Barnga - "Internationales Würfelspiel"
Spiel zur Übung des Umganges mit Differenzen, Macht und Unsicherheiten. Kritische Reflexion von Kulturalisierungen.
Zielgruppe
Menschen ab 12 Jahre.
Die Übung muss für jede konkrete Gruppe, mit der gearbeitet wird, wieder durchdacht und weiterentwickelt werden. Vielleicht sollten manche Fragen anders gestellt, ein Themenkomplex besonders fokussiert oder Verbindungen mit anderen Momenten im Seminar gefunden werden. Sicherlich muss auch immer wieder neu mit der Zeit geplant werden.
Gruppengröße
12-24 Personen
Dauer
ca. 2 Stunden
Ziele
- Umgang mit Differenz und Macht
- Umgang mit Unsicherheit
- Kritische Reflexion von Kulturalisierungen
- Entdecken der eigenen Verstrickungen mit gesellschaftlich vorherrschenden Mechanismen und Norm(alitäts)vorstellungen
Rahmenbedingungen
Ausreichend großer Raum.
Vorbereitung
- Tische für Kleingruppen vorbereiten.
- Spielregeln ausdrucken.
Ablauf
Zunächst werden die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip in vier Kleingruppen eingeteilt. Die Gruppen finden sich an je einem Tisch in den verschiedenen Ecken des Raumes zusammen. Ab nun darf seitens der Teilnehmenden nicht mehr gesprochen werden – dies ist die allerwichtigste Regel der Übung. Nun werden an den vier Tischen die Regelblätter verteilt. Jede Gruppe bekommt ein anderes Regelblatt vorgelegt, was aber in dem Moment für die Gruppe nicht ersichtlich wird. Nachdem die Regeln durchgelesen und verstanden wurden, werden die Blätter wieder eingesammelt. Auf den Tischen werden dann kleine und/oder große Zettel und mehrere Stifte verteilt (siehe dazu Varianten).
Gleichzeitig für alle Gruppen beginnt das Spiel.
Die Gruppen würfeln jeweils fünf Runden reihum und die Gruppen notieren und addieren ihre Ergebnisse. Für gewöhnlich zählen die Gruppen die Punkte der Einzelnen und nicht die der Gruppe.
Nach der ersten Runde werden dann die Personen mit der jeweils niedrigsten Punktzahl am Tisch gebeten, im Uhrzeigersinn an den nächsten Tisch weiterzugehen und dort die nächste Runde mitzuspielen.
Nach der zweiten Runde werden die zwei Personen mit der höchsten Punktzahl gebeten, einen Tisch gegen den Uhrzeigersinn weiterzugehen.
Nach der dritten Runde werden die Personen mit der höchsten Punktzahl gebeten, einen Tisch im Uhrzeigersinn und die mit der niedrigsten einen Tisch gegen den Uhrzeigersinn zu wechseln.
Je nach Gruppengröße und Zeit kann auch noch eine vierte Runde gespielt werden, meist aber reichen die drei aus, um intensive Erfahrungen miteinander zu machen.
Material
- Eine Kopie der Regeln für vier Gruppen
- ein Würfel pro Kleingruppe
- Zettel und Stifte.
Auswertung
Hilfreich ist es, die Auswertung zunächst mit einer sehr offenen Frage zu beginnen:
- Wie war die Übung? Was ist Euch aufgefallen? Was hat euch überrascht?
Es ist wichtig, dass die Seminarleitung hier explizit bestätigt, dass es unterschiedliche Regeln gab, die sich sowohl auf die Würfelregeln als auch die Frage wer jeweils die Runde beginnt, be- zogen und es in machen Gruppen auch zusätzliche privilegierte Positionen gab (immer doppelt würfeln zu dürfen). Das Durcheinander war also durchaus geplant!
Umgang mit Differenz
- Diejenigen, die neu an einen Tisch kamen: Wie hat es sich angefühlt? Was habt ihr wahrgenommen? Was habt ihr gemacht?
- Was hättet ihr euch in dem Moment gewünscht?
- Wie ist es denen ergangen, die am Tisch geblieben sind? Wie habt ihr euch gefühlt? Wie seid ihr mit der Situation umgegangen, wenn jemand neu an euren Tisch kam?
- Was hättet ihr euch in dem Moment gewünscht?
Es ist hilfreich, an dieser Stelle strukturiert zu moderieren und die Konzentration auf diesem Thema zu halten. Die Seminarleitung kann die Gefühle und Wünsche aus den beiden Positionen auch auf einem großen Plakat sammeln.
Danach können weitere Fragen zum Umgang mit Differenz auf eher struktureller Ebene
- Nach welchen Regeln habt ihr gespielt?
- Wie haben sich diese durchgesetzt?
- (Wie) Habt ihr darüber gesprochen und verhandelt?
- Was hat euch Macht gegeben bzw. euch ohnmächtig gemacht?
- Welche Machtverhältnisse könnt ihr in der Übung entdecken?
Oft wird in der Auswertung deutlich, dass es mehrere Personen gibt, die nicht den Tisch gewechselt haben und nicht bemerkt haben, dass unterschiedliche Regeln gespielt wurden. Es kann hilfreich sein, daran anknüpfend zu verdeutlichen, dass die Personen in machtvollen Positionen ihre Macht meist gar nicht so genau bemerken, während diejenigen, die nicht in der machtvollen Position sind, die Auswirkungen unterschiedlicher Positionen und damit einhergehende Gefühle meist sehr deutlich spüren.
Mechanismen
Der Erfahrung nach ist es sinnvoll, einen großen Teil der Auswertung auf die Mechanismen zu fokussieren, die den Umgang mit Differenz begleiten.
- Welche Mechanismen im Umgang mit Differenz sind euch an euch selber aufgefallen (oder habt ihr an anderen interpretiert)?
Hier werden zum Beispiel folgende Mechanismen genannt: Recht haben wollen, ignorieren, Macht annehmen, beobachten, lachen, anpassen, Widerstand, zurückziehen, ...
Die Seminarleitung kann die einzelnen Mechanismen, die genannt werden, auf Kärtchen mitschreiben und in der Mitte des Stuhlkreises auslegen. Nach einer Weile könnte sie dann die Gruppe fragen, welche dieser Mechanismen auch Mechanismen im Umgang mit Unsicherheit sein können und diese in einer Ecke gesammelt und weitere dazu geschrieben werden.
Gemeinsam kann hier herausgearbeitet werden, dass viele Menschen auf Verunsicherung mit Schutzmechanismen reagieren, die sie im Laufe ihres Lebens gelernt haben. Dabei ist es spannend zu sehen, dass dies oft Handlungen oder Haltungen sind, die nach außen hin Stärke oder Gleichgültigkeit zeigen, sich dahinter aber Gefühle wie Unsicherheit oder Angst verbergen können. Mehr zu der Auseinandersetzung um den Umgang mit Unsicherheit in diversitätsbewusster Bildung steht hier geschrieben.
Alltagserfahrungen mit Differenz
- Kennt ihr solche Situationen aus eurem Alltag?
Wo seid ihr mal in einer Gruppe, Szene, Situation gewesen, wo euch die ‚Regeln’ nicht gleich vertraut waren? (Bsp. Feines Restaurant, Universität, Jugendclub, Schwimmverein, Familie von Freund(inn)en...)
Der Transfer auf die eigenen Erfahrungen sollte seitens der Seminarleitung achtsam begleitet und moderiert werden. Es ist davon auszugehen, dass viele Teilnehmende bei der Übung automatisch an ‚interkulturelle’ Begegnungen, Migration oder Auslandserfahrungen denken, womit die Gefahr einer vereinfachenden, starren Vorstellung von Kultur und das Ausblenden von Machtverhältnissen und anderen Differenzen einhergeht.
Daher ist es wichtig, als Seminarleiter_in zu betonen, dass die Erfahrung ‚neu in eine Gruppe zu kommen’ keine Erfahrung ist, für die Ländergrenzen überschritten werden müssen. Die Chance der Übung ist vielmehr, die eigenen Mechanismen im Umgang mit Differenz und Macht aufzuspüren und aus diesem Blickwinkel auf Alltagserfahrungen (vielleicht auch im Seminar) zu schauen.
Die Seminarleitung sollte in der Auswertung deutlich machen, dass es keine grundlegend ‚richtige’ Lösung für den Umgang mit Differenz und Heterogenität gibt. Stattdessen kann es übertragen auf den Alltag mal wichtig sein, sich der Mehrheit oder dem Ort, an dem man sich befindet, anzupassen, mal die Perspektive der Minderheit zu respektieren oder zu übernehmen, mal unendlich lange zu verhandeln und mal gemeinsam neue Regeln zu erfinden. Im Alltag gilt es, dies in Bezug auf die konkrete Situation, den herrschenden Kontext und angesichts der konkreten Mechanismen und Anlässe für das Unwohlsein der Beteiligten – soweit wie möglich – immer wieder neu zu entscheiden.
Hintergrund
Bei den internationalen Fortbildungen „More than culture“ hat die Durchführung und Reflexion der Methode viele spannende Überlegungen und Hinweise ergeben:
Interessant war, dass viele Multiplikator(inn)en diese Übung (zum Teil unter anderem Namen und in anderen Varianten) kannten, die Auswertung aber bisher vorrangig auf Kultur / Nation und Integration erlebt und durchgeführt haben. Für die meisten zeigte die hier beschriebene Art der Auswertung sehr deutlich, wie eine diversitätsbewusste Bildung ansetzen kann und welche konkreten Prozesse und Themen dabei in den Fokus rücken können.
Hinweise
Kritische Reflexion von Kulturalisierung
Die Übung wird häufig im interkulturellen und internationalen Bereich angewendet. Oftmals liegt der Auswertung dabei die Idee zugrunde, dass die unterschiedlichen Tische ‚unterschiedliche Kulturen’ darstellen und es entsprechend unterschiedliche Regelsysteme gibt, die erlernt werden müssen.
Aus unserer Perspektive ist eine solche Auswertung fatal, da sie ein starres, unbewegliches Bild von Kultur zeichnet und die Differenzlinie ‚Nationalkultur’ als scheinbar bedeutsamste Begründung für Unterschiede herausstellt.
Eine Auswertung zu eigenen Mechanismen im Umgang mit Differenz und den eigenen Unsicherheiten, zu Ein- und Ausschlussprozessen und Machtverhältnissen erweitert die Thematik und kann auf verschiedenen Ebenen Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Reflexion des eigenen Handelns eröffnen.
Begleiten von Verletzungen und Unwohlsein
Gerade das direkte Erleben der Mechanismen in der Übung bringt die Möglichkeit mit sich, Ver- letzungen (wieder) zu erleben. Entsprechend braucht es einen achtsamen Blick für die Prozesse einzelner Teilnehmer_innen.
Herausforderung Komplexität
Neben den oben genannten Hinweisen auf Strukturierung und Fokussierung halten wir es für eine gute Möglichkeit, die Komplexität als Herausforderung auch explizit zum Thema zu machen. Es lässt sich darauf hinweisen, dass es einen Impuls in uns gibt, die Dinge vereinfachen zu wollen, um sie besser handhaben zu können. Wir können manchmal auch Widerstand in uns wahrnehmen gegen noch mehr Zugehörigkeiten, noch mehr Möglichkeiten und noch mehr Reflexionen. Es sollte deutlich werden, dass eine diversitätsbewusste Bildung darauf basiert, ein Wahrnehmen von und ein Umgehen mit Komplexität zu erproben, zu üben und zu verinnerlichen.
Varianten
Eine vielfach erprobte mögliche Variante ist, die letzte Spielrunde mit der Möglichkeit zu sprechen durchzuführen. Dadurch wird es möglich, dass der erste Moment des Austauschs über die unterschiedlichen Regeln und damit zusammenhängende Herausforderungen in Kleingruppen geteilt werden kann und noch einmal versucht werden kann, auf anderem Wege zu einem konstruktiven Umgang zu gelangen.
Weitere Möglichkeiten:
- Einen stärkeren Fokus auf Machtverhältnisse zu setzen und gemeinsam zu erarbeiten, wie sich Macht im wirklichen Leben (im Alltag aber auch in der Jugendbegegnung) sowie auf struktureller Ebene konkret ausdrücken kann.
- Darüber zu reflektieren, warum Menschen Regeln folgen, wann sie davon profitieren und wann darunter leiden und auf dieser Basis auch einen kritischen Blick auf Demokratie, Bür- gerschaft und die Rechte von Minderheiten zu entwickeln.
- Die Erfahrung nonverbaler Kommunikation aufzugreifen und die Achtsamkeit zu schärfen dafür, wie sie (insbesondere auch in sprachlich heterogenen Gruppen) allgegenwärtig funkti- oniert und Interpretationen, Unsicherheiten und Gefühle auslöst.
Verstärkt zum Umgang mit Differenz in der Seminargruppe zu arbeiten und die Gruppe zu ermutigen, Wünsche in Bezug auf den Umgang mit Differenz dahingehend zu formulieren.
Quelle
Die Übung wurde zuerst von Sivasailam Thiagarajan als Kartenspiel mit Fokus auf interkulturelle Konfliktbearbeitung entwickelt und veröffentlicht. Im Rahmen des Projekts ‚courage for kids’ haben wir sie als Würfelspiel gestaltet. Die Auswertung, wie sie hier beschrieben ist, wurde darauf aufbauend durch die Mitarbeiter_innen der Anti-Bias-Werkstatt entwickelt und in vielen Jugendbegegnungen und Fortbildungen im internationalen Kontext durch Ahmet Sinoplu, Stephan Schwieren und Anne Sophie Winkelmann weiterbearbeitet.