie sind schlimmer geworden.

Genauer gesagt: Das Schulsystem in China ist nach wie vor leistungsorientiert, und die chinesischen Eltern verstehen „Erziehung“ meistens in sehr engem Sinne. In ihren Augen bedeutet Erziehung nur „Sammlung von Wissen und Techniken“. Die Familienerziehung ist in China zu einem verlängerten Arm der Schulbildung geworden. Viele Eltern werden bspw. von den Lehrkräften aufgefordert, ihre Kinder bei der Erledigung der Hausaufgaben zu beaufsichtigen. Viele Eltern haben außerdem Angst vor der Zukunft ihres Kindes. Sobald sie sehen, dass ihr Kind nicht lernt, sind sie ängstlich und überfordert. Viel Eltern sagen: „Mein Kind und ich verstehen uns gut, aber sobald ich beginne, bei den Hausaufgaben zu helfen, werden wir sofort zu „Feinden““. In den besonderen Zeiten der Online-Kurse sind solche Konflikte zwischen Eltern und Kind in vielen Familien eine Alltagsszene. Zudem haben die Elternteile teilweise unterschiedliche Vorstellungen für die Kindererziehung. Der Streit zwischen Eltern (auch zwischen Eltern und Großeltern) verschlimmert sich, die Familienatmosphäre verschlechtert sich und die gesunde Entwicklung des Kindes ist gefährdet. Bei den Klient(inn)en des „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ ist die Situation zum Glück etwas weniger angespannt, denn sie haben seit Jahren bei uns die erforderlichen Kompetenzen erworben. Das ist aber ein langer zirkulärer Lernprozess zwischen „Beratung“ beim „Chengdu Hua Ren Social Work Development Center“ und „Reflektieren“ und “Erproben und Handeln“ im Alltag.

Die Kinderbetreuung durch die Großeltern ist in China nach wie vor üblich. In diesen besonderen Zeiten bleiben die Eltern und Kinder gemeinsam zu Hause, bei Drei-Generationen-Familien bleiben die Kinder bei ihren Eltern und Großeltern. Das bleibt in China unverändert, auch in diesen besonderen Zeiten.

ijab.de: Welche Chancen können sich aus dieser besonderen Situation für den Bereich der Sozialen Arbeit in China ergeben?

Prof. Dr. Wei Zhang: Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass es eine Chance gibt für den Bereich der Sozialen Arbeit in China. Bei der Bekämpfung des Corona-Virus hat der Bereich der Sozialen Arbeit auch aktiv mitgewirkt. Doch ein deutliches Merkmal ist: Sozialarbeiter/-innen wirkten dabei ähnlich wie freiwilliger Helfer/-innen. Das Berufsbild der Sozialen Arbeit ist nicht klar definiert, sodass für die Bevölkerung und die Regierung der Unterschied zwischen beiden Gruppen nicht klar ist.

Der Grund dafür ist: Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in China befindet sich noch in der Anfangsphase. Deshalb bin ich der Meinung: die dringendste Aufgabe der Sozialen Arbeit in China besteht darin, den Wissenschaftszweig „Soziale Arbeit“ einzurichten. Durch die Entwicklung der Theorien der Sozialen Arbeit müssen die gesellschaftliche Funktion und die berufliche Positionierung der Sozialen Arbeit erläutert und definiert werden. Um dies zu verwirklichen, ist mehr Praxisforschung vor Ort in China dringend notwendig.

Menschen sitzen an einem Tisch und essen.
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