Mit den Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union aus 2023 zur durchgängigen Berücksichtigung von Interessen und Bedürfnissen von jungen Menschen in politischen Prozessen wurde der Begriff „Youth Mainstreaming“ fest in der Jugendpolitik der Europäischen Union verankert. Nahezu parallel kündigte der Europarat in der Reykjavík-Declaration an, die Jugendperspektive überall in seiner Organisation berücksichtigen zu wollen. Damit ist die Berücksichtigung von Jugendperspektiven in europäischer Politik – zumindest auf Papier – endgültig in den zwei großen europäischen Institutionen angekommen.
Youth Mainstreaming: was ist gemeint?
Wer den Begriff „Youth Mainstreaming“ hört, denkt sicher erst mal an Gender Mainstreaming als Strategie. Diese sieht vor, die Gleichstellung aller Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchzusetzen. Tatsächlich sind beide Konzepte in ihrer Idee nicht weit voneinander entfernt, wenn auch die Umsetzung sehr unterschiedlich ist. Im Großen und Ganzen geht es bei Youth Mainstreaming darum, die Interessen junger Menschen in allen Entscheidungsprozessen, die sie betreffen, einzubeziehen.
Als Strategie liegt der Fokus jedoch, im Unterschied zu Gender Mainstreaming, vor allem darauf, die Interessen junger Menschen in politischen Entscheidungsprozessen, die sie betreffen, zu berücksichtigen (Dezelan 2024).
Damit ist Youth Mainstreaming in seiner Reichweite, im Vergleich zu Gender Mainstreaming, deutlich eingeschränkter. Es bezieht sich erstens auf politische Entscheidungsprozesse und schließt damit – vorerst – andere gesellschaftliche oder auch unternehmerische Entscheidungsprozesse aus. Wobei die Frage gestellt werden kann, ob nicht jede gesellschaftliche Entscheidung auch eine politische ist. Zweitens bezieht sich Youth Mainstreaming auf Entscheidungsprozesse, die junge Menschen betreffen. Auch hier braucht es zuerst eine Begriffsklärung. Denn wer entscheidet, welche Entscheidungsprozesse junge Menschen betreffen? Sind es die jungen Menschen selbst oder sind es Entscheidungsträger*innen? Und wenn geklärt ist, was politische Entscheidungsprozesse sind und welche Prozesse junge Menschen betreffen, wie werden dann konkret die Interessen junger Menschen berücksichtigt? Ein Blick auf die Umsetzung von Youth Mainstreaming und verwandte Konzepte in Deutschland, der EU und dem Europarat gibt Auskunft.
Die Eigenständige Jugendpolitik in Deutschland
Die Idee, Belange von jungen Menschen in der Politik zu berücksichtigen, ist nicht neu. Im Gegenteil, Beteiligung ist einer der Grundprinzipien von moderner Jugendpolitik. So besagt die Eigenständige Jugendpolitik als Grundstein für die Jugendstrategie der Bundesregierung:
„Dieser ressortübergreifende Ansatz ist die konsequente Umsetzung der Grundsätze der Eigenständigen Jugendpolitik, die von den Belangen junger Menschen ausgeht und dabei ressortspezifische Fachkompetenz mit einem ganzheitlichen Blick auf die Lebensphase Jugend verbindet. […] Die ressortübergreifende Zusammenarbeit […] basiert auf den Prinzipien Jugend beteiligen, Jugend sichtbar machen und gemeinsam Verantwortung übernehmen.“
Zur Berücksichtigung der Interessen junger Menschen kristallisieren sich im Rahmen der Eigenständigen Jugendpolitik drei Maßnahmen heraus:
- Erstens wird mit dem Jugend-Check eine Gesetzesfolgenabschätzung vorgenommen.
- Zweitens koordiniert die Interministerielle Arbeitsgruppe Jugend auf Bundesebene Maßnahmen, die junge Menschen betreffen und nicht nur dem Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend zuzuordnen sind.
- Drittens spielt die direkte Beteiligung junger Menschen eine wichtige Rolle in der Eigenständigen Jugendpolitik. Verschiedene Beteiligungsformate wie Dialogprozesse, Jugendpolitiktage und jugendpolitische Beiräte werden in dem Nationalen Aktionsplan Kinder- und Jugendbeteiligung zusammengefasst.
Youth Mainstreaming in der EU
Die Aufmerksamkeit für „Youth Mainstreaming“ als politische Strategie ist insbesondere auf Entwicklungen in der EU zurückzuführen. Im Nachgang zum Europäischen Jahr der Jugend (EJJ) verabschiedete der Jugendministerrat der EU 2023 Ratsschlussfolgerungen zu Youth Mainstreaming, auf Deutsch „durchgängige Berücksichtigung der Jugend“. Er versteht darunter:
„einen Ansatz, bei dem die Perspektive und die Bedürfnisse junger Menschen in die Prozesse der Politikgestaltung, -überwachung und -bewertung sowie in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Durch diese durchgängige Berücksichtigung wird sichergestellt, dass die Herausforderungen und Anliegen junger Menschen nicht isoliert angegangen, sondern bereichsübergreifend in umfassendere politische Rahmenbedingungen integriert werden.“.
Die konkrete Umsetzung ist jedoch noch unklar. Erste Anhaltspunkte gibt ein Papier der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2024, worin sie die Ergebnisse des EJJ evaluiert und auf Anregung des Europäischen Jugendforums vorschlägt, einen EU-Jugend-Check zu entwickeln. Zudem soll der EU-Jugenddialog ausgebaut und jugendpolitische Aktivitäten in fünf zentralen Politikbereichen (Gesundheit und Wohlergehen; Umwelt und Klima; allgemeine und berufliche Bildung; internationale Zusammenarbeit und europäische Werte; Beschäftigung und Inklusion) gestärkt werden. Hier ist es die EU, die entscheidet, welche Politik junge Menschen betrifft. Allerdings sei angemerkt, dass alle neuen Kommissar*innen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Auflage bekommen haben, innerhalb ihrer ersten 100 Arbeitstage ein Policy Debate mit jungen Menschen zu organisieren. Zur Ausgestaltung ist jedoch noch nichts bekannt.
Die Jugendperspektive des Europarats
Einen weiteren Weg schlägt der Europarat mit der Reykjavík-Abschlusserklärung aus dem Jahr 2023 ein. In dieser wird nicht von Youth Mainstreaming gesprochen, sondern dezidiert von der Integration einer Jugendperspektive, welche durch Beteiligungsstrukturen gefördert wird:
„Wir haben den Europarat auf einen neuen Weg der verstärkten Transparenz und Zusammenarbeit mit seinen Interessenvertretern gebracht, mit verstärkter Sichtbarkeit und ausreichenden Ressourcen. Dies sollte eine Jugendperspektive in den zwischenstaatlichen und anderen Beratungen der Organisation einschließen, da die Beteiligung junger Menschen an Entscheidungsprozessen die Wirksamkeit der öffentlichen Politik verbessert und die demokratischen Institutionen durch einen offenen Dialog stärkt.“
Wie die Integration einer Jugendperspektive in allen Bereichen des Europarates aussehen kann, wird aktuell noch beraten. Gleichzeitig hat der Gemeinsame Rat für Jugendfragen 2023 ein Papier verabschiedet, das die Jugendperspektive als eine Haltung, eine Erfahrung, eine Fähigkeit sowie eine Handlung beschreibt. Es geht darum, mit jungen Menschen zu denken (Haltung), von und mit ihnen zu lernen (Erfahrung), sich mit ihnen zu beteiligen (Fähigkeit) und mit ihnen und für sie zu handeln (Handlung). Dieses Papier soll als Grundsatz dienen, bis zur angekündigten Jugendministerkonferenz im Herbst 2025 ein Umsetzungskonzept zu entwickeln
Bedeutung von Youth Mainstreaming für die internationale Jugendarbeit
Blickt man nun auf das Handlungsfeld der internationalen Jugendarbeit, so können die europäischen Konzepte von Youth Mainstreaming und Jugendperspektive hier durchaus Impulse setzen. Insbesondere würde ein ernst zu nehmendes Youth Mainstreaming bedeuten, die Perspektiven und Interessen junger Menschen in allen Phasen eines Projektes einzubeziehen. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass junge Menschen in der Konzipierung und Beantragung, aber auch in der Abrechnung und Evaluation eines Projektes einbezogen werden sollten. Die Projekthaftigkeit der internationalen Jugendarbeit führt dazu, dass junge Menschen außerhalb von Jugendorganisationen oft erst dann an einem Projekt beteiligt werden, wenn dieses bereits bewilligt und offiziell gestartet wurde.
Ein ernst zu nehmendes Konzept von Youth Mainstreaming könnte dazu führen, sowohl bei Projektverantwortlichen als auch bei Fördergeber*innen die Notwendigkeit einer Berücksichtigung von Jugendperspektiven auch und insbesondere in den Phasen vor Projektanfang zu stärken. Dies bedeutet unter Umständen jedoch auch, dass die strukturellen Gegebenheiten zum Beispiel für die Antragsstellung so geändert werden müssten, dass eine Einbeziehung von Jugendperspektiven strukturell auch vor Projektanfang möglich ist.
Fazit
Zum aktuellen Zeitpunkt ist es noch schwierig, ein richtiges Fazit über die Entwicklungen von Youth Mainstreaming und Jugendperspektive zu ziehen. Beide Konzepte befinden sich noch in der Entwicklung und sind keineswegs theoretisch ausgereift noch praktisch vielfältig erprobt. Deshalb werden von der Youth Partnership (Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und dem Europarat im Jugendbereich) aktuell zwei Studien zu internationalen und nationalen Praxisbeispielen durchgeführt. Als deutsches Beispiel wird in diesen Studien der Jugend-Check vorgestellt. Die Ergebnisse beider Studien sollen 2025 veröffentlicht werden und zudem als Kapitel in dem Herausgeberband „Angles and standpoints: demystifying the concepts of 'youth perspective’ & ‘youth mainstreaming’“ erscheinen. Der Herausgeberband, der in der Reihe „Youth Knowledge Books“ der Youth Partnership veröffentlicht werden soll, wirft neben internationalen und nationalen Praxisbeispielen auch ein theoretisch-konzeptionelles Schlaglicht auf die Konzepte Youth Mainstreaming und Jugendperspektive.
Gleichwohl zeigen sich ernsthafte Bemühungen, beide Konzepte nicht als lose Floskeln zu nutzen, sondern diese auch inhaltlich und mit (neuen) Instrumenten zu unterbauen. Entsprechend gilt es, neben den eingangs aufgeworfenen Fragen nach politischen Entscheidungsprozessen und der Entscheidungsmacht über den Einbezug von Perspektiven junger Menschen, zwei weitere Fragen zu klären. Erstens: wie können bestehende Instrumente wie der EU-Jugenddialog oder das Co-Management des Europarats in diese Konzepte eingebunden werden und wie verhalten sich diese zu neuen Instrumenten wie dem Jugend-Check? Zweitens wäre es wichtig, dass Youth Mainstreaming und die Integration einer Jugendperspektive keine leeren Hülsen sind, sondern auf bestehende Konzepte wie „meaningful youth participation“ (echte Teilhabe) zurückgreifen. Werden diese Verhältnisse nicht nur geklärt, sondern ließen sich positiv in eine Berücksichtigung der Perspektiven junger Menschen in (europäischer) Politikgestaltung und –umsetzung übersetzen, dann könnte dies allen Politikfeldern – und nicht zuletzt der internationalen Jugendarbeit – neue Impulse geben.
Weiterführende Literatur
Deželan, T. (2024). Youth Mainstreaming. In: Sardoč, M. (eds) Handbook of Equality of Opportunity. Springer, Cham.
Zur Autorin
Dr. Frederike Hofmann-van de Poll ist wissenschaftliche Referentin in der Arbeitsstelle europäische Jugendpolitik am Deutschen Jugendinstitut und Mitglied der Pool of European Youth Researchers der EU-Europarat Youth Partnership. Sie gibt das Youth Knowledge Book „Angles and standpoints: demystifying the concepts of 'youth perspective’ & ‘youth mainstreaming’“ heraus, das 2025 im Verlag des Europarats erscheinen soll. Ihre aktuellen Forschungsthemen sind neben Youth Mainstreaming auch europäische jugendpolitische Strategien sowie europäische Entwicklungen zu Youth Work. Mehr Informationen finden sich auf der Webseite des Deutschen Jugendinstituts (DJI).