IJAB: Zunächst einmal kurz und bündig – was ist Youth4Health in der Praxis?
Hans: Die Welt zählt derzeit die größte Generation junger Menschen in der Geschichte. In der europäischen Region der WHO ist heute jeder dritte Mensch unter 30 Jahre alt. Deswegen ist es erforderlich, dass junge Menschen eine gleichberechtigte Rolle beim Aufbau einer gesünderen und nachhaltigen Welt für alle spielen. Youth4Health soll die Stimmen und Perspektiven junger Menschen in allen Bereichen der Arbeit des WHO-Regionalbüros für Europa stärken und einbinden sowie dafür sorgen, dass junge Menschen auf allen Ebenen an Entscheidungsprozessen zu Fragen der Gesundheit und des Wohlbefindens, die sie unmittelbar betreffen, beteiligt werden.
Youth4Health bedeutet in der Praxis, dass wir in allen Bereichen unserer Arbeit kooperieren. Junge Menschen sind in unseren Fachausschüssen und Arbeitsgruppen vertreten. Sie gestalten Veranstaltungen, Kampagnen und Publikationen mit, die sich an ein junges Publikum richten, und beteiligen sich an der Ausarbeitung von offiziellen Stellungnahmen bei WHO-Veranstaltungen.
Hilaire: Ich denke dabei an eine unserer jüngsten Erfolgsgeschichten, die perfekt verdeutlicht, wie wirksames Jugendengagement über eine einzelne Aktivität hinaus aufrechterhalten werden kann. Im Jahr 2023 lud das Impfteam von WHO/Europe junge Menschen zur Mitwirkung an einer Veranstaltung ein, die die Zusammenarbeit zwischen Studierenden und jungen Fachkräften, die sich für dieses Thema interessieren, fördern sollte. Die Teilnehmenden, die sowohl über den offenen Aufruf an das Netzwerk als auch über Nominierungen der WHO-Länderbüros rekrutiert wurden, gestalteten und leiteten die Sitzungen gemeinsam. Die Wirkung ging weit über diese erste Veranstaltung hinaus. Im Rahmen der Europäischen Impfwoche 2024 baute das Impfteam die Zusammenarbeit mit diesen jungen Menschen aus. Sie halfen bei der Aufnahme von Podcasts und Videos zu Impfthemen und veranstalteten interaktive Workshops für Kinder und Jugendliche in der gesamten Region.
IJAB: Das Ziel der WHO ist „Gesundheit für Alle“. Welchen besonderen Nutzen hat die Einbeziehung junger Menschen in Entscheidungsprozesse in den Bereichen Gesundheit und Wohlbefinden?
Hans: Partnerschaften im Gesundheitsbereich sind von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen in der Region, darunter Konflikte, Klimawandel und die langfristigen Auswirkungen von COVID-19. Wir dürfen niemanden zurücklassen und müssen mit jungen Menschen zusammenarbeiten, denn sie sind die Hauptakteur*innen, wenn es darum geht, Prioritäten für Gesundheit und Wohlbefinden auf nationaler und subnationaler Ebene zu vertreten und zu fördern.
Junge Menschen bringen innovative Ideen und neue Erkenntnisse mit ein. Sie wissen am besten, welche Ressourcen und Bedürfnisse ihre Altersgenossen haben und wie man sie erreichen kann, um sie zu einer Verhaltensänderung in Bezug auf Gesundheit zu motivieren. Wenn wir echte Partnerschaften mit jungen Menschen pflegen, bauen wir gegenseitiges Vertrauen auf und schaffen gesundheitspolitische Maßnahmen und Angebote, die wirklich auf ihre Bedürfnisse eingehen. Dies führt zu einem besseren Verständnis und einer höheren Akzeptanz von Gesundheitsempfehlungen und letztlich zu besseren gesundheitlichen und gesellschaftlichen Resultaten für alle.
IJAB: In Deutschland wird derzeit der Nationale Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung als Bestandteil der Jugendstrategie der Bundesregierung entwickelt. Eine der Hauptfragen dabei ist, was eine wirksame Jugendbeteiligung benötigt. Wie beantwortet WHO/Europe diese Frage?
Hans: Ich begrüße es, dass die Bundesregierung der Führungsrolle und dem Engagement junger Menschen Priorität einräumt. Entscheidend ist, dass alle Pläne zur Jugendbeteiligung gemeinsam mit jungen Menschen umgesetzt werden und zwar als kontinuierlicher Prozess und nicht als isolierte Interaktionen. Der Erfolg beruht auf der Ermittlung der Interessen, die sowohl junge Menschen als auch Entscheidungsträger teilen, während gleichzeitig klare Erwartungen in Bezug auf Rollen, Verantwortlichkeiten und realistische Möglichkeit für ihr Engagement festgelegt werden.
Eine weitere wichtige Erkenntnis aus der Gründung der Youth4Health-Initiative ist, wie wichtig es ist, in die Qualifizierung zu investieren und Politiker*innen sowie Entscheidungsträgern die Fähigkeiten und das Wissen zu vermitteln, um junge Menschen sinnvoll und sicher in unsere Arbeit einzubeziehen. Beim WHO-Regionalbüro für Europa haben wir für unsere Mitarbeitenden Schulungen durchgeführt sowie kürzlich ein Toolkit entwickelt, das alles umfasst, was unsere Teams von A bis Z über nachhaltige Jugendbeteiligung wissen müssen.
Eine Möglichkeit, wie die Bundesregierung Jugendbeteiligung an Entscheidungen zu Gesundheitsthemen sicherstellen kann, ist die Aufnahme einer Jugendvertretung in ihre offiziellen Delegationen zu WHO-Veranstaltungen. Dies gibt jungen Menschen eine direkte Stimme in politischen Diskussionen und fördert die Transparenz, das Vertrauen und die Rechenschaftspflicht zwischen ihnen und den Entscheidungsträgern.
Hilaire: WHO/Europe lernt und wächst ständig mit den Möglichkeiten der Jugendbeteiligung. Unser Ansatz stützt sich auf das Lundy-Modell[1] der Kinderbeteiligung, das sich auf vier Elemente konzentriert: Schaffung von sicheren Räumen, in denen jungen Menschen ihre Meinungen bilden und äußern können, die Ermöglichung von Mitsprache, Sicherstellen, dass junge Menschen gehört werden, und Agieren auf Basis ihres Inputs. Deshalb stellen wir sicher, dass unsere Kommunikation jugendfreundlich ist, auf ihren bevorzugten Kanälen – wie den sozialen Medien – stattfindet und ihre Beiträge durch Mentorenschaft und Schulungsmöglichkeiten Anerkennung finden, wenn sich eine direkte Vergütung als schwierig erweist.
IJAB: Multilaterale Zusammenarbeit bringt nicht nur Chancen, sondern auch viele Herausforderungen mit sich. Die Strukturen in den beteiligten Ländern sind unterschiedlich: Nicht nur die Jugendstrukturen sondern auch Probleme und Bedürfnisse in Bezug auf Gesundheit und Wohlbefinden unterscheiden sich. Wie begegnet die Initiative diesen Herausforderungen?
Hans: Ja, wir stehen vor Herausforderungen - selbst die Definition von „jungen Menschen“ ist von Land zu Land unterschiedlich. Gesundheit kennt jedoch keine Grenzen. Deshalb ist es wichtig, bei der Zusammenarbeit mit Interessenvertreter*innen zu Fragen der Gesundheit und des Wohlbefindens, seien es junge Menschen oder Entscheidungsträger, auf politische, kulturelle und sprachliche Sensibilitäten Rücksicht zu nehmen.
Als wir unser Youth4Health-Netzwerk im Jahr 2023 ins Leben riefen, stellten wir etwas Erstaunliches fest: Trotz unterschiedlicher Kontexte teilten unsere Netzwerkmitglieder in der gesamten Region viele der Prioritäten in Bezug auf Gesundheit und Wohlbefinden und die Herausforderungen in Bezug auf Beteiligung. Deshalb dient unser Netzwerk sowohl als Plattform für eine sinnhafte Zusammenarbeit mit dem WHO-Regionalbüro für Europa als auch als geschützter Raum für Jugendaktivist*innen und Jugendorganisationen: indem sie Kontakte knüpfen, bewährte Verfahren austauschen und über mögliche Lösungen für gemeinsame Herausforderungen nachdenken können.
Hilaire: Bei WHO/Europe haben wir unsere eigenen institutionellen Einschränkungen, die die Beteiligung von jungen Menschen betreffen. So gibt es z. B. Schwierigkeiten bei der Organisation von Reisen für Jugendliche unter 18 Jahren, die an WHO-Veranstaltungen teilnehmen sollen. Um diese Herausforderungen systematisch anzugehen und die WHO-Führungskräfte darauf aufmerksam zu machen, haben wir eine interne „Community of Practice“ zu Jugendengagement implementiert. Diese Gruppe trifft sich alle zwei Monate und bietet den Mitarbeitenden des WHO/Europe einen Raum, um Bedenken und Herausforderungen von nachhaltigem Jugendengagement zu erörtern. Gemeinsam arbeiten wir auch an Lösungen zur Überwindung dieser Probleme.
IJAB: Was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse aus den letzten vier Jahren der Jugendbeteiligung in Youth4Health und wie wirken sich diese Erkenntnisse auf die künftige Ausrichtung der Initiative aus?
Hans: Ich bin stolz darauf, dass wir in nur drei Jahren ein starkes Fundament für eine wirksame Jugendbeteiligung geschaffen und den Mechanismus dafür durch unser Youth4Health-Netzwerk formalisiert haben. Heute verbinden wir 39 Jugendorganisationen und 213 einzelne Jugendvertreter*innen aus 36 Ländern in ganz Europa und Zentralasien.
Es war herausfordernd, eine vielfältige Jugendbeteiligung über die traditionellen Partner wie junge Gesundheitsfachkräfte und Studierende hinaus sicherzustellen. Wir machen Fortschritte durch Partnerschaften mit Jugendorganisationen, die uns helfen, Verbindungen und Vertrauen auf lokaler und regionaler Ebene aufzubauen, insbesondere um gefährdete und marginalisierte junge Menschen zu erreichen.
Hilaire: Wir werten laufend das Feedback zu unseren Jugendbeteiligungsmaßnahmen aus sowie deren Auswirkungen auf die Erfüllung der Verpflichtungen, die aus der Youth4Health-Erklärung von Tirana hervorgehen (es handelt sich dabei um einen Maßnahmenplan zur Stärkung der Jugendbeteiligung und zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden junger Menschen in der Region). Intern haben uns unsere Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit jungen Menschen fünf entscheidende Lektionen gelehrt: die Beiträge junger Menschen fair zu vergüten, echte Initiativen mit Eigenverantwortung zu schaffen, anzuerkennen, dass sinnvolles Engagement Zeit braucht, den Perspektiven junger Menschen zu vertrauen und eine fortlaufende Beteiligung über die ersten Aktivitäten hinaus aufrechtzuerhalten.
IJAB: Wie wird sich das Jugendengagement in die Prioritäten des neuen Europäischen Arbeitsprogramms (EPW2) einfügen und wie passt das Arbeitsprogramm mit den Schwerpunkten und den Forderungen der Mitglieder des Youth4Health-Netzwerks zusammen?
Hans: Eine Botschaft eines der Mitglieder im Netzwerk anlässlich der Kampagne zum Internationalen Tag der Jugend Anfang dieses Jahres brachte es auf den Punkt: „Wir brauchen nicht nur Gesundheit in allen Politikbereichen, sondern die Gesundheit junger Menschen in allen Politikbereichen“. Unser neues EPW2 basiert auf den Grundsätzen des Vertrauens und der Gerechtigkeit, die im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen. Um diesen Grundsätzen treu zu bleiben, müssen wir eine offene, wirksame wechselseitige Kommunikation mit denjenigen sicherstellen, die von unseren Entscheidungen direkt betroffen sind - junge Menschen sind da keine Ausnahme. Sie sind mit besonderen gesundheitlichen Herausforderungen konfrontiert und erleben Krisen in einzigartiger Weise: Wir sehen dies jetzt in verschiedenen Bereichen - von steigenden Depressionsraten bis hin zu rückläufiger Kondomnutzung und körperlicher Aktivität. Die einzige Möglichkeit, diese Herausforderungen zu bewältigen, besteht darin, gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
Wir streben an, dass junge Menschen unsere gleichberechtigten Partner*innen sind, nicht nur, weil sie unverhältnismäßig stark betroffen sind, sondern auch, weil sie den Zeitgeist wie kein anderer spüren. Bei der Gründung des Youth4Health-Netzwerks haben unsere Mitglieder drei Schwerpunktbereiche genannt, in denen sie mit dem Regionalbüro zusammenarbeiten möchten: psychische Gesundheit, Umwelt und Gesundheit sowie sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte. Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass wir wirklich zugehört haben. Seitdem haben wir, um nur einige Beispiele zu nennen, gemeinsam einen neuen Handlungsrahmen für die Beteiligung von jungen Menschen in Politik, Forschung und Programmplanung im Bereich der psychischen Gesundheit entwickelt und die Ideen und Forderungen junger Menschen nach mutigen, entschlossenen Maßnahmen zur Bewältigung der gesundheitlichen Auswirkungen der Klimakrise in den Europäischen Prozess Umwelt und Gesundheit aufgenommen.
Diese drei Bereiche spiegeln sich u. a. in meiner Vision für die nächsten fünf Jahre meines Mandats als Regionaldirektor für Europa wider, die ich den geschätzten Delegierten auf der 74. Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa im Oktober 2024 vorgestellt habe. Wir werden unsere Mitgliedstaaten weiterhin in ihren Bemühungen unterstützen, die aktive Beteiligung junger Menschen von Anfang an sicherzustellen. In Albanien, Armenien, Litauen, Slowenien und Frankreich haben wir bereits enorme Fortschritte gesehen und sind fest entschlossen, diese Verbindungen weiter zu vertiefen. Die WHO stärkt die Interessenvertretung junger Menschen auf allen Ebenen, deren Erkenntnisse für den Aufbau widerstandsfähiger und nachhaltiger Gesundheitssysteme, die wirklich den heutigen und künftigen Generationen dienen, unerlässlich sind.
IJAB: Liegt Ihnen an dieser Stelle noch etwas am Herzen?
Hans: Zu Beginn meiner zweiten Amtszeit bin ich von der Widerstandsfähigkeit unserer Region zwar inspiriert, mir aber auch der bevorstehenden Herausforderungen bewusst. Als Arzt und Vater von zwei Töchtern bin ich sehr besorgt über die Dringlichkeit und Komplexität, was die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen betrifft. Die Statistik, dass eines von vier Mädchen vor ihrem 20. Lebensjahr Gewalt durch einen Intimpartner erfährt, ist nicht nur eine Zahl; sie steht für Millionen von betroffenen Leben, zerstörten Träumen und unerfülltem Potenzial. Wir können im Gesundheits- und Pflegesektor noch viel mehr tun, um sicherzustellen, dass wir diese Frauen und Mädchen in einer Zeit, in der die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zunehmen, nicht im Stich lassen.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir das Gesundheitspersonal darin schulen, Betroffene besser zu identifizieren und eine traumainformierte Pflege zu leisten, sichere Räume im Gesundheitswesen zu schaffen und Unterstützungsnetze aufzubauen, die über die Krankenhausmauern hinausreichen. Dies wird jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein, wenn nicht der Zugang zu grundlegenden sexuellen und reproduktiven Gesundheitsangeboten für alle Frauen und Mädchen verbessert wird, auch für diejenigen in gefährdeten und in Krisensituationen.
IJAB: Vielen Dank!
Wer sich an Youth4Health beteiligen möchte, findet auf der Homepage der Initiative weitere Informationen:
- Youth4Health Initiative
- Youth4Health Netzwerk
- Youth4Health Einladung
- Youth4Health Statement
- Jugenddelegierte beim WHO Regionalkomitee für Europa
[1] Lundy L. ‘Voice’ is not enough: Conceptualising Article 12 of the United Nations Convention on the Rights of the Child. Br Educ Res J. 2007;33: 927–942. doi:10.1080/01411920701657033.